Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

6

Ein dunstiger Mond hing zwischen flatterigen Wolken, wurde von diesen verschlungen, um gleich darauf wie eine rasche Möwe am Himmel zu fliegen. Scheue Reflexe liefen über die Landschaft. Die nassen Dächer glimmerten, und jenseits der Mühle, wo sich die breiten Wiesen bis an die Rheindämme erstreckten, glänzten die stillen Wasser auf, die mit kreisrunden Zyklopenaugen in das ewigwechselnde Spiel der dicken Wolkenfetzen stierten.

Das Graupeln hatte nachgelassen.

Aber der Wind war stärker geworden und sauste in den Lindenbäumen, deren Zweige sich noch bettelarm gegen die nächtliche Helle abhoben.

Hastige Lichtschimmer fielen zur Erde.

Mitten dazwischen stand Jakob Verheyen. Sein Herz pochte. Seine Schläfen hämmerten. Es war ihm, als tasteten kalte Hände über ihn fort.

Die Glocke, die eben noch gesprochen hatte, schwieg jetzt wieder. Und dennoch rauschte es mit riesigen Schwingen von oben.

Er hörte das Wuchteln der Flügel und das laute Klatschen der Segel gegen die Windruten. Dazwischen stampften die Gangwerke, kam das Quietschen und Stöhnen der schweren Flügelwelle herunter.

Neben ihm und unmittelbar zur Seite seines langgestreckten Hauses wuchs der gigantische Mühlenkoloß aus dem dunklen Boden, bald kreidig, bald mit einem rauchgrauen Mantel umhangen.

Der erleuchtete Torweg stand offen. Im Lichte einer matten Laterne kletterte eine bestäubte Holztreppe in das erste Stockwerk.

Dort hinauf stürmte Jakob Verheyen. Er kam auf den Zwischenstock. Auch hier der verwaschene Schein einer Petroleumlampe, der sich über aufgestapelte Korn- und Mehlsäcke legte und in den Festons der bleichen Spinnweben, die sich von Balken zu Balken hinzogen, ein Ungewisses Glitzern hervorzauberte.

Etliche Mäuse huschten vorüber.

Verweht und ganz auseinander sah er sich um.

Er wußte nicht, was er hier anfangen sollte.

Ein banges Grauen trieb ihn höher und höher.

Die nimmerrastende Arbeit der Mühlsteine und das Seufzen der Trichter verstärkte sich. Jetzt vernahm er auch das Knirschen und Stöhnen des Kornes. Er sah, wie das Mehl durch die ausgespannte Müllergaze hindurchstäubte. Er sah das Getriebe der Wellen und hörte das immerwährende Knarren des Kammrades.

Und doch hörte er nichts und sah er nichts.

Die hier schaffenden Müllerknechte begrüßten ihn und zogen die Mützen.

Er bemerkte es kaum.

Er stieß etliche Fragen hervor, die weder Sinn noch Verstand hatten. Ohne erst die Antwort abzuwarten, strich er um die Mehltrichter herum und drückte eine niedrige Tür auf, die ins Freie führte.

Er trat auf den Umgang, der den gewaltigen Bau gleich einer weitausgelegten Estrade umkreiste, und sah in die Tiefe. Unter ihm lag die kleine Stadt mit dem Gewirr ihrer niedrigen Häuser, dem breiten Markt und der Sankt Nikolaikirche. Die sonoren Klänge begannen wieder zu schaukeln. Sie flogen ihn an wie eherne Vögel.

Sie krallten sich an ihn, sie packten in seine Seele hinein und versuchten, ihm das Herz zu zerfleischen. Er umgriff das morsche Geländer.

