Elisabeth Langgässer
Der Torso
Elisabeth Langgässer

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Nichts Neues

Der Spreetunnel, den die Verrückten bei der Eroberung vor ein paar Wochen mit Wasser hatten voll laufen lassen, war noch nicht leergepumpt. Die Untergrundbahn endete hier und fuhr erst jenseits der Brücke weiter, alle Leute gingen ein Stück zu Fuß, ihre Sohlen machten klappklapp und bumbum, wenn sie über den Holzsteg liefen. Alle zwanzig Minuten spuckte der Schacht die Menschenmassen aus, welche, dicht aneinandergepreßt, über die Brücke kamen. Der Weg war auf keinen Fall zu verfehlen, alle strömten in einer Richtung, und einer schob den anderen weiter, ob der Betreffende, los! los! los!, es wollte oder nicht.

Ein älterer Mann in schwarzem Gehrock mit steifem Stehkragenröllchen wurde rechts und links angepreßt; der zur Linken mußte ihm wohl bekannt sein, der zur Rechten war ein entlassener Landser in verschossenen Uniformfetzen.

[Was erzählte der Alte da? Hingerichtet? Und erst beim dritten Schlag fiel der Kopf, weil die Henker betrunken waren?]

»Es war das Übliche. Erst das Verhör, dann die Folter der Knochenbiegung. Geben Sie acht, das ist nämlich so . . .«

[Zum Donnerwetter, was hat mich der Dicke nach der anderen Seite zu drängen? Knochenbiegung, sagte er eben. Das ist wohl so ähnlich wie . . .]

»Also man bindet die beiden Kniee, die großen Zehen, ganz fest zusammen und zieht dann zwischen den Füßen zwei dicke Prügel hindurch; hierauf dreht man den einen zur Rechten, den andern zur Linken herüber, bis die Knochen sich wie ein Bogen krümmen und nachher ihre natürliche Lage zurückzugewinnen suchen. Dann fängt es von vorne an.«

[Das klingt nach Buchenwald. Sagte der Alte nicht eben Buchenwald? Man hört nichts vor lauter Geklapper. Was denn . . . was ist denn da vorne los . . . jetzt bleiben sie stehen. Na, einerlei. Mir ist 50 es einerlei. Ich habe Zeit . . . ich habe ja Zeit . . . mir kann es einerlei sein.]

»Die Sache war im Jahr dreiundvierzig. Der Prozeß fing natürlich schon früher an und zog sich bis fünfundvierzig. Es war ein großer Umkreis von Menschen; der Richter glaubte, wenn einmal die erste, die wichtigste Masche gefallen wäre, wäre es einfach, das ganze Gewebe mit einem Schlag zu zerreißen.«

[Nein, Buchenwald meinte der Alte nicht. Es hört sich eher an wie der Prozeß . . ., na, wie war das doch gleich – der große Prozeß – jetzt geht es wieder weiter . . .]

». . . Johannes Pak und Agathe Ri – –«

[Scholl hießen sie. Die Geschwister Scholl. Nun weiß ich es wieder genau.]

»Die Akten über dieses Verhör sind uns glücklicherweise erhalten geblieben, und in dem ›Tagebuch der Verfolgung‹ ist Wort für Wort festgehalten. Johannes Pak sagte damals, sein Vater sei wegen der gleichen Sache enthauptet und sein Onkel aufgehängt worden.«

[Falsch. Falsch geraten. Auf keinen Fall war das der Studentenprozeß. Nein. Aber der Stettiner Prozeß . . . vielleicht der Stettiner Prozeß – oder nicht? Da hört die Brücke auf. Gott sei Dank. Jetzt kann man besser verstehen. Jetzt geht es am Wasser entlang.]

