Elisabeth Langgässer
Der Torso
Elisabeth Langgässer

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Der Erstkommuniontag

Es fing damit an, daß das Kind an der Haustür noch einmal umkehren mußte, um den wärmeren Mantel zu holen, der Himmel war grau, die Luft voller Schnee, aber die Wolken hingen sehr hoch, und der Wind, der inzwischen aufkam, würde sie möglicherweise rasch auseinandertreiben.

»Du mußt dich nicht kränken«, sagte die Mutter, als sie den alten, vertragenen Mantel mit dem abgeschabten Kaninchenpelz von dem Haken herunternahm. »Erstkommunionkinder haben immer schlechtes Wetter an ihrem Tag. Das war auch schon bei mir ganz genau so, als ich noch klein war wie du.« Sie seufzte ein wenig und dachte: »gar nichts war so. Natürlich das Wetter. Aber sonst –.« Das Kind schien nicht hinzuhören, die Mutter sagte rasch und ermunternd: »Ein Glück, daß ich dir das Schottenkleidchen mit den langen Ärmeln gegeben habe; das weiße hast du dann nachmittags zum Kaffeetrinken an.«

»Ja – wenn wir die Torte essen«, erwiderte das Kind. »Meine Torte.«

»Denke an alles«, ermahnte die Mutter noch einmal. »Du weißt doch –«

»Ich weiß: an die Eltern«, wiederholte das Kind gehorsam. »An Onkel Erich in Kanada und meine tote Oma; daß Vati nicht mehr zum Volkssturm muß, und daß die Russen bald hier sind –«

»Um Gotteswillen, bist du verrückt?« rief die Mutter ärgerlich aus. Sie nahm das Kind an der Hand und ging mit ihm aus der Tür. »Wie kommst du darauf? Wenn dich einer gehört hat«, sagte sie ganz verwirrt. Aber eigentlich war sie nicht böse darüber. Angela fühlte es ganz genau und sagte mit einem verschmitzten Lächeln: »Ich denke es doch bloß. Ich sage es nur in meinem Herzen, wenn ich den Heiland empfangen habe . . .« Dieser Satz kam ganz nüchtern und kindlich an der Gefühlsgrenze ihrer sieben mageren Mädchenjahre heraus und überschritt diese Grenze mit keinem einzigen Wort. 39

»Vergiß nicht, gleich nach der Kommunion das Gesicht in die Hände zu legen«, fing die Mutter von neuem an. »Wir mußten viel mehr behalten als du, wir haben tagelang eingeübt, wie man hin- und zurückgeht, mit Kerzen und ohne, rechtsum und linksum, wer da nicht achtgab, brachte die Reihe durcheinander und störte die Feierlichkeit.«

»Und bekam keine Torte zu essen?« fragte das Kind gespannt.

»Doch«, sagte die Mutter, leicht gereizt. »Aber wir haben an diesem Tag wirklich an andere Dinge als an die Torte gedacht.«

»Hattet ihr auch eine Gittertorte?«

»Angela«, sagte die Mutter gequält, »nun halte aber den Mund.«

»Also gut. Ich denke an alles und lege auch das Gesicht in die Hände, wenn ich wieder an meinem Platz bin«, sagte die Kleine ernst. »Sitzt mein Kränzchen gerade?«

Natürlich vergaß sie hinterher doch, das Gesicht in die Hände zu legen. Sie war zu glücklich – ein Herz voller Glück, ein Mund voller Süßigkeit. Der reine, zarte Geschmack der Hostie, die sich auf ihre rosige Zunge wie auf ein Magnolienblatt legte . . . das Gefühl der Bedeutung des Augenblicks und ein plötzlich erwachtes Bewußtsein ihrer gesteigerten Größe . . . ließ das Kind alles andre vergessen . . . Dazu kam, daß jetzt wirklich die Sonne durchdrang und den golden flimmernden Grund der Apsis mit der großen Flügeltaube erzittern und plötzlich aufbrennen ließ. An der Abendmahlbank war ein Kommen und Gehen von älteren Männern und Frauen, Schulkindern und Soldaten – obwohl es ein gewöhnlicher Werktag mit stiller Messe war, drängten die Menschen in immer größerer Anzahl hinzu und flüchteten aus der Nähe des Todes in den Schutz des Lebendigen.