Einsam, von keinem gesehn und von keinem beobachtet, stand er auf ragender Warte, vom Sturm umpfiffen, zeitweilig umdunkelt, zeitweilig von dem fahlen Licht des Mondes umleuchtet. Haarscharf sausten die raschen Windmühlenflügel an seiner Stirne vorüber. Er fühlte ihren scharfen Atemzug, ihre aufdringliche Nähe; er hörte das Klatschen der Segel wie ein helles Gelächter, bald hoch über sich, bald so, als klänge es ihm unmittelbar in die Ohren. Ein Eisschauer glitt ihm den Rücken entlang. Die Erinnerung legte ihm die bleierne Hand auf die Schulter. Die Gegenwart ging unter für ihn; sie wurde von einem zähen, schwerfließenden Wasser verschlungen. Längst begrabene Tage streiften ihr Sterbehemd ab und wurden lebendig. Aber er sah sie schattenhaft, grau in grau, ohne sie greifen zu können.

Er stemmte sich gegen den wachsenden Sturm an.

Er suchte etwas.

Aus den Lichtern, die unter ihm waren, suchte er ein einziges Lichtchen. Es durfte nicht freudig aufblinken, nicht verheißungsvoll in den Abend hinaussehen. Es mußte ein Lichtchen sein mit traurigen Augen, etwa so, wie sie brennen bei einer Totenmesse; aber es hielt ihm schwer, dieses Lichtchen mit den traurigen Augen zu finden.

Und er suchte und suchte.

Durch den massigen Leib der Mühle gellte ein schrilles Klingelzeichen.

Die Mehlgänge wurden abgestellt, die Lampen erloschen in den einzelnen Stockwerken.

Die Müllerknechte machten Feierabend.

Die riesige Flügelwelle stöhnte noch etliche Male; dann lag sie ruhig zwischen den eisernen Pfannen.

Das einzige Herz, das jetzt noch pochte, war das Jakob Verheyens.

Wild und stürmisch schlug es gegen die Rippen.

Einsam stand der sehnige Mann zwischen Himmel und Erde.

In diesem Augenblick fiel eine schwere Nacht über ihn her. Er tastete sich links am Geländer entlang. Jetzt konnte er besser sehen. Jetzt sah er. Er verglich die einzelnen Giebel, die einzelnen Dächer. Er konnte nicht irren. Unmittelbar dämmerte es neben der breitausgelegten Baumkrone, die ihresgleichen nicht hatte.

Ihm war die Brust zum Zerspringen.

Er sank in die Knie und stierte gierig über das Geländer.

Endlich ...!

Endlich hatte er das heißersehnte traurige Lichtchen gefunden.

Und bei diesem Lichtchen mußte sie sterben ...

Er schlug mit der Stirn gegen das Holzwerk.

»Lisbeth, Lisbeth ...l« stöhnte er heiser, und seine Sinne wandten sich rückwärts und stürmten in längstvergangene Zeiten.

So kniete er lange.

Allmählich dunkelten die Fenster unter ihm ein.

Nur eins blieb erhellt.

Plötzlich fühlte der Vereinsamte einen jähen Stich in der Herzgrube.

Er prallte zurück.

Auch das eine Licht war erloschen.

Hinter ihm aber stiegen drei heilige Feuersäulen gen Himmel. Die eine brannte in Richtung von Grieth, die zweite nach Emmerich zu. Die letzte aber loderte auf dem Paternosterdeich – groß und herrlich und allbefreiend wie die reine Flamme der Auferstehung.

Es waren die Feuer in heiliger Osternacht.

* * *

Und der Ostersonntag kam.

Er kam mit Jubel und Lerchenschlag, er kam mit jungem Grün und feiertägig gekleideten Menschen. Vor den Häusern lagen Palmzweige und Kalmus, und hinter den blankgeputzten Scheiben hingen frische Gardinen. Fromme, stille Beter gingen zur Kirche; auf den mit Gras bewachsenen Straßen ruhte lieblicher Sonnenschein. »Christ ist erstanden!« – Die Läden aber am Hause Pitt Pulchers waren geschlossen. –

Trotz des heiligen Ostertages war Dores Jansen in seiner Werkstätte beschäftigt. Unmittelbar nach dem Hochamt gab er seiner im Rohen fertiggestellten Arbeit noch die größere Weihe und das symbolische Äußere.

