Elisabeth Langgässer
Der Torso
Elisabeth Langgässer

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Lydia

Heute weiß ich, warum die Küche meiner besten Freundin Roberta gegen Kriegsende immer mehr überfüllt von fremden Menschen war; diese saalartig große, verrückt gebaute, fünfeckige Küche am äußersten Zipfel der Wohnung, in der sich eine Hausfrau zutode laufen konnte – aber damals war mir diese Geschichte und das Kommen und Gehen von sämtlichen Mietern nur einfach unangenehm.

»Kannst du dich noch an die Scholle erinnern?« fragte ich neulich. Sie sagte: »Nö.«

»Aber du weißt doch: die große Scholle, die die ganze Bratpfanne ausgefüllt hatte?«

Doch sie behauptete immer wieder, sich nicht erinnern zu können. Ich weiß es, weil es der letzte Fisch war, den ich vor dem Ende bekommen habe; ich hatte sogar meine eigene Pfanne und das Fett, um die Scholle darin zu braten, von Hause mitgebracht. Seit einigen Tagen gab es kein Gas mehr. Wir kochten auf Backsteinen, lieber Himmel; nicht lange danach, und wir liefen schon, über die Töpfe geduckt, von dem Garten ins Haus zurück, während die Flatterminen begannen, über uns hinzuschaukeln; es sah gefährlicher aus, als es in Wirklichkeit war . . .

Aber hier in der Küche stand noch ein Herd: ein großer richtiger Steinkohlenherd mit blanker Messingfassung; nicht dieses Kochen auf offener Flamme, das alle Töpfe verrußte; von dem Backen zu schweigen – die Scholle wäre ganz sicher im Handumdrehen verkohlt gewesen, das Fett in sie eingezogen . . . und es war doch die letzte Fischzuteilung, die wir bekommen haben. Hinter mir, die an der Bratpfanne stand, standen die anderen Frauen, jede mit ihrem Kochtopf, und warteten, an die Reihe zu kommen; und die Kinder der Frauen, die mit den Kindern meiner Freundin Roberta spielen wollten, hingen an ihren Röcken. Es war tatsächlich der reine Wigwam; man mußte, weil die Luft schon so schlecht war, die Tür zu dem Dienstbotenaufgang öffnen – natürlich strömten jetzt immer 35 mehr Menschen über die Hintertreppe hinzu und versuchten, sich durch die Küche in die Praxisräume hineinzuschmuggeln, aber ich weiß keinen einzigen Fall, wo das gelungen wäre: nicht Robertas Mann, doch die Sprechstundenhilfe war gebaut wie ein Cerberus. Selbst der Soldat mit dem Arm in der Binde kam nicht weiter als bis zu dem Durchgang zu dem Berliner Zimmer; allerdings war er total betrunken und stieß deshalb überall an; er stolperte über Robertas Jungen und warf seinen Laufstall um.

»Ja«, sagte Roberta, »an diesen Kerl erinnere ich mich noch. Mit ihm zusammen waren wir achtzehn Menschen, die Contra nicht mitgezählt.«

Die Contra war eine geschiedene Frau, die wir so nannten, weil sie wie keine von uns allen ›dagegen‹ war; sie lief immer wieder aus unserer Küche in ihre Wohnung herunter, um den englischen Sender abzuhören, und kam dann wieder herauf. Herunter, herauf wie eine Quecksilbersäule; wir waren schon dran gewöhnt. Diese Contra ist denn auch bei der Beschießung als erste umgekommen, weil sie immerzu weglaufen mußte – sie wäre also, wenn wir sie mitgezählt hätten, die Neunzehnte gewesen. Aber das taten wir nicht.

»Wenn du dich an den Soldaten erinnerst«, sagte ich zu Roberta, »mußt du dich auch an die Scholle erinnern.«

»Nö, an die Scholle nicht.«

»Auch nicht, daß die Contra so wütend wurde, weil er ständig von einer Waffe erzählte, die uns schließlich noch retten würde?«

»Doch. Aber diese Geschichte erzählte er nicht der Contra. Das war ja das Komische. Er erzählte sie Lydia, ohne zu ahnen, daß Lydia eine Ukrainerin war, und wollte mit seiner Geschichte Furore bei ihr machen.«

Lydia! Kaum war dieser Name gefallen, als ich mit einem Mal wieder wußte, was die Menschen aus allen Wohnungsetagen in der Küche Robertas zu finden hofften, ohne, daß sie es ahnten. Jetzt ist sie wohl schon lange wieder in Mariupol, die schöne Lydia, die fleißige Lydia mit den hohen polierten Backenknochen, dem geduldigen Schoß, den der kleine Thomas, Robertas Junge, so liebte, und 36 den starken, unermüdlichen Händen, die eigentlich immer, wenn ich sie ansah, Kartoffeln und Äpfel schälten . . .

