Elisabeth Langgässer
Der Torso
Elisabeth Langgässer

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Im Einklang

Da war es also. Da war es wieder, Herr Doktor. Ich hatte es eigentlich schon erwartet, seit die Schafherde vor ein paar Tagen unter dem Fenster vorbeiging . . . obwohl doch so etwas an dem Stadtrand nichts Außergewöhnliches ist. Trotzdem. Ich sage mir, dieses Getrappel hat es vorherverkündigt. Dieses Getrappel, der Staub und die Wolle; vor allem aber dieses Getrappel von ungezählten Hufen unter dünnen zerbrechlichen Beinen. Das war die erste Schafherde wieder nach hundertfünfzig Jahren, die ich gesehen habe. Verrückt. Hundertfünfzig? Warum nicht gleich tausend? Warum nicht seit meiner Hinrichtung damals in dem Zuchthaus in Rockenberg? Verrückt. Vollkommen verrückt, nicht wahr? Aber man muß sich doch orientieren, man muß doch eine Markierung machen, einen Einschnitt: vorher und nachher, und so. Wer findet sich sonst noch heraus? Diese Hinrichtung [soll ich nicht Hinrichtung sagen? na, einerlei, ich sage mal so] war im Jahr 22; vielmehr, die Ahnung von ihr. Verzeihung, Sie werden es mir nicht glauben. Aber damals fühlte ich schon ganz deutlich, daß ich später einmal geköpft werden würde, vielmehr: mit dem Fallbeil hingerichtet, um es genauer zu sagen. Natürlich bin ich dem Leibe nach nicht hingerichtet worden. Wie säße ich sonst hier? Aber was weiß man, was ahnt so ein Kind im dicken Oberhessen, so eine verhungerte Junglehrerin [›Schulverwalterin‹, sagte man damals] mit siebenundachtzig Kindern, warum sie vor einer Hinrichtung Angst hat? Es war ja lächerlich, war ja verrückt – der Weltkrieg war eben vorbei. Und so schön, so gut und so schön wie damals, kann es kein Mensch heute haben. Ein Zimmer im Gasthaus unter dem Dach; der Blick ging auf den Gemüsegarten, jetzt fällt es mir wieder ein. Der Geruch von Bohnenkraut, Dill, Petersilie machte allein schon das Zimmer bezahlt – und daß man sich satt essen konnte. An das Sattessen darf ich heut gar nicht mehr denken; wahrscheinlich glaubten die Bauern alle, sie müßten mich erst einmal dicker machen, damit ich Kraft hätte, Kraft und Schwung, den Rohrstock zu regieren. 82

Woher also meine Vorahnung kam, daß ich später einmal geköpft werden würde, kann ich mir heut nicht erklären. Vielleicht von den Nerven, lieber Herr Doktor? Oder weil man, wie meine Mutter meinte, nichts zuzusetzen hatte? Na, kurzum: ich hatte Angst. Ich schlief ein mit Angst, und ganz naß vor Angst wachte ich wieder auf. Ich war eben unterernährt. Allmählich – kein Wunder bei dieser Kost – nahm ich natürlich zu. Ich wurde ruhiger, der Sommer war heiß, und das Bier war schön kalt; jeden Sonnabend rollten die Kegelkugeln wie ein dicker, gemütlicher Donner über die Kegelbahn.

Merkwürdig, daß mir das heute einfällt. Aber eigentlich auch wieder nicht. Denn die Schafherde vor ein paar Tagen sagte mir schon, bevor ich es wußte: endlich ist alles gut und vorbei. Vollkommen gut und vorbei.

Da ist es also. Da ist es wieder, was ich früher ›im Einklang‹ nannte. Soll ich grübeln, was das eigentlich ist? Was diese Atemzüge bedeuten, diese tiefen, beruhigenden Atemzüge in einem leeren Zimmer, einer verlassenen kleinen Wohnung in der niemand ist außer mir? Denn ›leer und verlassen‹ muß ich wohl sagen, seit ich weiß, daß mein Mann nicht mehr heimkommen wird, mein Bub nicht und meine Mutter nicht – also niemand, der jetzt noch mein Leben teilen und mein Zimmer bewohnen könnte. Trotzdem habe ich keine Angst mehr, weil ich wieder im Einklang bin. Mit wem im Einklang? Das war es eben, was ich gern wissen wollte, Herr Doktor – und bis gestern in meiner Küche das Kaffeewasser kochte, hatte ich ja noch Zeit genug, darüber nachzudenken. Ich darf nur nicht aufhören, weiter zu atmen, sagte ich mir. Auf keinen Fall. Sobald ich aufhöre, hört auch das Atmen des Alten Mannes auf. Einbildung, hätte Karl Heinz gesagt. Daran merkst du ja, daß du dich selber hörst. Aber das ist nicht wahr. Es ist etwas Zweites. Ein zweiter Atem, der Atem eines uralten Mannes, der den ganzen Raum und die ganze Wohnung und noch dazu meine ganze Brust und mein ganzes Leben erfüllt.