»Das Gefängnis war schrecklich. Ratten und Läuse. Verfaulte Strohsäcke. Nichts zu trinken. Die Leute wurden verrückt vor Durst, und täglich brachte man neue Menschen: Männer, Frauen und Kinder, zu den anderen Opfern hinzu. Der Mangel an Platz war vielleicht das Schlimmste. Es brachen Seuchen aus, denn die Toten wurden erst fortgeschafft, wenn der Gestank den Gefängniswärtern am Ende zu unerträglich wurde.«

[Auschwitz. Ich bin der Ansicht, daß Auschwitz mit dieser Erzählung gemeint ist.]

»Doch keiner verriet seine Sache damals. Ihr Glaube war unerschütterlich, ihre Hoffnung von keinem Zweifel beschattet, ihre Liebe so vollkommen, daß weder Drohung sie schrecken, noch Versprechungen sie verführen konnten, die Freunde preiszugeben. 51 Schließlich war über die ganze Provinz ein dichtes Netz von Personen und Nachrichten gebreitet, eine Verständigung ohnegleichen, die auch Ausländer einbezog.«

[Was für ein Weg! Überhaupt kein Weg: Ein Gerölle, hoppla, mit Schlaglöchern, Brocken, verbogenen Eisenteilen . . . und jetzt macht der Wind ihn noch unsichtbar, weil er Staub in die Augen schmeißt.]

»Das Ende war natürlich der Tod nach unausdenklichen Qualen. Verhungert, gewürgt, an den Haaren oder, kopfabwärts hängend, mit Ochsenziemern geschlagen, bis das Fleisch von den Knochen herunterging – es gab keine Marter, die diese Menschen nicht angewendet haben. Und trotzdem, glauben Sie mir, war das Ende ebenso sehr ein Sieg, wie eine Niederlage.«

[Er hat recht. Überhaupt: Was heißt Sieg, und was heißt Niederlage? Wahrscheinlich bedeutet es ein und dasselbe, je nachdem, was man draus macht . . .]

Nun war der Menschenstrom im Begriff, auseinander zu drängen, sich aufzufächern und wie Wasser aus einem platzenden Rohre hierhin und dorthin zu laufen. Er entfaltete sich, ein Teil der Menschen hastete rechts und links weiter; andere wieder hatten es eilig, sich in den Schacht der Untergrundbahn [wie von der ersten in eine zweite und also immer wieder aufs neue von Katastrophe in Katastrophe, und von Finsternis, Nacht und Schrecken in Schrecken und Nacht] zu stürzen – getrieben wie Selbstmörder, welche fürchten, am Ende gar noch verhindert oder angehalten zu werden. Von unten herauf kam der Gegenstrom mit neuen Passagieren: neue Männer in schwarzen und feldgrauen Röcken, neue Frauen, Dicke und Dünne, die sich eng aneinanderpreßten. Alles fing wieder von vorne an: Die halben Gespräche, das Ohrenspitzen und Sich-auf-die-Füße-treten. Der Alte und sein Begleiter waren am Eingang der Untergrund stehen geblieben, der Jüngere hatte den Hut in der Hand und grüßte abschiednehmend.

»Eigentlich war es damals nicht anders als später in Plötzensee. Die Methoden die gleichen, die Wirkungen auch; als Gefängnispfarrer macht man Bekanntschaft mit immer neuen Variationen ein und derselben Art. Der Mensch bleibt der gleiche . . . die 52 Menschheit in ihrer Gesamtheit ebenfalls . . . machen Sie, was Sie wollen. Er ändert sich nicht, und seine Natur – ach, alles ist ganz genau so wie vor hundert . . . vor tausend Jahren.«

Jetzt konnte sich der genarrte Hörer nicht länger zusammennehmen und fragte, außer sich vor Begierde, etwas Näheres zu erfahren: »Wovon sprechen Se eigentlich? Sagen Se doch! Man möchte doch gerne wissen –«

Der alte Mann, es war ein Ben Akiba der Kirche, drehte sich ohne Erstaunen um und sagte zu dem Soldaten: »Von den koreanischen Märtyrerakten und dem ›Tagebuch der Verfolgung‹. Diese Geschichte ereignete sich vor genau hundert Jahren. Nichts Neues unter der Sonne . . . Alles schon dagewesen.« 53

 


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