Das ›Feine‹, wie Dores zu sagen pflegte, kam jetzt an die Reihe, und mit äußerster Genauigkeit verpaßte er die Zinkbeschläge und schraubte er das bleierne Herrgöttchen auf den spiegelblank gefirnißten Deckel. Das Fußende verzierte er durch drei inhaltschwere Buchstaben in Bleiguß. Als er damit fertig geworden, sprach er ernst vor sich hin: » Requiescat in pace,« ließ hierauf die weiche Empfindungsharfe erklingen und träufelte zwei innige Tränen auf die also hergerichteten Sargbretter.

Dores hatte das Seinige getan, rückte ein Tischchen unter die Heldenbilder seines militärischen Sohnes, holte aus der Nebenstube Papier und Schreibzeug und setzte sich nieder.

Hierauf gliederte er in heißer Arbeit Zeile neben Zeile, schwergelenkig und etwas wurmstichig, aber getragen von den sanften Schwingungen einer poetischen Seele, die auf Schnapsfüßchen einhertrippelte.

Nach stündigem Schaffen erhob er sich, sah den drei Bildern forsch in die Augen, salutierte und las während dieser Ehrenbezeugung mit militärischer Stimme:

»An
den wohlgeborenen Herrn Thyß Jansen,
Königlich Preußischer Artollerist
zu Köllen am Rhein
in die Dominikanerkaserne.

Lieber Sohn Thyß!

Ich ergreife Tinte und Feder und thue Dir unten folgende Trauerbotschaft zu wissen. Brauchst Dir aber keine Sorge zu machen, denn es betrifft nicht mir oder Deine eingeborene Mutter, sondern sie ist glücklicherweise – ich meine die Trauerbotschaft – an unserm Hause, Hanselaererstraße Nummer fünfzehn, vorübergegangen. Lieber Sohn Thyß! – was ist das menschliche Leben? Es wird Dir vom himmlischen Heiland gegeben, es wird Dir vom himmlischen Heiland genommen. Wenn's lange dauert, so kommt es Propter und Prätorius an die siebziger Jahre. Was drüber hinausgeht, das ist, wie die großen Propheten vermelden, ein Extrapräsent von unserm allmächtigen Vater im heiligen Jenseits. So was kann man ja nicht mit gutem Gewissen verlangen. Aberst was traurig ist: Frau Pitt Pulcher, die noch lange nicht an die fünfzig heran ist, der habe ich nu die sechs schwarzen Bretter zusammengeschreinert. Und das taxiere ich als ein Malör voll städtischen Schmerzes. Alle Bürgers sind abfällig darüber, besonders Dein inniggeliebter Vater, der auf den heiligen Ostersonntag geschafft hat. Lieber Sohn Thyß! – auch der zukünftige Heerohme, Herr Stephan Pulcher, ist seit vorgestern im Sterbehause befindlich, aber ganz auseinander in seinem geistlichen Zustand. Dieser Jüngling ist rein zum Erbarmen, so einzig ist er in seiner bewunderungswürdigen Unschuld. Desgleichen ist hier die liebliche Tochter Anna zu nennen. Schön, aber traurig. Theile dies, bitte, dem Herrn Artolleristen Hermann Verheyen mit. Er wird sich freuen darüber, denn seine Liebe zu ihr ist ja unerträglich geworden. Aber eins hat sein Gutes und ist fröhlich aus dem Sarge und den Hobelspänen gesprungen. Ich meine das Monnä. Dieserhalb sende ich Dir auch zwei prima Schlackwürste zur Aufmunterung Deines inneren und äußeren Menschen, damit Du auf die nämlichen Heldenthaten verfällst, wie sie Dein artolleristischer Mitkollege Hermann Verheyen in so löblicher Weise verfaßt hast, auf daß Du wie Dein vielgeliebter Vater sagen kannst: Setze mir nackig in Indigo, so bin ich doch der Kerl, der ich bin. Das möge der Himmel verantworten. – Lieber Sohn Thyß! – wenn es angebracht ist, so rekommandiere mir Deinem Herrn Hauptmann und Deinem Herrn Obersten und sage dem hochwürdigen Herrn – verstehe mir richtig, ich meine den Letzten – daß mir seine Rede ausnehmend gefallen hat und ich allerhand Hochachtung für ihn besitze. Ich glaube, es macht ihm einiges Wohlwollen, und er freut sich darüber. Mein lieber Sohn Thyß! – hier in Deinem elterlichen Zustand befindet sich noch alles bei Wege. Mutter ist noch fix in die Beine, und wenn ich mir unpäßlich fühle, bringt mir ein kleines Schnäpschen wieder in Ordnung. Gott möge mir noch lange erhalten. In Ewigkeit Amen. Dies wünscht Dir Dein untergebener und treuer Vater

