Elisabeth Langgässer
Der Torso
Elisabeth Langgässer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das gibt es

Dreimal ist mir diese Geschichte, jedesmal anders, zu Ohren gekommen, denn jedesmal war es ein anderer Mensch, der mir diese Geschichte erzählt hat. Nur ihr Inhalt war immer genau der gleiche; das heißt, die Beobachtung, welche darin von jedem der drei gemacht worden war, stimmte mit dem Bericht der zwei andern fast wörtlich überein.

Wie man aus meiner Präambel bereits gemerkt haben wird, handelt es sich ganz einfach um ein Naturphänomen. Mancher wird sagen: das gibt's nicht. Zum Beispiel die Menthe, welche erst ja und hinterher nein dazu sagte, weil ihr das Jasagen bei dem Herrn Kurt, dem schönen Napolalehrer, am Ende doch nichts genutzt hat. Die Wanda hingegen, die scharfe Polin, kann man heute nicht mehr befragen, weil sie längst nicht mehr bei dem dicken Meurich Gläser ausspülen muß; und weil auch der dicke Herr Meurich bei dem Einmarsch der Russen abgerückt ist, ist auch da nichts mehr auszuholen. Bleibt noch die Stallschwester Emerentia, die ihre Schüssel mit Kükenfutter im Stehen direkt auf den Bauch setzen konnte: so weit stand der Bauch heraus. Die Emerentia natürlich sagt heute immer noch ja, und die hat wohl auch Grund dazu.

Gut, hier ist der Bericht. Natürlich fehlt mir, um ganz genau und zuverlässig zu sein, die astronomische Zeit. Ich weiß sie nur annähernd – würde ich sagen: es war am letzten Augusttag des Jahres 44 um 18.35, wäre keinem damit gedient. Der letzte Augusttag stimmt schon und auch das Jahr 44, aber 18.35 hab' ich nur so im Gefühl. In diesem Augenblick also, sagen wir 18.35, drehte die Sonne sich dreimal um sich selbst. Ihre Scheibe, welche schon ziemlich niedrig über der Ebene hing, verlor mit einem Mal ihren Glanz; sie sah etwa so aus wie unter dem Rauchglas bei Sonnenfinsternis. Dann, während ihr Farbton sich änderte und in Dunkelrot überging, warf sie sich wie ein Wagenrad dreimal um ihre eigene Achse und stand gleich darauf wieder still.

Der Ort der Beobachtung war Neuzelle, ein Dorf in der 86 Niederlausitz. ›Dorf‹ darf man eigentlich nicht dazu sagen, Kleinstadt schon eher; na, kurz und gut: es handelte sich bei diesem Neuzelle um ein prachtvolles Zisterzienserkloster, um die schönste Barockkirche weit und breit, die hoch auf einem geschwungenen Hügel über das Dorf hinwegsah, um einen kleinen künstlichen Fischteich am Fuß dieses Hügelchens, ein großes katholisches Waisenhaus, dem Hügelchen gegenüber, und schließlich und endlich um ein paar Häuser und Gärten und ein Gasthaus, das dem dicken Herrn Meurich samt einigen Äckern gehörte, samt der Fischpacht und drei, vier Polenmädchen – na, und das war ja genug. Die Kirche tut eigentlich nichts zur Sache, aber es wäre mir leid gewesen, sie gar nicht zu erwähnen – so unerhört schön ist sie. Vielleicht stellt man sich alles jetzt richtig vor und geht nicht bei der Beschreibung des Ortes von den Häusern, den Gärten und Äckern aus, sondern – wie das natürlich ist – zuerst von der Napola. Die Napola war das Ein und Alles. Wenn ihre schwarzen, kleinen Kadetten, was gibst du, was hast du, ins Dorf hineinkamen, merkte man gleich, wem das Dorf gehörte und überhaupt die Welt. Noch viel deutlicher merkte man es bei den Lehrern, und am deutlichsten bei dem schönen Kurtchen, mit dem die Menthe ging.

