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20

Zarthingehauchte Resedatöne, ähnlich den Farben eines Wasserblattes im Mondlicht, standen am Himmel und verliehen den Giebeln eine unendliche Weichheit. Die Übergänge verloren sich sanft ineinander und glitten in die Gassen hinein, wo die Kirmesleute noch vor den Haustüren saßen, über die Ergebnisse des Tages sprachen, mit den goldenen Ohrgehängen bimmelten oder blaue Rauchwölkchen in den Abend hineinbliesen.

So hell war es immer noch, daß Pitt Pulcher die Pflastersteine zählen konnte, die unter seinen Füßen vorbeizogen. Er zählte sie, aber es war nur ein mechanisches Zählen. Die Sache lag ihm fern. Er dachte an eine einsame Kiefer auf weitem Heideland.

Und diese Kiefer war er selbst. Wie sie, so fühlte auch er sich noch immer stark genug, dem Widerwärtigsten trotzen zu können.

Das hatte er noch soeben bewiesen – soeben, wo ein Wetter näher kroch, zuckende Lichter aufsteckte und mit glühenden Rutenstreichen seine sausende Krone umfauchte.

Gerüttelt war er bis ins Mark hinein, aber nicht niedergezwungen.

Borke und Bast waren ihm vom Leibe gerissen, er hatte sich aufrechtgehalten, ein einsamer Riese, froh des bezwungenen Sturmes, der jetzt wie ein getretenes Tier an seinem Wurzelstock winselte, ohnmächtig, mit gebrochenem Rückgrat.

Des freute sich der Alte.

Das soeben Durchlebte, so unbarmherzig es ihn auch angepackt hatte, rieselte ihm jetzt wohlig durch die Knochen. In ehrlicher Sache, aus der Tiefe seines wildesten Jammers heraus, hatte er lediglich seine Pflicht getan, seine verfluchte Pflicht. Das war er sich und der Verstorbenen schuldig gewesen.

Dulden ist christlich, aber wenn es sich zur Erbärmlichkeit auswächst – verwerflich, und so war ihm denn der gerechte Zorn in die Faust gefahren – und die Faust hatte geschrieben. Und was da geschrieben stand ...

Er hatte mit Jakob Verheyen Gericht abgehalten und ihm das Urteil rechts und links um die Ohren geschlagen. Jetzt mochte kommen, was wollte. Hier saß die Sättigung, hier in der Brust. Die hungrige Seele hatte endlich getafelt. Das genügte ihm.

Nur das Herz klopfte noch immer.

»Ruhe!« gebot er und drückte die geballte Hand gegen die pochende Stelle. So ging er durch die Kesselstraße, und wo er vorbeikam, nickten die Frauen ihm zu; die Männer aber erhoben sich und zogen die Mützen herunter, denn das Ansehn Pitt Pulchers hatte sich in den letzten Monaten noch mehr gefestigt, war wie ein eingerammter Pfahl in einem Schleusenwerk, dem keine brutale Gewalt etwas anhaben konnte, denn so ein eingerammter Schleusenpfahl hat für die Ewigkeit Dauer und trotzt selbst dem gierigsten Wasser.

Auf dem großen Markt ebbte das Kirmesleben zurück. Nur das Karussell kreiste noch immer in seinem flirrenden Lichtglanz. Hundert und aber hundert Reflexe standen in den sich drehenden Spiegeln. Die Orgel machte Musik und ließ die bunten Lampions auf den Klängen eines Gassenhauers vorübergleiten. Aus den Moppen- und Lebkuchenbuden duftete es mit süßen Aromen. Die blankgeputzten Hängelampen bestrahlten selbstgefällig die aufgespeicherten Herrlichkeiten. Verrostete Stimmen präsentierten die Leckertäten an:

»Klever Spekulatius!«

»Nymwegener Moppen!«

»Janhagel ...! – fünfzig Prozent unter Selbstkostenpreis, nur um zu räumen.«

Bei den Schießbuden staute sich noch einiges Leben. Dickbusige Jungfrauen, mit verklebten Löckchen und grünsamtne Jagdhütchen auf den frechblonden Haaren, animierten mit blanken Augen die Umstehenden und drückten ihnen die geladenen Windbüchsen in die glücklichen Hände.