»Also Lydia«, sagte ich.

»Ja, natürlich. Aber je mehr der Betrunkene aufschnitt, desto weniger sah sie ihn an. Na, schließlich überschlug er sich reichlich, er wollte um jeden Preis Eindruck machen, aber Lydia hob nicht einmal die Augen von dem Kartoffelmesser.«

»Doch«, sagte ich plötzlich. »Nun fällt es mir auch wieder ein. Sie hob gerade die Augen, als der Flaksender anfing, zu gehen – das war in der gleichen Sekunde, als ich mit deinem Bratenwender die Scholle herumklatschte, und die Hälfte neben die Pfanne fiel. Kurz darauf gab es Alarm.«

Weiter sagte ich nichts zu Roberta; es wäre auch sinnlos gewesen. Sie wurde nicht gern an Lydia erinnert – nicht, weil sie sie schlecht behandelt hätte. Im Gegenteil. Sie liebt sie noch heute und ist böse, daß sie gegangen ist . . . so böse, wie sie jedesmal wurde, wenn Lydia auszubrechen versuchte, oder aber vor Heimweh die ganze Nacht über schrie. Zum letzten Mal war sie durchgebrannt, als wir glaubten, daß die Russen bereits im Januar Berlin erobern würden; die Küche stand damals voll von Gefäßen mit abgekochtem Tee, denn wir dachten – alle dachten dasselbe – sie seien in drei Tagen hier. Damals also war Lydia von neuem durchgegangen, aber nur, um draußen in Friedrichshagen das Ohr auf die Erde zu legen. Dann kam sie wieder zurück. Roberta fragte natürlich, was sie gehört habe; Lydias Gesicht war wie zersprungen vor Glück.

»Ich kann es nicht richtig ausdrücken, Mammi. [So nannte sie meine Freundin.] Aber ich fühle es. Die Erde hat telegraphiert.« Man wird lachen bei diesem technischen Ausdruck, aber Lydia, welche in Mariupol eine Physikstudentin gewesen und nun zum Kartoffelschälen hierher geschleppt worden war, wählte ihre Vergleiche immer aus dieser Welt. Dann ging sie wieder ganz ruhig in die Küche und setzte sich an die Arbeit nieder – sie schälte nämlich nicht gern im Stehen – und je mehr sich die Sache dem Ende zuneigte, desto mehr Menschen sammelten sich in dieser großen offenen Küche, deren Mittelpunkt Lydia war. Sie sprach kein Wort, sie 37 schälte die Äpfel und die Kartoffeln so hauchdünn ab, daß man glaubte, es wäre Seidenpapier, was sich vom Messer löste. Nur, wenn der Flaksender synkopisierte, hob sie die Augenlider, und ein Leuchten wie Sonnenaufgang flog über ihr Gesicht; wahrscheinlich hatte dann nicht bloß die Erde, sondern auch Luft und Wasser und ihr eigenes Herz etwas telegraphiert, was ihr allein bestimmt war – wenigstens schien es so.

Jetzt ist die schöne Lydia sicher schon lange wieder zu Hause in Mariupol. Auf dem Bahnhof Charlottenburg sah ich sie neulich mit vielen anderen Mädchen; die Eisenbahnwagen waren mit Fähnchen und grünen Girlanden geschmückt. Die Mädchen sangen. Oh, wie sie sangen! Wenn man die Augen schloß, konnte man glauben, dieser Gesang sei ein großer Sturm, der über die Ebene käme – über Felder mit Mais und Weizen und Roggen, durch die die Traktoren rollten. »Lydia!« schrie ich. »Lydia, leb wohl! Laß es dir gut gehen, Lydia!« Und ich winkte mit meinem Taschentuch, bis der Zug in der Ferne verschwunden war; aber noch eine Weile länger, als ich mit meinen Augen den letzten Wagen verfolgen konnte, hörte ich den Gesang . . . 38

 


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