Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

7

Der Sommer kam, und als die Tage kürzer wurden und die Sterne fröstelnd am Himmel standen, fiel das Laub von den Bäumen. Die Erde schneite ein und grünte dann wieder. Auf dem Grabe der Verstorbenen blühten die ersten Himmelsschlüsselchen.

Schon im verflossenen Herbst waren Hermann Verheyen und Thyß Jansen zur Reserve entlassen. Thyß wandte sich der engeren Heimat zu, erzählte große Dinge aus seiner militärischen Dienstzeit, konnte sich anfangs im bürgerlichen Leben so richtig nicht schicken, bekriegte sich aber, kehrte reumütig zum Hobel und zur Säge zurück und arbeitete wieder als Gesell in der Werkstatt seines Vaters.

Und Hermann Verheyen ...?

Seine beherzte Tat auf der Spellner Heide hatte Kreise um Kreise gezogen. Er wurde reichlich belohnt. Auf Eingabe des Regimentskommandeurs hin verlieh ihm sein König die Rettungsmedaille am Bande. Kurz vor seiner Entlassung konnte er dieses seltene Ehrenzeichen an seine Brust heften.

Seine Vaterstadt nahm innigen Anteil daran.

Jakob Verheyen war rein aus dem Häuschen. Fünfundzwanzig Flaschen Bordeaux, die er seinen Freunden spendierte, mußten das Gleichgewicht seines natürlichen Fühlens und Denkens bewerkstelligen. Dann schlich ihm der Hochmut unter die Schädeldecke. Die Pläne, die er sich zurechtgelegt hatte, verstiegen sich ins Ungemessene. Neben den umfangreichen Bauten, die seine Guanolager erforderlich machten, ging er noch mit dem Vorhaben um, eine Dampfmühle ins Leben zu rufen, um allen Bedingungen eines neuzeitlichen Betriebes zu genügen und die bedrohliche Konkurrenz aus dem Felde zu schlagen. Hierzu waren technische Kenntnisse erforderlich. Vorbildlich erschienen ihm einige Neubetriebe in Holland, und so entschloß er sich, seinen Sohn unverzüglich dorthin zu senden und das Weitere abzuwarten.

Hermann Verheyen hatte keine lange Bedenkzeit. Der Wille des Vaters stand fest und gebot dem Sohn, sich das Nötige zuerst in Maastricht und dann in Roermonde anzueignen.

Franz Seegers unterstützte diese weitgehenden Projekte, sagte die in Frage stehende Parzelle zu und verpflichtete sich, gegebenen Falles noch andere Grundstücke zu annehmbaren Preisen zur Verfügung zu stellen.

»Gottverdomie!« sagte er hierauf und streckte die Hand über den Wirtstisch, »was mein Freund Jakob Verheyen anfängt, dem klebt Gold am Hintern und der richtige Mist unter den Füßen,« und dann lachte er, daß davon die Scheiben ins Klirren gerieten.

So war denn alles wohlüberlegt, und es konnte zugepackt werden.

Gleich nach seiner Entlassung ging Hermann, wenn auch mit schweren Bedenken, nach Holland.

Franz Seegers schüttelte ihm kräftig die Hand und sprach von kommenden bedeutsamen Zeiten. Dann wünschte er ihm viel Glück auf die Reise.

Der kleinen Stadt schien ein neues Leben gekommen. Die meisten dachten dabei an den eigenen Vorteil, hörten schon die Goldstücke klimpern und bewunderten den zugreifenden Unternehmungsgeist ihres Mitbürgers.

Jakob Verheyen war der Held des Tages geworden.

Nur Pitt Pulcher schüttelte den Kopf, und Anna ging mit verweinten Augen im Hause umher. Sie suchte den gestrigen Tag, ohne den gestrigen Tag finden zu können. – – –