»Peng ...! – Peng ...!«

Die kleinen Bleikugeln schlugen gegen die roten Schirtingwände oder holten mit eigentümlichem Klingen die aufgesteckten Tonpfeifen herunter.

»Peng ...! – Peng ...!«

Pitt Pulcher schritt weiter. Durch eine schmale Gasse trat er in den Schatten der Kirche. Der freie Platz lag vor ihm. Nur wenige Lichter standen in der Runde, und wo sie standen, wurden sie gedämpft von den herabgelassenen Gardinen. Nur ein Fensterrahmen war freudig umleuchtet. Also der Dechant noch auf! – und Pitt Pulcher gedachte plötzlich der Worte, die Heinrich van Egern ihm in einer verhängnisvollen Stunde zugeraunt hatte, in jener Stunde, da er willens war, seinem Gegner die Luft zu nehmen, und mit langsamer Zunge sprach er einzelne Sätze: »Nein, das werden Sie nicht tun. Sie werden vergeben, Sie werden nicht abweichen wollen von den Geboten und den Heilswahrheiten unserer christlichen Kirche ... Sie werden schweigen, Herr Pulcher ...«

War er diesen Worten nachgekommen?

Ja und nein.

Er konnte die präzise Antwort nicht finden, aber das fühlte er: der Pflicht war Genüge getan, aber er hatte noch mit dem Dechanten zu reden. Er war ihm Aufklärung schuldig. Je eher, je besser. Eine bange und lange Nacht durfte darüber nicht hingehn. So hatte er es immer gehalten. Trotz der vorgerückten Zeit – am besten in sofortiger Stunde ...

So trat er denn in den hellen Lichtschein und wollte die Klingel ziehen.

Da sah er: Herr Heinrich van Egern saß noch am offenen Fenster und erfreute sich des aufgehenden Mondes.

Der Alte legte die Hand auf das Gesims.

»Guten Abend, Herr Dechant.«

»Wie, so früh schon zurück?«

»Leider, Herr Dechant. Wir haben im ›Blauen Anker‹ miserable Arbeit geleistet. Das wäre so schlimm nicht; alles läßt sich wieder einrenken im Leben, und für dessentwegen würde ich keine großen Umstände machen. Vornehmlich jetzt nicht, denn man soll einen geistlichen Herrn nicht in seinen Betrachtungen stören. Quirinus vom Oort wird schon seinen richtigen Nachfolger finden. Da sorge ich für, denn, Gott sei gedankt, ich kann noch immer gesunde Kost vertragen. Und so was bringt gehörige Kraft in die Knochen. Nein, um die Bruderschaft ist mir nicht bange. Die behält Oberwasser, aber ich persönlich, Herr Dechant ... Es ist nicht gut, Mißverständnisse über Nacht aufkommen zu lassen. So was sät Bilsenkraut und Distelblumen in den Acker hinein. Andern Tags sind sie schon ins geile Stroh geschossen und haben Frucht angesetzt. Und ich meine daher ...«

Der geistliche Herr berührte den Knopf der neben ihm stehenden Schelle.

Ein feiner Ton lief durch das Zimmer und von hier in den Hausflur.

Gleich darauf wurde geöffnet.

»Gelobt sei Jesus Christus,« flüsterte Mieke.

»Amen,« sagte der Alte.

»Hochwürden lassen bitten, Herr Pulcher.«

»Merci.«

Erhobenen Hauptes trat Pitt Pulcher durch die zunächst gelegene Tür, legte seine Mütze auf den Tisch und sagte: »Sie müssen schon exküsieren, Herr Dechant ... aber ein Mann wie ich, den Sie wieder an seine eigene Person, an Gott und die Menschheit glauben ließen, den Sie gewissermaßen aufs neue in das bürgerliche Leben eingeführt haben, ist seinem Wohltäter bis in die Nieren verpflichtet. Vertrauen gegen Vertrauen, Herr Dechant. Immer klaren Wein in der Bouteille, sonst kann es leicht passieren, daß einem das Chemisettchen malproper wird und der Lumpenkerl aus den Ärmeln heraussteht.«

»Das weiß ich alles, mein lieber Herr Pulcher.«

»Herr Dechant, ich hatte mich Ihnen gegenüber gebunden, damals, als mir die Not bis an den Hals ging und ich am liebsten Schluß gemacht hätte – aber ich habe diesem Gelöbnis nicht vollauf die Ehre gegeben.«

»Wieso nicht, Herr Pulcher?«

»Um es kurz zu sagen, Herr Dechant ... das, was Jakob Verheyen mir und meinem Hause angetan hat, habe ich ihm direkt vor die Stirne gehauen.«

Der Alte blieb ruhig und kalt wie ein Eiszapfen; nur die Art und Weise, wie er es vorbrachte, zeigte, was in seinem Innern vorging.

