Elisabeth Langgässer
Der Torso
Elisabeth Langgässer

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Ballade vom Menschen dieser Zeit

        Und als überm Bunker der Reichskanzlei
Das Gewölbe die Last nicht mehr trug:
Die Last der Erkenntnis, daß alles vorbei,
Daß das Ende gekommen war – einerlei,
Ob noch dicken sich würde der blutige Brei –
Da erscholl eine Stimme: Genug!

Sie erscholl durch den Himmel, dort klang sie sehr laut,
In der Hölle tönte sie nach.
Die alten Juden, die Gott noch geschaut
Und den Goliath erschlagen, den Tempel gebaut,
Die liefen herbei mit Kebse und Braut
Und den Namen auf »weh« und auf »ach«.

In dem Bunker verbrannte ein Haufen Werg
– Ihre Nase war wieder gut! –
Dreck, Unrat und Magog und Magogs Zwerg
Vergaste, verbrannte und stank, o merk!
Sie aber kamen wie einst von dem Berg,
Und ihr Blut war auch Christi Blut.

Mit den Tafeln im Arm kam der alte Mann,
Mit den Tafeln und einem Gesicht,
Das in Dachau zertrümmert war. Schweißte und rann
Noch immer von Tränen, und dann und wann
Wischte er drüber. Ach Gott, man kann
So was nennen ein menschliches nicht.

Und er hatte ein Holzbein und humpelte sehr,
Und er trug einen Stock in der Hand.
Seine Galle war voll, seine Lende war leer.
Als Achilles ihn schleifte, war immer noch mehr
An dem Hektor von Schönheit und Mann und Gewehr,
Als man hier an dem Humpelnden fand. 8

Eine Drehorgel zog er zur Reichskanzlei,
Und er deutete mit dem Stab
Auf des Dekalogs leisen und dringenden Schrei
Und der Menschenart ewiges Alleinerlei,
Und sein Stock war so schwer, und sein Herz war wie Blei,
Ob es jemals ein schwereres gab?

An dem Bunker standen vier Männer auch,
Und der Vierte war Stadtkommandeur.
»What's the matter?« hieß es nach Fug und Brauch
Bei zweien. Der Dritte sah in den Rauch,
Und: »qu'est-ce que c'est que ça?« ging ihm vom Munde ein Hauch
Doch der Vierte sprach gar nichts mehr.

Denn was sollt' er auch sagen, ich frage euch still,
Da die Tatsachen hatten das Wort?
Und was nutzt Einem, der es nicht wissen will,
Daß doch Hektor im Unrecht war, und nicht Achill,
Wenn die Ratte die Wahrheit auch pfeift auf dem Müll,
Und der Ritzenwind auf dem Abort?

Und die Drehorgel jammert und jammert so nah . . .
Ihrem Sohn eine Hand auf das Knie
Legt die gute Madonna von Fatima.
Doch er sieht sie nur an, wie noch niemals er sah,
Seit die Söldner ihn höhnten auf Golgatha:
»Laß dein Bitten. Jetzt richte ich sie!« 9

 


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