Die Schneeglöckchen blühten ab, und die Ranunkeln schlugen ihre gelben Augen auf. Jakob Verheyen hatte inzwischen die fraglichen Flurparzellen von Franz Seegers erworben. Darüber lag notarielle Urkunde vor, und alles war in Ruhe und Frieden abgemacht worden. Fachleute stellten sich ein und entwarfen die Pläne für das großangelegte Projekt. Als die Nachtfröste aufhörten und der Boden sich als bearbeitungsfähig erwies, klirrten die ersten Spaten. Nach den aufgeworfenen Längs- und Quertrassen zu urteilen, war auf eine umfangreiche Bautätigkeit zu schließen. Die Ziegeleien hatten vollauf zu tun, die benachbarten Mörtelwerke stellten Fuhren um Fuhren, und als alles bereit stand, wurde das Legen der Fundamente mit fieberhafter Eile betrieben. Der Bauherr befand sich in gehobener Stimmung. Seit dem Tode der Frau Pulcher war ein langes und banges Jahr vergangen. An den Uferrändern war es blau von Veilchen. In den Wäldern von Moyland rief der Kuckuck. Das Gras dehnte und streckte sich. Das Korn ging in Ähren, und wie mit Weihrauchwolken duftete es über die Felder. Die Nächte waren feierlich. Selten hingen die Sterne so prächtig am Himmel, selten pilgerte ein so liebliches Mondlicht über die Erde. Der Faulbaum blühte, und der Roggen dampfte. Johanni kam. Es war Sommer geworden.

Diese köstlichen Sommertage und silbernen Nächte beglückten die Menschen. Der wilde Schmerz Pitt Pulchers ließ nach. Der Dechant Heinrich van Egern sprach stille und heilige Worte mit ihm und wußte das Sterben der Abgeschiedenen in milden Farben zu schildern. So kam es denn auch, daß sich der Alte wieder reckte und streckte wie in früheren Tagen. Er hatte nichts an seiner einstigen Spannkraft und Geradheit verloren. Und die Leute zogen die Mützen tiefer und sagten: »Pitt Pulcher ist noch freier und stolzer geworden.« Dabei dachte er stündlich an die verstorbene Frau, an ihre Jugend, an ihr goldenes Haar, das wie lichter, gesponnener Flachs war, an den Tag, wo sie ihn zum ersten Male umfing und ihm alles gab, was sie zu vergeben hatte, an die Stunde, wo sie ihm zuflüsterte: Ich bin gebenedeit unter den Weibern, und gebenedeit ist die Frucht meines Leibes ... Aber seine Gedanken standen wie auf einem hohen Berge und sahen von hier aus in das weite Land der Niederung, das endlos erschien und nicht aufhören wollte. Sie waren ruhig und ohne Trauer. Sie gingen wieder dem Irdischen nach und hatten das Schmerzhafte, das mit Dornen Bekränzte verloren. Sie rückten die Verstorbene in den sanften Schein der Verklärung.

Und diese Verklärung nahm an Stetigkeit zu und wurde mit den Tagen zu einem himmlischen Leuchten.

Um diese Zeit empfing Stephan das Sakrament der Priesterweihe. Vater und Tochter reisten nach Münster. Sie sahen die Pracht in der hohen Domkirche. Vor ihren Augen flimmerten hundert und aberhundert geweihte Kerzen. Sie hörten die Stimmen der mächtigen Orgel und die der berühmten Kapelle. Sie klangen ihnen wie die Gesänge der Seraphim und Cherubim. Sie vernahmen das bindende ›Accipe spiritum sanctum‹, und beugten die Knie und erschauerten.

Erhobenen Hauptes und mit einer Fülle des Glückes traten sie den Heimweg an. Ein seliger Stern ging vor ihnen her; er strahlte schöner denn alle Sterne unter dem Himmel.

Der noch immer leidende Dechant Heinrich van Egern hatte um eine zweite Stütze gebeten. Die in Münster horchten auf, und sie erinnerten sich des Jünglings mit dem stillen Gesicht und den großen Schwärmeraugen. Er kannte Land und Leute und wurde somit als Kaplan in seine engere Heimat beordert.

Mit dieser Botschaft kam Pitt Pulcher nach Hause. Er ging wie im Traum. Er hörte Harfen und Zymbeln und die Stimmen der himmlischen Heerscharen. Er konnte all die Gnade nicht fassen.

Anderen Tages zog er den Sonntagsrock an, den schwarzblauen Düffelrock mit den doppelreihigen Knöpfen, setzte sich den altmodischen Zylinder auf und begab sich zum Friedhofe. Am Kalvarienberg, dicht bei den Tannen und den beiden Trauerweiden, die er schon als Kind verehrt und deren Rauschen er allezeit verstanden hatte, hielt er den Fuß an. Hinter ihm lag die kleine Stadt mit ihren Ziegeldächern und den kanadischen Pappeln, vor ihm das Grab seines Weibes.

Die große Weihe des Gottesackers war bei ihm.

Langsam holte er den Zylinder herunter, langsam beugte er das Knie, langsam senkte er den Kopf und küßte er die Scholle des Grabhügels.