»Wann ist denn solches geschehn?« fragte van Egern. In nervöser Hast ließ er die Fingerspitzen gegeneinander spielen.

»Soeben im ›Blauen Anker‹, Herr Dechant.«

»Das hätten Sie nicht tun dürfen, Herr Pulcher.«

»Aber die Umstände muß man doch in Berücksichtigung nehmen.«

»Trotzdem wäre es besser gewesen, Sie hätten zuvor mit mir Aussprache genommen.«

»Herr Dechant, das ging nicht. Das kam über mich wie'n Gewitter vom heitern Himmel herunter.«

»Und dennoch, Herr Pulcher ...«

Der geistliche Herr wurde seltsam erregt. Aus seinen gütigen Augen sah es mit tiefer Besorgnis.

»Wo das alles hinführen kann! Ich sehe den schlimmsten Konsequenzen entgegen.«

»Ich weiß, was Sie meinen,« sagte der Alte mit derselben unerschütterlichen Ruhe wie eben. »Was der Mensch mir angetan hat, habe ich, treu meinem Versprechen, vorerst gar nicht in Beachtung gezogen, denn wegen der Bruderschaft allein und daß er auf den Präsidentenstuhl wollte, dafür hätte ich mich soweit nicht verstiegen. Aber, Herr Dechant, als der Mensch mir anhing, ich hätte ihm mein Weib als Jungfer aus den Fingern geschwindelt, hätte die Ärmste ins Sterben gejagt und auf die Hobelspäne geworfen – als er das fertigbrachte, zu sagen, da, Herr Dechant ...«

Die Stimme brandete jetzt: »Da war ich in die Pfanne gehauen, da war mir so, als würde meine Ehre noch einmal an den Galgen gehängt, und da, Herr Dechant ...«

»Mein Gott, mein Gott ...!« seufzte Heinrich van Egern, »haben Sie dabei auch an sich selber gedacht, an die Verstorbene, an Stephan?«

»An alle,« kam es hart von den zugekniffenen Lippen, »ja, an alle, Herr Dechant, denn was dem Ehebrecher zukam, das hab' ich ihm schriftlich gegeben. Das hat niemand gesehn. Das berührt Stephan nicht weiter. Er steht noch immer als mein leibhaftiger Sohn da – der Welt zuliebe und meinem armen Weibe zuliebe. Ihn aber hat's wie die gekalkte Wand gemacht, denn auf dem Zettel stand geschrieben: 2. Buch Moses, 20. Kapitel, 4. Vers; bedeutet: Du sollst nicht ehebrechen. Und soll weiter heißen: Nicht ich bin schuldig, sondern du hast mein Weib vorzeitig von der Erde gepeinigt. – Also, Herr Dechant: nichts ist weiter passiert. Keiner weiß was, nur der, den es angeht. Das ist alles wie rechtens geschehen, nur ich selber fühlte die Verpflichtung in mir, solches an die richtige Stelle zu bringen, damit ich von wegen meines gegebenen Wortes nicht in die Ungelegenheit komme und ich vor Ihnen bestehn kann, Herr Dechant.«

»Wenn es denn so ist ...« lächelte Heinrich van Egern.

»Ja, so ist es, Herr Dechant. Ich weiß jetzt, wo ich dran bin, und Jakob Verheyen weiß auch, wo er dran ist. Die Geschichte mit dem Vogel Strauß muß er jetzt anderweitig betreiben. Nicht mehr sich selber und mir gegenüber. Das Handwerk ist ihm hier im ›Blauen Anker‹ gelegt. Er kann mich nicht mehr für den Dummen verschleißen, denn seine eigene Schande habe ich ihm privatim, aber gründlich vor Augen gehalten. Den Spiegel verflucht er; war er doch ein ganz besonderer Spiegel. Da saß ein Verbrecherkopf drin. Das mag nicht christlich sein, das mag Ihnen gegenüber verwerflich erscheinen, für mich aber ist es wie ein Ostersonntag gewesen. Und dann noch eins, Herr Dechant: so ein Mann gehört nicht auf den Prästdentenstuhl der Sankt Sebastianusgesellschaft. Nie und nimmermehr! – denn so ein Mensch ist nicht würdig, hinter unsrer Trommel herzumarschieren; ferner nicht würdig, im Amt des Kirchenmeisters zu bleiben. Das Recht über die Glocken darf er nicht länger behalten. Es gibt bessere Leute. Und daß er diese Ehren verliert, das ist Ihre Sache, Herr Dechant, und ich hoffe zu Gott, es wird also geschehn.«