Zum ersten Mal, und dann immer wieder, habe ich dieses Geräusch mitten im Sommer gehört: in der Mittagsstunde, wenn alles schläft 83 und die Sonne nicht weitergeht. Komisch: ich wartete schon darauf, wie ich gestern, während das Wasser kochte, darauf gewartet habe. Ich saß gerade vor einem Stoß Hefte, in meinem Zimmer wellte die Hitze, die Balken knackten vor Glut. Es war vollkommen still. So ruhig und so still kann nämlich nichts auf der Welt sein wie ein Zimmer, worin der Alte Mann [so nannte ich ihn damals] mit mir zusammenatmet; so still wie eben im Augenblick, wo ich es wiederhöre und weiß: daß ich endlich im Einklang bin – ganz einfach im Einklang, sonst nichts.

Von da ab hatte ich keine Angst mehr. Ich brachte es sogar fertig, mir die Nacht vor der Hinrichtung vorzustellen, und hatte keine Angst. Ich wurde rund, ich wurde fast hübsch, trotz meiner Nickelbrille, so daß Karl Heinz, welcher bald darauf in unser Dorf kam, sich in der Wahl zwischen mir und dem Sannchen Vogel [was die Wirtstochter aus dem Goldenen Pflug war] für seine Kollegin entschied. Auch er war Schulverwalter wie ich; nach der Heirat gab ich den Schuldienst auf, wir wurden versetzt, und das nächste Dorf war schon bedeutend größer und lag an der Eisenbahn . . . dort kam unser Rudi zur Welt. Mein Mann war etwas Besonderes, das kann ich heute sagen. Er war Sozialist, das will noch nichts heißen. Er war Schulreformer. Das ist schon mehr. Jede neue Methode haben wir zusammen durchgesprochen und praktisch ausprobiert. Von 23 bis 33 waren die besten Jahre. Aber dann fing das Lügen an. Der Schulrat fiel um und fast alle Kollegen; sie drehten ihr Mäntelchen nach dem Wind und behaupteten, was das Parteiprogramm wollte, hätten sie immer gemeint. Vor allem natürlich den Sozialismus. Aber mein Mann sagte nein. Er war ein Idealist, Herr Doktor, die Folgen sind ja klar. Zuerst Entlassung ohne Pension, er wurde bespitzelt, es war nicht schwer, ihm das Weitergeben verbotener Bücher und einen Briefwechsel nachzuweisen, der zum Verderben wurde. Das kam, wie es mußte: Zuchthaus, KZ., hernach ein Prozeß wegen Hochverrat, Pazifismus und Feindpropaganda – nun war alles schon einerlei. In diesen Jahren lernte ich lügen. Es war eine schwere Arbeit, Herr Doktor, aber endlich war ich so weit. Ich log für den Rudi und für meinen Mann, ich log der Gestapo ins Gesicht 84 und log, wenn ich meinen gefangenen Mann hinter dem Gitter besuchte: zwei Wachmänner rechts und links. Wir hatten, ohne daß einer von uns sich mit dem andern verabredet hätte, eine Geheimsprache: jedes Wort bedeutete gleichzeitig etwas Zweites – Seiltanzen oder Jonglieren mit fünfzehn, sechzehn Bällen auf einmal ist Kinderspiel dagegen. Natürlich machte ich heimlich weiter, was er begonnen hatte. Ich fand Leute, welche zu uns gehörten, verbreitete illegale Schriften und saß an der Druckpresse. Schließlich wurde auch ich geschnappt, weil einer nicht dicht halten konnte – das war kurz nach Stalingrad und in den Tagen, als unser Rudi fiel . . . Was soll ich Ihnen erklären, Herr Doktor? Ich muß weiterlügen: zuerst um die Sache, dann um den Mann, und als mein Mann hernach tot war, um meinen eigenen Hals. Wirklich kam ich auch bald nachher frei, ich glaube, fast aus Versehen – kein Mensch konnte sagen, weshalb.

Nach dem Umsturz hätte ich's gut haben können – aber da merkte ich eigentlich erst, daß ich nicht mehr im Einklang war. Jetzt fing meine Angst erst richtig an: ich hatte Angst beim Schlangestehen und Angst vor der Einsamkeit. Auf jeder Brücke hatte ich Angst und Angst auf den Treppenstufen, Angst vor dem Leben und Angst vor dem Tod . . . ja, zuletzt Angst vor der Angst. Vielleicht ist alles zuviel gewesen; nachträglich scheint es mir so. Wer sich meiner erbarmt hat, weiß ich nicht. Aber plötzlich: Kommen und Gehen und das Getrappel der Hufe, ein bißchen Staub auf der heißen Straße – plötzlich war alles vorbei. Da ahnte ich schon, daß ich bald etwas hören und bald etwas wiederfinden würde, was ich lange vergessen hatte . . . ich kann nicht erklären, warum.

Und nun frage ich Sie: wer ist dieser Mann, der mittags im Hochsommer mit mir atmet, wenn die Jalousien heruntergelassen und keine Stimmen zu hören sind; wenn die Leute schlafen, die Haustiere auch, und die Sonne im Zenith steht? Ist es das Leben? Ist es das Schicksal? Oder bin ich es selbst? 85

 


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