Dores Jansen,
Tischlermeister in der Hanselaererstraße
zu Calkar am Niederrhein.«

Er atmete auf.

»Na, mein Junge, was sagst du?«

Dores brachte die salutierende Hand wieder an Ort, kuvertierte und siegelte und trug das so hergerichtete Schreiben eigenhändig zur Post, nicht ohne sich dabei in die Weste zu legen, den Brief jedem Bekannten zu zeigen und gleichzeitig durchblicken zu lassen: sein Sohn Thyß wäre ein guter Bekannter vom Hauptmann und würde in nächster Zeit den Beweis großer Heldentaten erbringen. Die Vorbedingungen hierzu, zwei prima Schlackwürste, wären schon eingepackt und gingen spätestens morgen nach Köln. Überhaupt der Thyß! – und damit versenkte er, sich rechts und links umsehend, ob es auch jeder bemerke, das gewichtige Schreiben in den blauen Kasten mit dem goldenen Posthörnchen.

Dann stolzierte er in die benachbarte Schänke und genehmigte sich ein herzhaftes Schnäpschen. –

Zwei Tage später wurde Frau Elisabeth Pulcher begraben.

In der großen Stube, die nach der Sankt Nikolaikirche hinausging und wo der alte Webstuhl aufragte, war sie aufgebahrt worden.

Der Sarg stand noch offen.

Friedlich und mit gefalteten Händen lag sie zwischen dem frischgestärkten Leinen, des Thomas a Kempis Büchlein die ›Nachfolge Christi‹ auf der Brust, das sie mit ihren weißen Fingern umspannte. Der Kopf war zur Seite gerichtet; etliche Partikelchen Rauschgold lagen auf den geschlossenen Lippen. Das verhärmte, noch immer schöne Gesicht lächelte, und eine stille Verklärung ruhte darüber, als habe sie ein glückliches Sterben gefunden.

Am Kopfende erhob sich eine schwere Wachskerze auf einem Messingleuchter.

Rechts und links davon standen Anna und Stephan; er mit dem großen Frieden seines zukünftigen Berufes im Antlitz, gefaßt und sich beugend dem Willen des Erlösers, sie bleich wie der Tod, mit dem Geschick hadernd und die Frage auf den Lippen: »Mußte das sein? Gibt es denn keine Barmherzigkeit zwischen Himmel und Erde?« und doch so schön in ihrem Hader und in ihrem verhaltenen Schmerz, als habe ein großer Künstler diesen Hader und diesen Schmerz in Anna Pulcher verkörpert.

Sie suchte nach einem harten Wort. Es galt dem Himmel ...

Ihr Vater sah es.

Sein Blick streifte sie.

Da schluckte sie das harte Wort hinunter und suchte Trost und Erlösung in den Zügen der Verstorbenen.

Der Alte stand am Fußende des Sarges, die aufgerissenen Augen starr auf sein Weib gerichtet. Ohne eine Träne zu finden, ohne Bewegung, ein eingerammter Pfahl, einer der aus den Blättern der Bibel getreten, so hielt er die letzte Wacht am schwarzen Bett der Frühverblichenen.

Kein Laut ließ sich hören. Keine Fliege summelte. Es war kircheneinsam im Zimmer.

Dann kamen die Leidtragenden – Bekannte und Freunde. Jakob Verheyen und Dores Jansen waren darunter.