»Es soll geschehn.«

»Merci, Herr Dechant, und damit will ich mich empfohlen halten für heute.«

Er nahm seine Mütze.

»Und nochmals gesagt: Sie müssen mich exküsieren, Herr Dechant. Was man auf der Seele hat, soll man semmelwarm anpräsentieren, sonst versäuert es bis zum anderen Morgen und bringt ein schiefes Gesicht in die Sache. Und somit: Gott befohlen, Herr Dechant.«

Damit ging er und legte die Tür zwischen sich und Heinrich van Egern.

Erhobenen Hauptes trat er in den weichen Abend hinaus.

Über ihm hing der Himmel voller Sterne.

Pitt Pulcher fühlte sich frei unter ihnen. So frei war es ihm seit langem nicht mehr gewesen. Nur – das rechte Augenlid hing ihm schärfer herunter. Es behinderte ihn im Sehen. Er sah alles doppelt und dreifach. Es brannten mehr Lichter in seinem Hause als gewöhnlich. Auch die Fenster des rechts von der Tür gelegenen Zimmers waren erleuchtet und pflegten doch nur erhellt zu sein, wenn er daheim war, die Lade wuchtete oder sich ein Erbauungsstündchen in der Bibel vergönnte.

Was das nur zu bedeuten hatte?

Er verhielt sich, um besser sehen zu können.

Aber die lichten Fenster blieben.

Langsam schob er das kranke Augenlid höher.

Auch das änderte nichts.

Da nahm Pitt Pulcher seinen Schritt wieder auf und trat auf sein Haus zu.

An der Tür empfing ihn Stina. Sie schien auf ihn gewartet zu haben.

»Ich bitte Ihnen, ruhig zu bleiben,« sagte sie hastig. »Es wird wohl alles seine Richtigkeit haben.«

»Was wird seine Richtigkeit haben?«

»Ich meine man eben ... im ›Blauen Anker‹ soll doch etwas passiert sein, Herr Pulcher.«

»Allerdings, Jakob Verheyen machte sich mausig. Aber das verwundert nicht weiter.«

»Schon möglich, Herr Pulcher ... indessen auf dem Tanzboden ist es schlimmer gewesen.«

»Was geht mich der Tanzboden an? Das ist dem Polizeidiener Cäsar und dem Schandarm seine Sache.«

»Alles schon richtig, Herr Pulcher ... aber daß ich's man sage: Hermann ist hier im Hause.«

»Wer ist im Hause?

»Hermann Verheyen. Ich konnte ihn nicht abweisen, Herr Pulcher. Er ist ja mit Fräulein Anna gekommen.«

»Direkt vom Tanzboden ...?«

»Zu dienen, Herr Pulcher.«

»Also doch ...!« stöhnte der Alte.

Sein Gesicht verzerrte sich plötzlich. Er griff hinter sich, als wären da Pfähle eingerammt; als müsse er einen handfesten Knüppel aus dem Erdreich ziehen.

Seine Hände blieben leer.

Er stieß die Tür auf ... noch einige Schritte ...

Ungewiß sah er zwei Gestalten am Webstuhl stehn, die sich umschlungen hielten.

Beim Eintritt des Alten ließen sie voneinander ab.

Hermann Verheyen ging ihm entgegen, während Anna sich mit verhülltem Gesicht gegen eine Stuhlsäule lehnte.

Pitt Pulcher sah sich um.

»Wenn man nicht gerufen ist,« sagte er schwer vor sich hin, »dann ist es nicht wohlgetan, andermanns Haus zu betreten.«

»Herr Pulcher, ich bitte Sie ...«

Der Alte unterbrach ihn mit einer großen Handbewegung.