»Mutter,« sagte er leise, »nun ist dein Wunsch in Erfüllung gegangen.«

Und seine Seele faltete die Hände und betete lange. –

Ströme des Lichtes fielen über die Erde, und in diesen Strömen des Lichtes zog der junge Kaplan in die Stadt seines Berufes. Den Tag seiner Ankunft hatte er geheimgehalten, um still und unauffällig über die Schwelle seines Vaterhauses zu treten. Er dachte dabei an den Nazarener. Der hatte kein großes Aufheben von seiner Mission gemacht. Der war schlicht und einfach gekommen, der hatte schlicht und einfach seines Amtes gewaltet, und seine Ernte war trotzdem mehr als tausendfältig gewesen. Keiner vor ihm führte ein so bescheidenes Dasein, ein Dasein wie das eines verwunschenen Sees, den kein Sturm aufwühlte, den keine unterirdischen Kräfte ins Grollen und Zürnen bringen konnten, höchstens, daß eine scheue, silberweiße Möwe die Spitze ihres lichten Flügels in seinen Spiegel hineintauchte. Nur das Ende seines Lebens wurde zur Symphonie, zu einer gewaltigen Eroika, durchzittert von den majestätischen Klängen eines Trauermarsches, vor dem Himmel und Erde erbebten und der Vorhang des Tempels mitten entzweiriß. Und der Berg des Ärgernisses stieg empor; zwischen dürrem Gras und zwischen Oliven ragte er auf – und war alles wüst und leer ... und auf Golgatha, von Blitzen umzuckt und im rauchschwarzen Wettergewölk, erhob sich das Kreuz der Erlösung.

Acht Tage nach Johanni verließ der junge Kleriker das Seminar. Er fuhr bis nach Empel, einer kleinen Station jenseits des Rheines. Von hier aus wandte er sich landeinwärts, um zu Fuß die kleine Stadt zu erreichen.

Um die siebente Nachmittagsstunde ließ er sich über den Fluß setzen. Dann ging er auf bekannten Wegen der Heimat zu. Nach viertelstündigem Marsch erklomm er die sanfte Böschung eines breitausgelegten Deiches, dessen riesige Flanken bei drohender Gefahr das angestaute Wasser zurückhalten sollten. Auf der mit einer üppigen Grasnarbe bekleideten Krone schritt er weiter. Von hier aus sah er in das Land seiner Kindheit.

Rechts und links von ihm dehnten sich endlose Wiesen, mit gekappten Weiden bestanden und von schnurgeraden Schlehen- und Bocksdornhecken durchquert, in denen die lauten Zaunelstern ihre lehmigen Kugelnester eingebaut hatten.

Ihm zur Linken lag Westen. Die heiße Sonne senkte sich bereits auf die dunkelblauen Wälder von Moyland. Eine ernste Glorie ruhte auf der abendlichen Landschaft.

Es war so, als wäre es Feiertag, als ginge der Heiland im schlichten Kleid und mit segnender Hand durch die duftigen Wiesen.

Stephan Pulcher fühlte seine bezwingende Nähe. Er spürte den Odem des Herrn, und seine Seele war wie die eines glücklichen Kindes.

Er dachte an den Nazarener und sein heiliges Lehramt. So, wie dieser es aufgefaßt hatte, also gedachte auch er die neue Würde zu tragen: in Liebe und Demut und mit der Einfalt der Tauben. Er wollte die Traurigen trösten, die Verzweifelten aufrichten und die Sterbenden an die goldene Pforte des Paradieses geleiten. Ja, das wollte er. Er wollte den Zornigen den Zorn von der Stirne nehmen, die Durstigen tränken und den Hungrigen das Brot des Lebens reichen. Genau so, wie es der schlichte Zimmermannssohn getan hatte, als er auszog, um das Evangelium der Nächstenliebe unter die Völker zu tragen.

Aber war ihm auch das Ende des Nazareners beschieden? War auch ihm ein Golgatha bereitet und das Kreuz errichtet, das erlösend in den nächtigen Himmel stieg? War sein Sterben dazu angetan, die Sünden hinwegzunehmen und das Glück anderer Menschen zu begründen? War sein Tod so nahe wie der des Menschensohnes?

Stephan Pulcher lächelte. Aber sein bleiches Schwärmergesicht lief ein seliger Abglanz.

Er stand auf der Stätte, wo der Weg abzweigte, der zur nahen Chaussee führte. Er legte die Hände zusammen und sagte: »Herr, dein Wille geschehe.«

Dann ging sein Blick wieder über die verschwiegene Ebene.

