Elisabeth Langgässer
Der Torso
Elisabeth Langgässer

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Der Friede Gottes

Heute ist das ja schon wieder anders – auch in der Innenstadt. Der Schutt ist fortgeräumt, wenigstens dort, wo er über den Straßen lag. Schippkolonnen und Arbeitskommandos von zehn, zwölf Kopftuchfrauen klopfen die Backsteine sauber ab und schichten sie zu endlosen Reihen ordentlich aufeinander; Krane bewegen sich feierlich um ihre eigene Achse und befördern die Lasten weiter; die wassergefüllten Bombenkrater und abgesoffenen U-Bahn-Schächte sind ausgehoben worden. Natürlich bleibt die Zerstörung Zerstörung; doch die Zerstörung ist, Gott sei Dank, wieder organisiert. An den Mauern kleben rote Plakate, und auch in den allerverwüstetsten Straßen kommt aus den Lautsprechern, die an dem Drahtseil zwischen den Masten hängen, Marschmusik, Tanzmusik, Zirkusmusik, wenn man ahnungslos drunter durchgeht, und schüttet den Vorrat an Melodien wie eine Brause aus . . .

Auch das Ehepaar, welches vor einem Jahr, im Sommer 45, die Neue Friedrichstraße entlang lief, hätte heute wahrscheinlich keinen Grund mehr, so außer sich zu sein. »Geh nicht so rasch! Ich kann nicht mehr laufen«, sagte damals die Frau alle Augenblicke. »Bleib stehen . .! Geh weiter . .! Sieh nach der Nummer . .! Sieh nicht nach der Nummer . .! Was siehst du nach der Nummer . .? Hier ist ja doch alles zerstört.«

Der Mann ließ sie plappern und schleifte sie weiter, wie ein Kind seine Puppe über die Erde immerfort hinter sich herschleift – es blieb jetzt auch keine andere Wahl mehr, als weiter voran zu gehen. Die Straße war endlos. Sie war inzwischen natürlich nicht länger geworden als vorher, ich meine: vor der Zerstörung; aber weil sie keine Straße mehr war, ohne jedoch etwas anderes, zum Beispiel: ein Streifen Acker oder ein Feldweg, geworden zu sein, war sie so endlos; es gab keinen Punkt mehr, an welchem das Auge haften konnte, denn das Auge, um zu begreifen, muß zuerst wiedererkennen – doch da war nichts Bekanntes mehr. 60

»Diese Nummer existiert überhaupt nicht«, sagte der Mann endlich niedergeschlagen und wischte den Schweiß von der Stirn. »Und wenn sie auch wirklich existiert –«

»Gehört kein Haus mehr dazu«, sagte die Frau gedankenlos und fuhr fort: »Ich meine, kein Mensch.«

Der Mann bemerkte den Unsinn nicht, den sie geredet hatte; wahrscheinlich war er noch froh darüber, überhaupt eine Stimme zu hören. Sie stolperten weiter, jetzt kam eine Kirche, von der noch einige gotische Fenster und ein paar Schwibbögen standen, hernach ein paar klassizistische Wände und schließlich wieder ein Haus. »Da ist die Nummer, wahrhaftigen Gott!« sagte sie aufgeregt. Sie hatte recht: Es war wirklich die Nummer, und zu der Nummer gehörte ein Haus, und das Haus war stehengeblieben. Es war sogar bewohnt, keine Frage; vielmehr das oberste Stockwerk, eigentümlicherweise, konnte bewohnt sein. Es hatte zwei Fenster. Die Fenster waren zwar blind und verschmutzt, aber sie waren verglast. Das Ehepaar ging also durch die Haustür und stieg die Treppe hinauf.

»Hier wohnt doch niemand«, sagte die Frau.

»Abwarten«, sagte der Mann.

Von Stockwerk zu Stockwerk blieben sie stehen und sahen nach den Schildern, sie lasen die wenigen fremden Namen [denn das Haus war früher die Unterabteilung einer städtischen Bibliothek gewesen] und schüttelten den Kopf. Endlich, im obersten Stockwerk, fanden sie den gesuchten Namen auf einer Visitenkarte: Karl Ellmer; darüber ein Messingschild mit wieder einem Namen – aber der ging sie nichts an. Eine Weile starrte das Ehepaar hoffnungslos auf die Tür; dann streckte der Mann einen Finger aus und berührte den Klingelknopf. Der Klingelknopf zog sich zurück und sprang vor ohne den leisesten Laut.