»So sprechen alle, die sich schuldig fühlen. Es sind leere Redensarten, Hermann Verheyen. Heute ist keine Stunde für dich, auch morgen nicht. In diesem Hause ist überhaupt keine Stunde für dich, und käme sie dennoch, so brächte dir diese Stunde nichts Gutes. Denn hier ist mein Haus und mein Tempel, und in diesem Haus und in diesem Tempel habe ich nur zu reden, es sei denn, ich spräche: Nun ist das Wort an deine Adresse gekommen. – Und solches geschieht nicht. Was ich früher schon sagte: Ich ehre den Menschen in dir – das besteht auch noch heute zu Recht; das kann auch dein schlimmster Feind nicht fortdisputieren. Du hast dich dem lieben Gott und deinem König gegenüber brav und tapfer gehalten, und so was empfiehlt bei den Leuten, die für so was Verständnis besitzen. Gott sei gedankt, ich hab' so'n Verständnis. Aber das hilft mir allein nicht – und dir nicht – und Anna nicht ... da liegen Dinge dazwischen, die mit einem Stein bedeckt sind. Hebe diesen Stein nicht auf, Hermann Verheyen. Da darf keiner dran rühren. Der muß da liegen für immer. Sonst: man könnte den Verstand darüber verlieren. Also: hier hast du nichts mehr zu suchen. Drum geh deines Weges, Hermann Verheyen ...«

Langsam streckte er die Hand aus, langsam und schwer, als hätte er Blei zwischen den Fingern.

»Nein, ich gehe nicht.«

»Wo ich es dir hiermit gebiete?! – ich, Pitt Pulcher, der Nachfahre des großen Weberkönigs von Köln!«

»Auch dann nicht.«

Die junge Gestalt Hermann Verheyens erstarkte. Auf der bleichen Stirn stand ein eiserner Wille. Jede Muskel des jugendlichen Körpers straffte sich wie aus Stahl geschmiedet. Langsam sog er die Luft durch die mahlenden Zähne: »Es ist doch nicht Mode, daß man mich wie'n Hund auf die Straße schmeißt.«

»Hunde kommen überhaupt nicht ins Zimmer, und dir laß es noch einmal gesagt sein: ich bin der Herr dieses Hauses.«

»Und hier ist mein Herz,« hielt ihm Hermann entgegen, »und darüber hat nur die zu befehlen.«

Mit flackernden Blicken war er an die Seite Annas getreten, die noch immer an der Stuhlsäule lehnte: »Sagt die mir: Gehe nach Hause, gut, so habe ich hier nichts weiter zu schaffen. Bis dahin aber ... her zu mir, Anna ...!«

Mit beiden Händen hatte er die Schluchzende an sich gerissen. Mit wilder Inbrunst drängte er ihren Kopf zurück und preßte seinen Mund auf ihre zuckenden Lippen.

In diesem Augenblick ging die Welt unter für ihn. Er hatte nur sie, er dachte nur an ihre heiße, triumphierende Liebe, an die schöne, entsetzliche Stunde, die sie ihm wiedergegeben. Er stand wie im Triebsand, der mächtig gegen ihn anwuchs und sein junges Glück zu ersticken drohte. Und doch, wie das stürmte und wehte! Ja, es stürmte und wehte, aber dieses Stürmen und Wehen war ihm zugunst und packte in den Triebsand hinein und fegte ihn seitwärts und gab ihm die Freiheit wieder und die ewige Sonne.

Pitt Pulcher wischte sich den Schweiß von der Stirne. Er zählte die Tapetenmuster, die Garnsträhnen, die sich in dem Gewirr der Balken und Verstrebungen des Webstuhles verloren. Auf seinem Nacken lastete es mit Zentnergewichten. Der starke Mann schrumpfelte in sich zusammen. Er wußte nicht, was um ihn vorging. Nur langsam begriff er: Der ist ja gekommen, um deine Tochter zu holen – und wieder glaubte er, das Sausen der Flügel und das Knirschen der großen Welle zu hören.

Jakob Verheyen, und immer wieder Jakob Verheyen!

»Da soll doch ...!«

Ja, auf den Pfannen da saß schon das Unglück und schüttelte die grauen Flügel und ließ seine ekelhafte Stimme vernehmen.

Da schnellte er hoch und stieß einen dumpfen und schartigen Schrei aus.