Dores stellte sich gleich neben den an die Wand gelehnten Sargdeckel, einen Hammer und fünfunddreißig vierzöllige Nägel in der Rocktasche. Den schon etwas von Motten angefressenen Zylinder hielt er vor sich, etwa so, als trüge er einen zerbrechlichen Napfkuchen zwischen den Händen. Der eigenartige Geruch nach Firnis und welkenden Blumen brachte seine feinbesaitete Empfindungsharfe in ein leises Klingen und Tönen. Er mußte sich über die Augen wischen.

Ab und zu ein zurückgedämmtes Hüsteln.

Die am Sarge standen wie angenagelt.

Sie sahen weder rechts noch links.

Mit dem Erscheinen des Vikars, des Küsters und der Meßjungen begann die bescheidene Feier.

Der Geistliche sprach schlichte, aber zu Herzen gehende Worte.

Auf bläulichen Weihrauchwölkchen stiegen sie aufwärts.

Währenddessen rührte Dores Jansen seine Empfindungsharfe immer stärker und stärker; dazwischen ließ sich ein kaum hörbares Pochen vernehmen. Es wiederholte sich rhythmisch. Einige sahen sich um. Es waren die Tränen, die Dores auf den Deckel seines Zylinders tropfen ließ.

Der Vikar spendete den Segen und sprach dann: »Oremus! – Quaesumus, domine, pro tua pietate, miserere animae famulae tuae, et a contagiis mortalitatis exutam, in aeternae salationis partem restitue. Per dominum nostrum Jesum Christum. Requiem aeternam dons ei, domine!«

»Et lux perpetua luceat ei«, sagte der Küster.

»Requiescat in pace!«

»Amen!«

In einem sanften Gemurmel erstarb das ›Amen‹

Der Vikar wandte sich und gab ein stummes Zeichen.

Die Lade sollte geschlossen werden.

Dores Jansen legte seinen Zylinder beiseite und trat vor. In der Rechten hielt er den Hammer. Mit der Linken schob er etliche Nägel zwischen die Lippen. Zwei Männer folgten mit dem glänzenden Deckel. Das bleierne Herrgöttchen spiegelte sich in dem unsteten Licht der flackernden Kerze.

»Los!« sagte Dores.

In diesem Augenblick regte sich Pitt Pulcher. Ungebeugt, mit stillem Gesicht und klaren Augen schob er den Schreinermeister zur Seite.

»Noch einen Momang,« sagte er ruhig.

Hierauf trat er an die Sterbekerze, nahm sie vom Leuchter und brach sie in zwei gleiche Hälften.

Die eine legte er seinem Weib in die Lade und sagte: »Mutter, das ist für dich. Das nimmst du mit dir. Das soll dir in der Ewigkeit leuchten.« Die andere übergab er seinem Sohne und meinte, ohne mit der Stimme zu zittern: »Und das ist für mich. Und brennen soll es, wenn meine Stunde gekommen ist und sie mich ebenso aufgebahrt haben. So, nun kannst du anfangen, Dores.«

Alle schluchzten auf.

Die Stunde regierte und preßte die Herzen zusammen.

Als die ersten Hammerschläge erfolgten, gab Pitt Pulcher das erste äußere Zeichen seines wütigen Schmerzes.

»Anna!« schrie er auf und breitete die Arme.

»Vater!« kam es zurück, und das schöne Mädchen jammerte an der Brust des gewaltigen Mannes, der die Augen schloß, um in die Zukunft zu sehen, der den Mund auf den Scheitel seines Kindes legte, um ihn zu küssen.

Dann streckte er die Hand über den Sarg seines Weibes und sagte, wie die Großen und Zuversichtlichen sprechen: »Mutter, dein Einzug war gesegnet. Gebenedeit sei dein Ausgang. Ziehe in Frieden. Die Erde werde dir leicht.«

Die Menschen drängten zusammen. Keiner sprach. Selbst die Hammerschläge verstummten.

Der Vikar war an die Seite des Sprechers getreten. Tränen lagen ihm zwischen den Wimpern.