Wie schön es hier war! Flammendes Rot hüllte die Welt ein. Die Fernen verloren sich. Eine Merle baumte auf und verkündete die Allmacht des ewigen Schöpfers. Der Abend war wie ein todwunder Fähnrich, der sich auf gewonnener Walstatt in die Fahne hüllt, um zwischen ihrem blutroten Tuche zu sterben.

Und doch so schön, so schön, so unendlich schön!

Der junge Kleriker breitete die Arme, um all diese niederrheinische Schönheit, diesen niederrheinischen Abend an seine Brust zu reißen.

Sein Atem flog.

Er ließ die Arme wieder herunter.

Vor ihm die kleine Stadt, das Ziel seiner Pilgerschaft. Er zählte die einzelnen Dächer, die Gärten, die Bäume, die sich in feurigem Schaumgold badeten.

Also dort ruhte sein zukünftiges Lehramt. In drei Tagen sollte die Primiz sein.

Um den Turm der Sankt Nikolaikirche schwebte ein Falke. Er trug das Abendlicht auf den gebreiteten Flügeln. Helle Funken sprühten von dem weichen Gefieder.

Unter seinen Kreisen lag die Kaplanei mit ihrem versteckten Garten, wo jetzt der Phlox blühte und die länglichen Pastorenbirnen zu reifen begannen. Ein stilles Haus und eine trauliche Laube, so recht zum Sinnieren gemacht und zum Studieren hergerichtet! Hier konnte er Zwiesprache halten mit Duns, dem Schotten, dem seraphischen Augustinus und dem lieblichen Thomas von Kempen. Hier durfte er ungestört die Rhetorik der Kirchenväter an sein Ohr dringen lassen. Hier durfte er den Heiland empfangen, ihm das Wort vom Munde nehmen und sich an seinen Lehren erquicken, die lauter waren wie klingendes Erz und duftig wie der Hauch dunkelroter Rosen in sammetschwarzen Sommernächten. Und täglich – allmorgens, allmittags und abends fielen die Glockenschläge in diesen Garten hinein wie singende Vögel.

Wie erquickend das war, wie tröstend das war, wie heilig das war!

Sein Herz breitete die Schwingen und flog in den Himmel.

So stand er lange.

Hierauf verließ er die Deichkrone und ging der nahen Landstraße zu. Von hier konnte er in einer kleinen Viertelstunde die Stadt erreichen.

Das Land dunkelte ein. Der große Vorhang fiel langsam herunter. Vereinzelte Fünkchen lagen dazwischen.

Ein warmer Hauch von blühenden Feuerbohnen kam aus den Gärten.

Das erste Licht arbeitete sich durch die Dämmerung.

Nicht weit von den niedrigen Häusern begegnete ihm die Abendpost. Sie fuhr nach Rees und darüber hinaus bis nach Empel. Hinter dem gelben Wagen wirbelte eine Wolke dichten Staubes.

Stephan Pulcher kannte den Schwager. Das war ein gutes und liebes Gesicht, ein Gesicht aus der Kinderzeit. Mit Christ Hogen hatte er die Elementarschule besucht und allzeit gute Kameradschaft gehalten. Gemeinsam teilten sie Freud und Leid, gemeinsam ihr Butterbrot. Später wurden sie auseinandergerissen. Ihre Lebenswege trennten sich. Schon mit vierzehn Jahren war Christ ein leidlicher Waldhornbläser geworden, und dieser Waldhornistengeist impfte ihm eine unbezwingliche Wanderlust ein, die er nicht betätigen konnte und durfte. Er hatte für Vater und Mutter, arme und kranke Häuslerleute, zu sorgen, die ihren Einzigen nicht in Gottes weite Welt hinausschicken wollten, und so blieb für ihn nichts anderes übrig, als die Flügel zu stutzen und den musikalischen Sinn in nur ganz bescheidener Weise ausreifen zu lassen. Er fand einen Ausweg und wurde Postillon. So konnte er doch wenigstens die klingende, lachende Welt zwischen Calkar und Empel durchstreifen und seine Sehnsucht, seine Liebe und seine heimlichen Klagen über die Wiesen und die wogenden Kornfelder oder in die einsame Schneenacht hinausblasen. Das tat er auch redlich, und wenn er sein Lied anhub, sei es traurig wie das vom ›Kühlen Grunde‹ oder jubelnd wie das der fröhlichen Lerche, dann horchten die Menschen auf und sagten: »Alles was recht ist, aber wie Christ Hogen hat noch keiner geblasen.«

Als er Stephan Pulchers ansichtig wurde, hielt er die Pferde an.