Er stand neben ihr, neben seiner Tochter. Er legte ihr die Hand auf die Schulter: »Was will der Mensch von dir? Jetzt – in dieser Stunde – in diesem Augenblick, wo du doch weißt: er wurde bereits von der Kanzel gerufen?«

Er wandte sich, und seine Blicke waren bei Hermann Verheyen.

»Und du ...« klirrte es ihm von den Lippen, »du bist doch mit Franz Seegers seinem Weibsbild versprochen ...!«

»Das hat sich geändert ...«

»Geändert?«

»Ja, es hat sich alles geändert, seit ich weiß, wir beide gehören zusammen, seit sie vor allen Menschen gesagt hat: Nur der Tod kann uns scheiden.«

Der Alte taumelte zurück.

»Nur der Tod ...?« fragte er mit glanzlosen Augen.

Es war weder Metall noch Klang in der Stimme.

»Ja – denn sie ist mir vor Gott und den Menschen geworden – soeben im ›Blauen Anker‹ geworden, als die Musik aufhörte zu spielen, als ich erkannte: Du begehst ein Verbrechen an dir und der anderen, wenn du deinem Vater noch länger zu willen bist. Und daher, Herr Pulcher ... alles ist von mir gefallen ... ein neues Leben beginnt ... und wenn mein Vater doppelt und dreifach von der Flügelwelle herabsähe – mir soll's egal sein ... Ich bin mein eigener Herr und der Baumeister meines Hauses geworden – seit heute, soeben, im ›Blauen Anker‹, Herr Pulcher, seit ich weiß: sie geht mit mir bis ans Ende der Tage ... bis alles vorbei ist ...«

»Hermann ...!«

Sie hielt seinen Nacken umklammert. Sie drängte sich an ihn. Sie hatte ein wildes Verlangen, das sonnige, jauchzende Leben an sich zu reißen, das neuerkämpfte nie wieder zu lassen.

»Hermann ...! – Hermann ...!«

Ihre Worte erstickten unter seinen gierigen Küssen. Sie lachte und schluchzte, und in dieses Lachen und Schluchzen hinein stammelte er selige Worte: »Anna, Geliebte ...! Ach, du ... du ...! – Nun ist alles gut zwischen uns ... und den möchte ich sehen ...« Und seine Stimme nahm einen herrischen Ton an: »Ja, den möchte ich sehen, der es wagen sollte, mich von dir zu stoßen ...«

»Und der bin ich, denn mein ist die Rache!«

Der Alte trat zwischen sie: »Fort von der da ...!«

Seine Hand umklammerte die Hermann Verheyens: »Ich sage zum letzten: Und wenn ihr betteln kämet, du und dein Vater, auf den Knien und die Stirn am Boden – es gibt keine Gemeinschaft mehr zwischen uns. Und hat auch dein Vater versucht, das Tabernakel meiner Ehre zusammenzuhauen – noch steht es und ist heilig, heilig, heilig! – und will auch dein Vater hoch hinaus – ein Pitt Pulcher will höher hinaus und trägt eine Krone ... und daher, Hermann Verheyen ...«

Zum anderen streckte sich die Hand. Sie wies auf die Tür.

»Nein, Herr Pulcher – ich bleibe.«

»Dann muß ich schon selber ...!«

Der Alte – kerzengerade, mit herabhängendem Augenlid stand er neben dem Eingang. Das grelle Lampenlicht tapezierte den Schatten an die gegenüberliegende Wand und schob ihn bis an das Gebälk der niedrigen Decke. Auf dem Antlitz Pitt Pulchers lag eine eherne Ruhe, als hätte sie die Faust des Schicksals auf Stirn und Schläfen gemeißelt. Mit dieser Ruhe legte er die Hand auf die Klinke, riß er die Tür auf und warf sie in den Angeln zurück.

»Du hast nicht im Guten gewollt, so wirst du im Bösen müssen,« knatterte es zwischen den Zähnen. »Du bist der Sohn von Jakob Verheyen – und aus dieser Betrachtung heraus: trotz deiner Königstreue und deiner Rettungsmedaille – da ist die Tür ... und gehst du nicht, dann geschieht ein Unglück hier unter den Pfannen ...«

»Herr Pulcher ...!«

»Kein Wort mehr.«

»Ich bitte dich, Hermann ...!«

Und da lag sie schon an seiner Brust und weinte und schluchzte: »Ja, ich bitte dich, Hermann ... ich bitte dich, Hermann ...!«

»Gut, ich gehe,« sagte er schmerzlich, »aber dein Herz nehme ich mit mir und das Weitere findet sich.«

»Ja, das Weitere findet sich,« stöhnte der Alte und warf hinter Hermann Verheyen die Tür zu. –

So weit waren sie jetzt – Vater und Tochter ...