»Das hat Gott im Himmel gehört,« meinte er tröstend, »und ich sage Ihnen, Herr Pulcher: Ja, gebenedeit ist ihr Ausgang.«

Gleich darauf bewegte sich der Trauerzug durch die ruhigen Straßen, in welchen die Menschen standen und mit geröteten Blicken der Verstorbenen nachsahn. Allen wurde ein Stück vom Herzen genommen.

Der Dechant Heinrich van Egern saß dicht am Fenster und preßte das Taschentuch gegen die Lippen.

»Oremus ...!«

Die letzten Häuser der kleinen Stadt wurden passiert. Draußen, zwischen Linden und Bocksdornhecken, lag der verschwiegene Gottesacker. Am Kalvarienberg ragte der weißgekalkte Kruzifixus auf. Scharfumrissen hob er sich von der dunklen Wolke ab, die feierlich heraufzog. Dicht daneben war der Ort, wo Frau Elisabeth Pulcher ihre letzte Ruhe finden sollte.

Nach einer Viertelstunde war alles vorüber.

Anne-Susanne, die während des Trauerganges geläutet hatte, verstummte.

Die Menschen verliefen sich.

Nur der Alte befand sich noch an der offenen Grube. Auch die Kinder hatten auf Wunsch des Vaters die Trauerstätte verlassen. Pitt Pulcher wollte allein sein. Er stand barhaupt. Den Hut hielt er krampfhaft zwischen den Fingern. Das Haar wehte im aufkommenden Wind. Seine Gedanken, sein Herz und seine große Liebe, die Berge versetzen und Ströme ablenken konnte, ließ er mit einscharren. Alles gehörte seinem verstorbenen Weibe. Und wäre er nicht der Glaubensstarke gewesen, treu seinem Heiland und zuversichtlich in seinem Erlöser, drei mächtige Eisenringe hätten nicht gereicht, seine Brust zusammenzuhalten. Das Herz wäre ihm auseinandergesprungen.

Er wähnte sich allein.

Da trat einer näher.

Er wandte sich, und eine große Spanne seines Lebens erschien ihm. Nur für einen Augenblick, nur so lange, wie ein greller, zackiger Blitz am Himmel steht – aber es genügte, ihm die Vergangenheit taghell zu machen und scharfe Lichter auf die einzelnen Stunden zu werfen.

»Jakob,« kam es ihm trocken und zäh vom Munde, »gut, daß du gekommen bist. Hier, wo der Tod neben uns steht, hier am Grabe meines Weibes ... Jakob, ich habe dir ein Geständnis zu machen. Das bin ich mir und dir gegenüber schuldig – und der im Grabe. Das ist schon lange gewesen, das ist vor mehr als zwanzig Jahren gewesen, da hab' ich mir eingeredet: Jakob Verheyen tut so, als will er das Glück deines Hauses zertöppern, als will er ihm Luft und gute Gewohnheit abdrehen, um es wie 'nen mistigen Strohhalm in die Grube zu werfen. – Ich bitte dich, laß mich ausreden, Jakob. Ich habe diese bösen Gedanken erwürgt, Tage um Tage, Jahre um Jahre, aber sie blieben lebendig. Ich weiß es ja selber: ich habe nur bloße Gespenster gesehen. Aber Gespenster ängstigen und bringen einen um die innere Ruhe. Jakob« – und Pitt Pulcher stand wie ein Priester am Altare des Herrn – »gib mir die Hand darauf, daß alles nicht wahr ist, und ich habe die Ruhe meines Lebens wiedergefunden.«

Auge stand in Auge, Stirn gegen Stirn – und Jakob Verheyen legte seine Hand schwer in die seines Freundes.

»Jakob, vergib mir,« sagte Pitt Pulcher, und eine Erschütterung durchfuhr seinen Körper, wie eine Eiche erschüttert, wenn der Sturm in der Lenznacht anhebt.

»Ich danke dir, Jakob.«

Erlösung und Auferstehung! – aber ein warmer Frühlingsregen fiel nieder und segnete das Grab und segnete die Erde.

 


 << zurück weiter >>