»Heerohme ...!« stammelte er beglückt vor sich hin, riß den Postillonshut vom Kopf und drehte ihn verlegen und ehrfürchtig zwischen den Fingern.

Dann ruhte Hand in Hand.

Die beiden Kameraden aus der Jugendzeit hatten sich wiedergefunden.

Gleich darauf zogen die Gäule von neuem an. Der gelbe Wagen rollte weiter. Aber nicht lange. Das Pferdegetrappel verstummte, und die Räder schwiegen.

Da wandte sich Stephan.

Mitten auf der Landstraße hielt der Postwagen.

Christ Hogen jedoch stand kerzengerade auf dem Bock, das blanke Horn in der Rechten. Mit kräftigem Ruck setzte er es an, und dann ... in feierlichen Klängen, wie lange, glitzernde Bänder zog das köstliche ›Das ist der Tag des Herrn‹ über die Gegend. Glockenklar und spiegelrein reihte sich Note an Note. Die silbernen Bänder kreisten höher und höher, verschlangen sich zu lieblichen Figuren, entwirrten sich wieder, um in heiligen Klängen niederzuschweben.

Die Blumen in den Gärten hörten es, die Bäume, die der Landstraße folgten, rauschten es weiter. Die Fernen gaben es wieder. Vor den Haustüren standen die Menschen und horchten.

Die erste Strophe verhallte. Die zweite setzte ein.

Da kniete Stephan am Straßenrain nieder. Er legte den Hut neben sich und faltete die Hände. Die schmalen Lippen bewegten sich. Sein Blick richtete sich aufwärts und suchte ein blitzendes Sternchen. Mit glücklicher Stimme sprach er in das Klingen hinein:

»Anbetend knie' ich hier.
O süßes Grau'n! Geheimes Wehn!
Als knieten viele ungesehn
Und beteten mit mir.
Der Himmel nah und fern,
Er ist so klar und feierlich,
So ganz, als wollt' er öffnen sich.
Das ist der Tag des Herrn.«

Das Posthorn verhallte. Von den Häusern kam das Echo zurück. Die silbernen Bänder flatterten nieder und sanken wie müde Falter in die Gärten und Wiesen hinein, um hier zwischen Blumen und Gräsern zu sterben.

Die Leute traten zurück.

Stephan Pulcher erhob sich.

»Also das ist mein Einzug,« sagte er glücklich.

Noch lange, lange horchte er auf das Rollen der Räder und das dumpfe Trampeln der Pferde, dann wandte er sich und ging durch die einsamen Straßen.

Niemand erwartete ihn heute.

Er wollte kein Aufhebens machen.

So kam er unbemerkt bis zum Kirchplatz. Hier sahen ihn etliche kleine Mädchen, die noch Seilchen sprangen. Sofort hielten sie mit dem Spiel inne, traten schüchtern auf ihn zu und gaben ihm verlegen die Hand.

»Tag, Heerohme,« sagten sie leise.

Er schenkte jedem Heiligenbildchen, die er aus seiner Soutane hervornestelte, legte jedem einzelnen die Hand auf den Scheitel und meinte: »Lasset die Kleinen zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich. Grüßet Vater und Mutter von mir und werdet brave und fromme Menschen.«

Verklärten Auges sahen die Kinder ihm nach.

»Er sieht aus wie der heilige Aloysius.« flüsterte das älteste Mädchen, »so schön ist er.«

»Und er kommt direkt aus dem Himmel,« gab ein zweites zurück, »denn alle Heerohmes kommen direkt aus dem Himmel.«

»Wer sagt das?« fragte ein drittes.

»Der Herr Vikar,« versicherte die älteste, »denn alle sind die Stellvertreter Gottes auf Erden. Das hat er in der Christenlehre gesagt.«

»Ja, dann ...!« meinten die anderen.

Hierauf nahmen sie wieder ihr Spiel auf.

Der Stellvertreter Gottes aber schritt über den Kirchplatz. An dem langgestreckten Hause mit den indigoblauen Läden blieb er stehen.

Das Fenster unmittelbar links der Türe war erleuchtet.

Er hörte das Wuchten der Lade und das monotone Schlurren des Webschiffchens.

Die Weise eines frommen Liedes tönte dazwischen.

Er tat einen langen und tiefen Atemzug, und hochgemut und seinen Heiland im Herzen trat er über die Schwelle des Vaters.


 << zurück weiter >>