Sie ging mit ihm um den Fischteich herum, die Sache war am Tag vorher passiert, und er erzählte ihr; jedesmal, wenn sie, den Teich umrundend, an der Franzosenbaracke in der Nähe vorüberkamen, pfiffen die Burschen auf einem Grashalm und fingen zu zwitschern an. Na, bitte, das läßt mich vollkommen kalt, dachte die Menthe – nur immer ruhig atmen und schön die Brust heraus. Indessen erzählte der Kurti weiter und schnippte mit der Peitsche; er war etwas abgelenkt durch die Franzosen und das Froschkonzert aus dem Fischteich, aber, nichts dagegen zu sagen: der Kurti erzählte gut. Die Menthe hörte ihm andächtig zu, denn das Zuhören ohne den Mund aufzumachen, war ihre Spezialität. Daneben auch das Maschinenschreiben und Stenographieren: sie war Sekretärin bei ›Kraft durch Freude‹ im Rahmen der Arbeitsfront. Natürlich wußte der Kurti genau, warum sie hier ihren Urlaub verbrachte und nicht etwa in Berlin, und diese Vorstellung, selbstverständlich, lenkte ihn ebenfalls 87 ab – aber nicht unangenehm. Er fand sie sympathisch, so richtig bettreif, ein bißchen angefault, aber dafür auch wirklich mütterlich. Als sie zum drittenmal an den Franzosen vorbeigekommen waren, war seine Geschichte zu Ende. »Und nun bitte ich Sie: ist so etwas möglich? Gegen alle Vernunft? [Die Menthe dachte: was will er hören?] Ich bin kein Kopernikus, Fräulein Menthe, Ich bin nur ein Gefolgsmann des Führers und frage mich deshalb in erster Linie: was würde der Führer dazu sagen? Und wenn es wirklich so war, Fräulein Menthe – hat das der Führer vielleicht gewollt? War es am Ende ein neuer Versuch mit der Vergeltungswaffe? Oder das Zeichen, daß bald unser Führer vergottet werden wird? Mit einem Wort: bin ich verrückt geworden, oder gibt es so etwas, ja oder nein?« fragte Herr Kurti brutal.

» Ja!« sagte die Menthe, süß erschrocken wie vor dem Traualtar . . .

»Komm her zu mir, Wanda. Ich tu' dir doch nichts. Hab' ich dir jemals schon etwas getan? Bin ich nicht immer gut gewesen – wem soll ich denn schon an die Beine greifen, wenn der Sommer so heiß ist, und wenn meine Frau jedesmal zu mir sagt: ›Geh doch fort, du riechst schon wieder nach Schnaps?‹ Aber ich bin ja gar nicht betrunken, auch gestern war ich gar nicht betrunken«, sagte der dicke Meurich und fing an zu erzählen.

[Was hat er denn heute bloß, dieser Hornochs? dachte die scharfe Polin, welche neben ihm auf der Futterkiste in Meurichs Scheune saß, zog ihre Schürze straff um die Knie und preßte den Mund zusammen. Warum ist er heute so sanft?]

»Aber so sprich doch, Wandachen, sprich doch!« sagte der dicke Meurich zuletzt mit angsterstickter Stimme. »So sage doch ein Wort! Glaubst du daran? Und wenn du dran glaubst: was hat es zu bedeuten? Dreht sich das Blättchen? Ist alles verloren? Meine Äcker, mein Haus – und der Krieg? Kommen die Russen bald, Gott im Himmel? und kommen sie bis hierher?«

Was ihm die Wanda geantwortet hat, ist heut nicht mehr zu erfahren; sie wird, wie immer, wenn er sie quälte, einen kurzen, eiskalten Blitz aus den Augenwinkeln geschossen haben, weiter nichts als nur diesen Blitz . . . 88

»Ihr Polinnen glaubt ja alle daran«, sagte Herr Meurich endlich. »Da braucht man nicht erst zu fragen. Ihr und die Nonnen seid gar nicht so dumm, wie die Napolaleute uns weismachen wollen. Nein. Gar nicht, gar nicht so dumm –.«

[Übrigens soll er von dieser Zeit ab die Wanda nicht mehr geschlagen haben; sie hat es mir selbst erzählt.]