Man hatte Angela angestarrt und dann verständnisvoll ihren Kranz und die geschmückte Kerze betrachtet, die in dem Halter vor ihrem Platz stand: »Siehst du«, flüsterte eine Frau und neigte sich zu dem Feldwebel hin, der mit starrem Ausdruck neben ihr kniete, »das ist eins von den Kindern, welche noch rasch, bevor wir alle verloren sind, zur Kommunion geführt werden.« Der Mann zuckte unwillig mit den Schultern und wollte nichts davon hören; die Frau dachte 40 trotzig: »nun, etwa nicht? wer weiß, ob wir alle den nächsten Tag oder die Nacht erleben!«

Nach der Messe wäre das Kind am liebsten gleich wieder nach Hause gegangen, aber dann kam noch der alte Pfarrer und gratulierte ihm. »Bleibe immer so brav wie heute«, sagte er väterlich. »Und sei heut so vergnügt, wie du kannst.« Angela lachte ganz unvermittelt, obwohl man noch in der Kirche war, der Pfarrer bückte sich tief herunter und fragte geheimnistuerisch: »Hat die Mutter auch Kuchen gebacken?«

»Eine Gittertorte«, sagte das Kind und wurde rot vor Glück.

Die Gittertorte wurde erst später, als die wenigen Gäste am Nachmittag kamen, feierlich aufgeschnitten; das erste Stück bekam Angela, dann wurde sie Tante Renate, die immerfort weinte, angeboten; zuletzt nahm die Mutter davon.

»Freust du dich?« hörte das Kind immer wieder; doch weil die Erwachsenen dabei seufzten, obwohl sie den Mund zum Lächeln verzogen, dachte die Kleine, es wäre vielleicht nicht recht, sich zu freuen, oder man zeigte es besser nicht, und gab keine Antwort mehr.

»Hörst du nicht, Angela? Ob du dich freust?«

»Doch.«

»Sehr?«

»O, ja.«

»Und worüber am meisten?«

»Über – alles«, sagte sie diplomatisch und fügte dann in dem Bewußtsein, sich höflich zeigen zu müssen, hinzu: »Darüber, daß heut kein Alarm ist.«

»Sie hat recht. Heut war wirklich noch kein Alarm. Hast du darum gebetet?«

»Nein.«

»Dann kann er also noch kommen.«

»Nein.«

»Natürlich kann er.«

»Er kommt nicht.«

»Und wenn er doch kommt?«

»Dann ist es nicht schlimm. Dann beschützt uns der liebe Gott.« 41

»Iß doch«, sagte die Mutter nervös. »Oder schmeckt dir die Torte nicht? Ich habe sie nämlich mit Lebertran gebacken,« erläuterte sie verlegen. »Aber man merkt es kaum.«

Sofort waren alle Erwachsenen wieder ganz unter sich, das Kind nahm sein Tellerchen, trug es sorgsam zu dem niedrigen Rauchtisch herüber und schob einen Hocker an.

»Mit Lebertran? Nein, wahrhaftig –«

[Aber es kommt kein Alarm. Wenigstens nicht, bis die Torte gegessen ist, dachte das Kind. Nun streckte es vorsichtig einen Finger aus, tunkte ihn in den Belag aus roter Kirschmarmelade und leckte die Spitze ab.]

»Man muß den Tran nur ausglühen lassen –«

[Nein. Sie merkten es wirklich nicht.]

»Willst du noch ein Stück Torte?«

»Ja.«

»Bitte, heißt das.«

[Wieso denn: bitte? Die Torte gehörte ihr doch.]

»Bitte.«

»Siehst du! Und wenn du noch eines willst –?«

»Nein, es soll etwas übrig bleiben.«

Alle Besucher lachten, es wurden Likörgläschen hingestellt: »von der Weihnachtszuteilung, wie?« Das Gespräch wurde lebhaft, und Angela hörte die Mutter sagen: »Am Abend gab es dann kalten Braten, Kartoffelsalat mit Mayonnaise und Bier oder noch einmal Wein. Tante Klara war so entsetzlich betrunken, daß sie anfing, Schlager zu singen – ich lag natürlich schon lang im Bett und hörte es durch die Wand. Meine Großmutter war ganz krank vor Ärger, und ich« . . . ihre Stimme schwankte . . . »weinte mich in den Schlaf.«

»Ja«, sagte Tante Renate hierauf. »Wir waren als Kinder sehr einsam. Heute weiß man das – Freund und Jung – nun war es schon einerlei, ob sie alle botokudisch oder chinesisch sprachen, die Kleine verstand nichts mehr.