Heiß stieg es in ihm auf.

Er hielt's nicht mehr aus.

Dem mußte ein Ende gemacht werden.

Mit einem dumpfen Laut zermürbte er das qualvolle Schweigen.

»Anna!« keuchte er aus tiefster Seele, »hast du denn ganz vergessen, was du mir in jener Stunde gelobtest, in jener Stunde, als Jakob Verheyen die Reputation der Pulcherschen Familie kaltstellen wollte? Hast du das alles vergessen, und reichst du diesem Menschen den Strick, um mir die Schlinge um den Nacken zu legen? Anna ...! – Jesus, mein Heiland ...!«

Er packte zu. Er umgriff ihre Schultern und bog ihren Oberkörper zurück.

Sein hartes, greisenhaftes Gesicht stand über dem ihren.

Sie kannte ihren Vater nicht wieder. So hatte sie ihn niemals gesehen.

»Was hast du? Soll ich um deinetwillen, um Hermann Verheyens willen schon in die Kirchhoferde hinein? Sag's nur. Die Bretter sind schon geschnitten. Ich brauche nur Order zu geben, und Dores Jansen hämmert die schwarze Kiste zusammen.«

Sie gab keine Antwort.

Die brutale Gewalt tat ihr wohl. Große, heilige Bilder zogen an ihrer Seele vorüber.

»Gib Antwort – oder soll ich Dores Jansen bestellen?!«

Er streckte den Arm aus.

Jede Muskel straffte sich in dem sehnigen Körper.

Das offene Auge loderte.

Der sonst so sinnierende Mann hatte alle Fassung verloren.

»Soll ich Dores Jansen bestellen?!«

Da wich die Starre von ihr.

Sie umschlang seinen Hals, sie klammerte sich an ihn, immer fester und fester, als müßte sie eins mit ihm werden, als müßte sie ihre heiße Liebe auf das Herz ihres Vaters übertragen, als sollte es schmelzen unter ihren verzehrenden Pulsschlägen.

Ein Stürmen und Drängen war in ihr.

»Vater, so hab' doch Erbarmen, hab' doch Erbarmen ...!«

Er fühlte die Zuckungen des gemarterten Körpers.

Und dieser Körper gehörte seinem Kind, seiner jungfräulichen Tochter.

Aber er sah über sie fort, gleichgültig gegen das herzzerreißende Klagen und Wimmern. Er sah über sie fort, als habe er in der Nähe etwas zu suchen.

Neben dem Webstuhl hing ein beinerner Kruzifixus an einem schwarzen Holzscheit. Seine verstorbene Frau hatte den Bildstock mit von Kevelaer gebracht, als sie schweren Fußes mit Stephan ging und bangen Herzens der nicht mehr fernen Stunde entgegensah. Ein geweihtes Buchsbaumzweiglein steckte am Kopfende des Kreuzes, alt und vergilbt und mit morschen Blättchen und Stielen behaftet. Darunter stand ein Tisch mit einem gehäkelten Deckchen. Auf diesem ruhte die Bibel, noch aufgeschlagen ... Es war die Stelle, die vom verlorenen Sohn handelte.

Noch gestern hatte er diese Geschichte gelesen, zu mehreren Malen und in schweren Gedanken.

Jetzt stand ihm das Gleichnis wieder lebhaft vor Augen.

Er erinnerte sich jedes einzelnen Wortes.

Daran war nicht zu rütteln und zu schütteln.

Das stand fest wie das Amen von der Kanzel herunter.

Das warf sich an ihn.

Das mit dem verlorenen Sohn konnte ihm auch an der eigenen Tochter passieren.

Aber dann: ihr sollte kein Kalb geschlachtet werden – nie und niemals, unter keiner Bedingung ...

Der Ekel war ihm wie ein schmutzigs Hochwasser bis an die Kehle gestiegen.

Er mußte aus diesem Sumpf heraus.