Daß die Nonnen nicht dumm sind, ist eine Behauptung; und daß sie es sind, eine andere – beide sind gleich viel wert. Es gibt kluge und dumme wie überall. Die Oberin Antoinetta gehörte zu den Klugen, das hat noch niemals jemand bestritten, auch die Stallschwester Emerentia nicht, welche die Zweitklügste war. Die Stallschwester Emerentia trug gerade die Schüssel mit Kükenfutter hinunter auf den Hof; das Federzeug, welches sie kommen sah, schnatterte aufgeregt, sie machte bscht, bscht . . . und die Oberin, die von der Lourdesmadonna im vorderen Teil des Gartens zu den Stallgebäuden herüberging, machte ebenfalls bscht, bscht, bscht. Man kann sich vorstellen, daß die Schwester nicht gerade davon erbaut war, doch weil sie an Gehorsam gewöhnt war, stützte sie ihre Schüssel auf und fragte: »Frau Oberin?«

Nun lief das Ganze zum drittenmal ab: daß die Sonne in diesem Augenblick sich dreimal drehte, den Glanz verlor und so aussah wie unter Rauchglas bei Sonnenfinsternis; daß ihr Farbton sich änderte, dunkelrot wurde, und daß sie sich wie ein Wagenrad um die eigene Achse warf – dreimal um ihre eigene Achse, um gleich darauf still zu stehen. Die Stallschwester hörte geduldig zu und dachte, während sie ihre Küken mit der Schuhspitze zärtlich beiseite schob: jetzt sieht unsre Mutter genau wieder aus wie die alte Frau auf dem komischen Bild in unserem Refektorium – das war eine Holbeinreproduktion, die Frau war ein Mann, doch die Emerentia hatte trotzdem vollkommen recht.

»So etwas gibt es«, sagte sie endlich. »Das hört man jetzt allenthalben. Manche wollen auch in der Scheibe die Muttergottes gesehen haben, aber, bscht, bscht, bscht, das glaube ich nicht; ich halte es mit der Madonna von Fatima, wenn die Frau Mutter erlaubt, zu 89 der ihr Sohn gesagt haben soll: bitte mich jetzt nicht länger, denn jetzt kommt das Gericht.«

Was die Oberin darauf geantwortet hat, kann ich natürlich nicht wissen, denn so weit geht leider meine Vertrautheit mit Emerentia nicht; aber ich ahne es. Damals nämlich, als mir die Schwester diese Geschichte beim Viehfüttern wiedererzählte, sagte sie mit einem Blick auf die Küken: »Die kriege ich noch groß.« Dann schüttelte sie den Kopf und sagte – nein, eigentlich fragte sie es wie ein Mensch, der Tag und Nacht über was ganz Bestimmtes nachzudenken gezwungen ist –: »Jerusalem, ach Jerusalem . . .« Wer die Bibel ein bißchen genauer kennt, weiß, wie das weiter geht.

Sie hat sie wirklich noch groß gezogen, die nächsten und übernächsten auch, denn als die Russen kamen, blieb die Stallschwester bei dem Vieh. Manchmal möchte ich ganz gerne wissen, was aus allen geworden ist: aus dem Kurti, der Menthe, der Wanda und dem dicken Meurich, der kurz vor dem Ende mit seinem Kuhwagen, seiner Frau und einigen Säcken voll Mehl und Erbsen nach Bayern gemacht sein soll. Nur eines weiß ich nicht: war das nun wirklich das Ende, was die Sonne damals angezeigt hat – oder warten wir noch darauf? 90

 


 << zurück weiter >>