Kurze Zeit darauf ging das Telephon, die Mutter kam von dem Apparat mit verklärtem Gesicht zurück, jetzt war sie nicht älter als Angela, und Angela schämte sich, daß Tante Martha und Tante 42 Renate merkten, wie klein die Mutter noch war. »Er hat den Luftschutzdienst abgeschoben, gleich wird er bei uns sein«, sagte sie – und zu dem Kind gewendet: »Freust du dich? Vati kommt her und ist da, wenn Alarm sein sollte.«

»Aber es kommt kein Alarm«, sagte Angela eigensinnig. –

Natürlich gab es trotzdem Alarm, genau um die Stunde wie immer; nur, daß sich die Flugzeuge diesmal rascher als sonst zu nähern schienen, der erste Bombenabwurf sehr nahe, der nächste noch näher zu hören war, und der dritte schon von der Kellerdecke den Kalk herunterfegte. Der Vater hatte das Kind auf dem Schoß und sah zu der Mutter herüber, beide schienen das Gleiche zu denken, plötzlich glaubte das Kind zu verstehen und sagte vorwurfsvoll: »Meine Torte! Ihr habt die Torte vergessen. Wenn jetzt eine Bombe darauffällt –«

Wieder hatte die Mutter denselben gequälten Ton in der Stimme wie heute morgen und sagte genau so: »Nun halte aber den Mund.«

»Laß sie doch«, sagte der Vater mit ausgetrockneter Kehle. »Ihr kann heute nichts mehr passieren.«

»Nein. Heut ist mein Erstkommuniontag«, sagte das Kind erfreut. Seine Worte gingen in einem Einschlag von ungewöhnlicher Härte unter, der Boden bebte, die Balken knirschten, die ganze Luft war voll Staub. Vater und Mutter legten jetzt beide einen Arm um die Schultern des Kindes. »Mein Engel«, sagte die Mutter leise mit flehentlichem Ausdruck; als Antwort nahm Angela ihre Hand [die andere, welche schlaff in dem Schoß lag] und schloß das eigene Pfötchen darüber; der Vater griff hinter sich nach dem Mundtuch und band es Angela vor das Gesicht: »tief atmen . . . sei ruhig . . .« [Was meinte er nur? Sie redete doch nicht.] Schlag, Schlag um Schlag. Nun begannen sie, den 90. Psalm zu beten. Angela kannte ihn und sprach mit, die Flugzeuge schienen das ganze Haus mit ihrem Gebrumm zu bedecken . . .

[Fittichen . . . Fittichen schirmt er dich . . . und unter seinen Flügeln . . . nicht brauchst du dich zu fürchten vor dem Graun der Nacht . . . dir wird kein Unheil widerfahren, noch eine Plage deinem Zelte nahen . . . so wirst du über Nattern schreiten . . . 43 Schlangen . . . wirst Löwen . . . Drachen . . . rette ihn . . . beschirme ihn . . . weil er mich kennt. Ich will ihn sättigen mit langem Leben . . .]

»Das nimmt kein Ende.«

»Doch. Hörst du nicht, daß die Flugzeuge sich entfernen? Dieser Einschlag war weiter fort«, sagte der Vater laut.

Noch ehe entwarnt wurde, hörten sie Stimmen am Eingang der Kellertreppe. »Lebt ihr da unten noch? Seid ihr noch da? Das obere Stockwerk ist eingestürzt; wir helfen euch heraus. Zuerst die Kleine. Komm, Angela, fasse mich um den Hals! Hast du Angst gehabt?«

»Nein.«

»Gib acht, hier liegt Glas. Der Küchenanbau ist ganz geblieben, hier ist es hell wie am Tag.«

Der Nachbar setzte die Kleine ab und wandte sich wieder um. Das Licht des höher steigenden Mondes vermischte sich mit dem fahlroten Glanz riesiger Feuersbrünste und erfüllte den ganzen Raum.

»Die Torte –. Da steht sie noch«, sagte das Kind. »Man braucht nur den Staub abzublasen –.« 44

 


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