Elisabeth Langgässer
Der Torso
Elisabeth Langgässer

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Hier war die Zeit vorbei

Neulich behauptete Absalom – er heißt natürlich nicht Absalom, sondern wir, seine Schulfreunde, nennen ihn so aus einem Grund, den ich nachher erkläre, wenn mir noch Zeit dazu bleibt – die meisten Erfahrungen mache man heute auf einer Behördenbank. »Du kommst doch mit mir? Sie sitzen dort pikfein in einem Hochhaus aus Glas und Beton, die reine Sommerfrische.« Ich wollte zuerst nicht, doch Absalom sagte, es gäbe da eine Stenotypistin, die ich mir ansehen müsse, denn sie wäre genau mein Typ. Na, also, ich ließ mich überreden, ich lasse mich viel zu leicht überreden, und begleitete Absalom. Selbstverständlich war diese Sekretärin nichts weiter als ein Bluff. Im Sitzen war sie tatsächlich mein Typ, doch als sie aufstand, grundgütiger Himmel, fehlte von unten her gut die Hälfte, die man in Anbetracht ihres Halses hätte erwarten dürfen. Sie war eine Sitzgröße – ewig schade um diesen hübschen Kopf.

Zum Glück für Absalom kam das erst später, erst am Ende der Geschichte, heraus, die Absalom mir erzählte; ich hätte sonst nicht die Geduld gehabt, so lange zuzuhören. Übrigens hat er sie mir bestimmt schon zwanzigmal erzählt, immer in anderer Tonart, und daß er sie jetzt von neuem erzählte, war nichts weiter als der Beweis dafür, daß sie ihm immer noch nicht in den Kopf geht, obwohl ihm doch seine Freunde und ich die Sache wieder und wieder erklärt und ihn schließlich samt seiner treulosen Elli in das hinterste Hinterindien verwünscht und: »hau ab! komm nicht wieder! laß mich in Frieden!« dazu geäußert haben.

»Ich versteh' nicht. Sie hätte doch warten können. Wir Soldaten haben ja auch gewartet – wir haben auf unsere Kluft gewartet und haben darauf gewartet, sie wieder fortzuschmeißen. Dazwischen haben wir nichts als gewartet: beim Wacheschieben und in der Kaserne, im Urlaub und an der Front. Wir haben gewartet, von Osten nach Westen und von Westen wieder nach Osten zu kommen, und als wir dann hinter dem Stacheldraht waren, haben wir auch 78 gewartet: die einen in Kanada oder Texas, die andern in Leningrad.«

»Klar«, sagte ich, während ich in Gedanken den Kopf des Mädchens hinter der Glastür abzuschätzen versuchte; aber ob sie erst zwanzig war oder älter, brachte ich nicht heraus, denn man kann ein Mädchen erst abtaxieren, wenn es vom Stuhl aufsteht. »Laß sein. Du wirst es doch nicht ergründen, warum sie nicht warten konnte. Sie war eben nicht dafür gebaut. Eine so, die andere so.«

»Aber sieh mal –«, er redete wieder weiter, lauter alltägliches Zeug.

Der Glastür gegenüber war eine riesige Wand aus Glas: lauter Himmel, wir waren im fünften Stockwerk, die Schwalben schossen daran vorüber, man konnte weit in das offene Land und bis zu dem Rand der Kiefernwälder, über Landstraßen, Vororthäuser und Wasserläufe sehen. »Rede nur«, dachte ich, »rede nur. Du redest mir lange gut.« Der Betrieb in dem Büro ging sehr langsam und – weil er immer wieder von Telefonanrufen: how? please! yes! no! unterbrochen wurde – mit hitziger Schwerfälligkeit voran, obwohl die Mädchen an ihren Maschinen wie die Teufel über die Tasten rasten . . . aber komischerweise kam es mir vor, als ob es mit der Sonne am Himmel und den Schatten, die über das Land hinrückten, schneller ginge als mit dem Diktat und den weiterrasselnden Schreibmaschinen, die das Diktat aus dem Stenogramm auf das Aktenstück übertrugen und vier, fünf Durchschläge machten.

»Bei dem letzten Urlaub sagte ich noch: es dauert nicht mehr lang. Du kannst dich wirklich darauf verlassen – jetzt dauert es nicht mehr lang«, brabbelte Absalom weiter.