»Also du wählst zwischen denen und mir, zwischen den Verheyens und Pulchers ...!«

Er suchte aus der Umarmung seiner Tochter zu kommen. Aber immer fester schlang sie die Fesseln um ihn –- sie, das blühende Weib mit der großen, verzehrenden Liebe in der Brust, die auf- und niederstürmte und den leichten Stoff zu zersprengen drohte.

»So hab' doch Erbarmen mit uns – mit Hermann und mir ...«

»Mit dem ...?!«

»Vater, ich bitte dich, ich beschwöre dich auf den Knien ...«

»Mit dem?!« wiederholte der Alte.

Seine Stimme, die erst zerdrückt war, krachte jetzt wie die Sprache eines nahen Gewitters: »Er ist doch ein Sohn von Jakob Verheyen! Von Jakob Verheyen, dem Lumpen, dem Heiligtumschänder, dem Totengräber deiner seligen Mutter ...! Und da sollte ich ...?! – Das ist ja, um gekreuzigt zu werden. Da müßte er schon Anne-Susanne gebieten: Läute, läute! – sonst ist die Seele Pitt Pulchers, dieses armseligen Narren, verloren. Bis dahin aber, und solange die Glocke nicht läutet ...«

»Herr, du mein Christus! – ich bitte dich, Vater ...!«

Er stieß sie von sich. Er stand neben der Bibel. Er packte zu mit beiden Händen und streckte die Arme.

Das Buch mit dem goldenen Kreuz schwebte zwischen Himmel und Erde.

»Mir ist etwas von der Kraft und Allmacht des Herrn unter den Schädel gefahren ...«

Seine Stimme rollte.

Vor der drohenden Haltung war Anna bis in eine Ecke des Zimmers geflüchtet, griff sich ins Haar und zerrte die Strähnen nach vorne.

Totenbleich starrte das entsetzte Gesicht aus dem straffgezogenen Rahmen.

Der Alte trat näher, jetzt wieder ruhig, gefaßt und würdig und mit dem fürchterlichen Ernst eines strafenden Priesters.

»Soeben,« also begann er, »im ›Blauen Anker‹ – in der Sebastianusgesellschaft – als alles brechen und biegen wollte – da, um einem Lumpen das Fundament unter den Füßen zu nehmen, da, Anna, gebot ich dem Lumpen: Du, Jakob Verheyen, schwöre hier auf die Fahne ... Und er wollte schwören und durfte nicht schwören, er hätte sonst einen Meineid geleistet, der Unmensch ... Du aber, Anna ... das ist bei dir eine andere Sache. Hier im Angesicht des Gekreuzigten, unseres Herrn und Erlösers, geboren aus Maria, der Jungfrau, schwören sollst du hier auf die Bibel: Ich habe keine Gemeinschaft mit Hermann Verheyen, dem Sohne des Schurken und Ehebrechers, und wenn ich sie hatte und habe – so ist sie in jetziger Stunde begraben, für jetzt und immer und ewig ...«

Er senkte die Arme und hielt ihr das Buch hin.

»Schwöre ...!«

»Ich kann nicht ...!«

»Du kannst nicht?!«

»Nie und niemals, denn meine Liebe kennt keine Grenze. Ich habe Hermann ewige Treue und Liebe versprochen.«

Die Stimme des Alten donnerte: »Anna ...!«

»Schlage mich tot, würge mich, schlepp' mich ins Wasser – aber ich kann nicht ...!«

»Herr, du mein Jesus ...!«

Pitt Pulcher drehte sich um seine eigene Achse. Er tastete in die leere Luft, um Halt zu gewinnen. Die Bibel polterte auf die Dielen. Und über die Bibel ...

Wie von der Erde gemäht, ohne einen Laut von sich zu geben, eine mächtige, angehauene Kiefer im Winterwald, brach der starkknochige Mann im eisgrauen Haar über der Bibel zusammen.

Mit zuckendem Körper deckte er die heiligen Schriften.

Anna stürmte vor – beugte sich über den Alten – versuchte, den bleichen Kopf in die Höhe zu heben ...

»Vater ...! – Vater ...! Um Jesu Christi willen, was ist dir, ich tue ja alles ...!«

»Der Himmel steht offen ...« röchelte Pitt Pulcher. »Da oben, da oben ... Mutter, ich komme!«

Von draußen aber kam die Musik der lustigen Kirmes herüber.

 


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