»Na, klar –wo soll hier der Strom herkommen?« sagte die Frau überlegen; dann klopfte sie mit dem Fingerknöchel ein paarmal gegen die Tür. Es blieb still. Auch der Mann klopfte noch einmal, zuerst mit dem Knöchel, dann mit der Faust; die Türfüllung zitterte, feiner Kalkstaub rieselte über das Holz . . . 61

Endlich, ohne ein Wort zu sagen, stiegen sie wieder hinab. Sie gingen langsam; gewissermaßen, um dem Schicksal noch eine Chance zu geben – und blieben am zweiten Treppenabsatz vor dem offenen Flurfenster stehen. Von einem Mauerviereck umrahmt – die vierte Mauer war niedergebrochen [ich meine die Mauer dem Ehepaar am Fenster gegenüber] und ließ dahinter die Kirche sehen: ihre Schwibbögen und ihre Pfeiler – also, von diesem Viereck umrahmt, lag ein kleiner, bebauter Gemüsegarten mit Bohnen, Salatpflanzen, Küchenkräutern und einem Rosenbusch.

»Was meinst du: wollen wir auf ihn warten, auf diesen Herrn Ellmer?« fragte die Frau im Flüsterton; daß sie flüsterte, kam ihr wohl nicht zum Bewußtsein – auch nicht, daß der Mann den Arm um sie legte und keine Antwort gab. Wie lange sie so gestanden und, in Gedanken versunken, das Gärtchen betrachtet hatten, wußten sie nicht . . . wäre Sonne und Mond darüber hinweggegangen, sie hätten es nicht bemerkt. Unterdessen kam plötzlich von unten herauf ein Schritt und stieg langsam die Treppe empor; ein junger Mann, den Hut in der Hand, blieb vor dem Ehepaar stehen.

»Ellmer«, sagte er. »Tut mir leid, ich konnte nicht eher kommen. Sie wissen ja, wie das ist.« Er ging voran, schloß die Wohnungstür auf, sie traten in ein geräumiges Zimmer, ein Ohrensessel stand an dem Fenster; in dem Sessel saß, trotz der brütenden Hitze in eine Art Umhang gewickelt, ein alter Mann und schlief. »Mein Onkel«, erklärte der junge Ellmer. »Er hört nichts. Wir brauchen nicht leise zu sein. Ich glaube, er hat selbst von der Beschießung nicht einen Ton gehört.« Trotzdem dämpfte er seine Stimme, der Mann und Herr Ellmer gingen zusammen zu dem anderen Ende des Zimmers hinüber und besprachen im Stehen den Auftrag, den Ellmer ausführen sollte. »Na, geben Sie nur Ihren Brief her, ich fahre schon in drei Tagen wieder nach Hamburg zurück. Natürlich muß man sich verproviantieren, haben Sie etwas zu rauchen? Zehn Zigaretten genügen . . .«

Die beiden Männer murmelten leise, die Frau, von Ungeduld übermannt, lief in dem Raum hin und her. Sie ging zu dem Fenster, blickte hinunter und dachte: ob er wohl nur das Geld nimmt, die 62 Fettmarken und die Zigaretten und wirft den Brief schon unterwegs fort . . . vielleicht hinter Ludwigslust, wie? Die Straße lag immer noch vollkommen leer da, wie ausgebrannt von der Hitze; ganz von ferne hörte man jetzt ein großes Lastauto fahren; doch das Geräusch, durch das dünne Sieb der zerschossenen Häuser gefiltert, kam so von weit und so unwirklich her wie von einem anderen Stern . . . Die Männer sprachen noch immer zusammen, sie nahm ihre Wanderung wieder auf und blieb endlich dicht vor dem Alten stehen, der ungestört weiter schlief – fast sah es so aus, als ob dieser Schlaf bereits vor ewigen Zeiten begonnen worden wäre. Auf einem Tischchen zu Füssen des Alten lag ein aufgeschlagenes Buch. Die Frau, die etwas kurzsichtig war, bückte sich auf den Text herunter, und während der Lastwagen sich entfernte, und das dunkle Rollen des Motors in unendlicher Ferne verklang, las die Frau in dem Brief an die Philipper aus dem 4. Kapitel den 7. Vers: »Der Friede Gottes, der über die Maßen jedes Begreifen weit übersteigt, wird euer Herz und eure Gedanken bewahren in Christus Jesus.« 63

 


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