»Ja, ja.« Es war wirklich sehr eigentümlich, wie das Land sich beim Warten veränderte: nur die Schwalben waren immer die gleichen, und an der Art, wie sie weiterschossen und ihre Bogen schlugen, merkte man es ganz deutlich: auch noch in den nächsten tausend Jahren lernten die nichts dazu. Ich mußte wohl über dem Dösen und Starren die Sekretärin vergessen haben, denn als ich endlich, weil Absalom sagte: »nun äußere dich doch auch einmal«, notgedrungen den Kopf zu ihm drehte, traf es mich wie ein Schlag. 79

Natürlich hatte ich schon das Schleifen und das leise Atmen und Ächzen im Unterbewußtsein gehört, aber so unvorbereitet, wie dieses Schauspiel und diese Szene sich jetzt auf dem langen, gebohnerten Flur, der zu der Wartebank führte, vor meinen Augen entfaltete – na! danke schön: ich war platt.

Wirklich, bald hätte man glauben können, bei einem furchtbar teurem Begräbnis in Bali dabei zu sein:

Ein Aufbau, eine Götzenfigur, die großartig aufgeputzt war, und wahrscheinlich die Leiche mit sich führte, schwebte und wackelte über den Boden, von zwei älteren Frauen getragen – einer Feinen mit schiefem Blumenhütchen und weißen Glacéhandschuhen und einer Bäuerin [glatt gescheitelt, langer Rock, schwarzes Umschlagetuch], die das Götzenbild über die Erde zogen und es vorsichtig fest an den Armen hielten; an dürren, vollkommen steifen Armen, die sich wagrecht nach vorne streckten. Es war eine hundertjährige Frau, ich hörte es nachher sagen, die man hierher gebracht hatte: auf die zweite Wartebank uns gegenüber und im Rücken zu dem gläsernen Zimmer, zu den Schwalben, der Landschaft und zu den Schatten, die wie Uhrzeiger weitergingen –.

Ich gestehe es: als ich die Alte ansah, bekam ich unerklärlicherweise einen ganz entsetzlichen Schock. Ich hätte nicht ärger erschrecken können, wenn, von dem Zeitraffer aufgenommen, das Mädchen vor meinen Augen [ich meine die Sekretärin] plötzlich zusammengeschnurrt und eingeschrumpelt wäre. »Das gibt es doch nicht. Das kann doch nicht sein«, sagte ich ganz verdattert. »Und überhaupt ist der Fahrstuhl für Zivilisten gesperrt.« [Na, so ein sinnloses Argument hat man eigentlich nur im Traum.] Aber die Antwort, die Absalom gab, war auch nicht viel gescheiter. »Tröstet dich das? Mich tröstet das nicht!« Ich glaube, er wollte sagen, das sei kein Beweis für ihn. Und wahrhaftig – es war auch tatsächlich keiner; weder einer dafür, daß sie hier war; noch einer dagegen, daß man sie wirklich von unten heraufgeschleust hatte.

Ihre beiden Töchter, zwei Polinnen, schienen das nicht zu empfinden. Sie redeten ruhig und freundlich, aber unausgesetzt aufeinander ein, während sie rechts und links das Gebäude in ihrer Mitte 80 stützten, und seinen Giebel, bald rechts und bald links, an ihre Schulter legten. Ich bitte, mich nicht falsch zu verstehen, wenn ich ›Gebäude‹ sagte; ich will nur damit zum Ausdruck bringen, daß dieses unbegreifliche Wesen vollkommen fertig war. Es war vollendet wie eine Säule, die man nur noch ansehen kann. Nichts zu verändern, nichts schöner, nichts besser, doch auch nichts schlechter zu machen; nichts mehr zu messen, nichts zuzumessen, nicht Sonnenuhr, Sanduhr, Standuhr – hier war die Zeit vorbei. So warteten wir: fünf Menschen; das heißt, nur vier davon warteten, der fünfte wartete nicht. Nein, der fünfte wartete nicht . . .

Wie ein Schlag, ich sagte es schon einmal, den man erleben kann, wenn man im Traum aus dem Bett gerollt ist, prallte mir plötzlich diese sonderbare Erkenntnis geradewegs vor die Stirn. Zum Glück stand mein Typ an der Schreibmaschine in diesem Augenblick auf, und Absalom, boshaft grinsend, trat mich gegen das Bein. »Bist du fertig mit deiner idiotischen Elli?« fragte ich schonungslos – außerstande, ihm weiter zuzuhören. »Schon lange«, sagte er ganz erstaunt. »Ich weiß überhaupt nicht, warum ich dir heute diese Geschichte erzählte.«

Aber so ist er. So ist Absalom. Erst, wenn das Pferd unter seinem Hintern weitergelaufen ist, ohne ihn mitgenommen zu haben, merkt er, daß seine Geschichte ganz überflüssig war. Jedoch zum Ärger all seiner Freunde hängt er dann noch an dem Baum. 81

 


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