Elisabeth Langgässer
Der Torso
Elisabeth Langgässer

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Die getreue Antigone

Das Grab lag zwischen den Schrebergärten, ein schmaler Weg lief daran vorbei und erweiterte sich an dieser Stelle wie ein versandetes Flußbett, das eine Insel umschließt. Das Holzkreuz fing schon an zu verwittern; seine Buchstaben R. I. P. waren vom Regen verwaschen, der Stahlhelm saß schief darüber und war wie ein Grinsen, mit welchem der Tod noch immer Wache hielt. Gießkanne, Harke und Rechen lagen an seiner Seite, das Mädchen Carola stellte den Spankorb mit den Stiefmütterchenpflanzen, die es ringsherum einsetzen wollte, ab und wandte sich zu seinem Begleiter, der ihr gelangweilt zusah und unter der vorgehaltenen Hand das Streichholz anrätschte, um seine Camel im Mundwinkel anzuzünden.

Kein Lüftchen. Der Frühling, an Frische verlierend, ging schon über in die Verheißung des Sommers, der Flieder verblühte, die einzelnen Nägelchen bräunten und begannen, sich aus Purpur und Lila in die Farbe des Fruchtstandes zu verwandeln, der Rotdorn schäumte gewalttätig auf, die Tulpenstengel, lang ausgewachsen, trugen die Form ihrer Urne nur noch diesen Tag und den nächsten – dann war auch das vorbei. Eine häßliche alte Vase und zwei kleine Tonschalen dienten dazu, den Blumenschmuck aufzunehmen – jetzt waren Maiglöckchen an der Reihe, Narzissen, die einen kränklichen Eindruck machten, und Weißdorn, der das Gefühl einer Fülle und Üppigkeit zu erwecken suchte, die zu dem unangenehmen Geruch seiner kleinen, kurzlebigen Blüten in seltsamem Gegensatz stand.

»Wenn der Rot- und Weißdorn vorüber ist, kommt eine Zeitlang gar nichts«, sagte Carola, bückte sich und leerte das schmutzige Wasser aus beiden Schalen aus, füllte sie wieder mit frischem Wasser und seufzte vor sich hin.

»Rosen«, sagte der junge Bursche. »Aber die sind noch nicht da. Du hast recht: dazwischen kommt gar nichts. Ein paar Ziersträucher 64 höchstens, rosa und gelbe, aber die Zweige müßte man abreißen, wo man sie findet –«, er blinzelte zu ihr hin.

»Nein«, sagte sie rasch.

»Nicht abreißen? Nein? Dann muß der da unten warten, bis wieder Rosen blühen.« Er lachte roh und verlegen auf; das Mädchen begann das Grab zu säubern, die herabgefallenen Blütchen sorgfältig aufzulesen und die Seitenwände des schmalen Hügels mit Harke und Händen gegen den Wegrand genauer abzugrenzen. [So hat sie wohl schon als kleines Mädchen auf dem Puppenherd für ihre Ella und Edeltraut Reisbrei gekocht, Pudding und solches Zeug, schoß es ihm durch den Sinn.] Wieder mußte er lachen; sie blickte mißtrauisch auf und unterbrach ihr Hantieren; wirklich war es, als ob auf dem Grab, das die Weißdornblüten bedeckten, Zucker verschüttet wäre, oder spielende Kinder hätten vergessen, ihr Puppengeschirr, als die Mutter sie rief, mit in das Haus zu nehmen.

»Gib den Korb mit den Pflanzen her«, sagte Carola. »Ich will sie jetzt einsetzen. Auch den Stock, um die Löcher in die Erde zu machen, immer in gleichem Abstand –«, sie war vor Eifer ganz rot.

»Hol ihn dir selber,« sagte der Bursche und drückte an einem morschen Pfahl die Zigarette aus. »Ein Blödsinn, was du da treibst.«

»Was ich treibe?«

»Na – dieses Getue um das Soldatengrab. Immer bist du hierher gelaufen. September, Oktober: mit Vogelbeeren; November, Dezember: mit Stechpalmen, Tannen; hernach mit Schneeglöckchen, Krokus und Zilla. Und das alles für einen Fremden, von dem du nicht einmal weißt –«

»Was weiß ich nicht?«

»Was er für einer war.«

»Jetzt ist er tot.«

»Vielleicht ein SS-Kerl.«

»Vielleicht.«

»Ja, schämst du dich eigentlich nicht?« brauste der Bursche auf. »Deinen ältesten Bruder haben die Schufte in Mauthausen umgebracht. Wahrscheinlich hat man ihn –« 65

»Sei doch still!« Sie hielt sich mit verzweifeltem Ausdruck die Hände an die Ohren; er packte sie an den Handgelenken und riß sie ihr herunter, sie wehrte sich, keuchte, ihre Gesichter waren einander ganz nahe, plötzlich ließ er sie los.

»Tu, was du willst. Es ist mir egal. Aber ich bin es satt. Adjö –.«

»Du gehst nicht!«

»Warum nicht? Du hast ja Gesellschaft. Ich suche mir andere.«

»Die kenne ich«, sagte das Mädchen erbittert. »Die von dem Schwarzen Markt.«

»Und wenn schon? Der Schwarze Markt ist nicht schlimmer als deine Geisterparade. Gespenster wie dieser da . . . Würmer und Maden.« Er deutete mit dem Kopf nach dem Grab, das nun, vielleicht weil Harke und Rechen, während sie beide rangen, quer darüber gefallen waren, einen verstörten Eindruck machte und ein Bild der Verlassenheit bot. »Komm«, sagte der Bursche besänftigt. »Ich habe Schokolade.«

»Die kannst du behalten.«

»Und Strümpfe.« Schweigen. »Und eine Flasche Likör.«

»Warum lügst du?« fragte das Mädchen kalt.

»Nun, wenn du weißt, daß ich lüge«, sagte der Bursche gelassen, »kann ich ja aufhören. Oder meinst du, das Lügen macht mir Spaß?«

»Dann lügst du also aus Traurigkeit«, sagte Carola kurz.

Sie schwiegen, die Nachmittagssonne brannte, in der Luft war ein Flimmern wie sonst nur im Sommer, ein flüchtiges Blitzen, der leise Schrei und das geängstigte Seufzen der mütterlichen Natur. Ein Stück niedergebrochenen Gartenzauns lag am Wegrand, sie setzten sich beide wie auf Verabredung nieder, der junge Mann zog Carola an sich und legte wie ein verlaufener Hund den Kopf in ihrem Schoß. Sie saß sehr gerade und starrte mit aufgerissenen Augen nach dem Soldatengrab . . .

»Glaubst du wirklich, daß Clemens so qualvoll –?« fragte Carola leise. »In dem Steinbruch oder . . .«

»Ich weiß es nicht. Laß doch. Quäle dich nicht«, murmelte er wie im Schlaf. »Für Clemens ist es vorbei.« 66

»Ja«, sagte sie mechanisch, »für Clemens ist es vorbei.« Sie nickte ein paarmal mit dem Kopf und fing dann von neuem an. »Aber man möchte doch wissen.«

»Was – wissen?«

»Ob er jetzt Frieden hat«, sagte sie, halb erstickt.

»Da kannst du ganz ruhig sein. Du weißt doch, wofür er gestorben ist.«

»Ich weiß es. Aber siehst du, als Kind konnte ich schon nicht schlafen, wenn mein Spielzeug im Hof geblieben war; das Holzpferd oder der Puppenjunge. Wenn es Regen gibt! Wenn er allein ist und hat Angst vor der Dunkelheit, dachte ich. Verstehst du mich denn nicht?«

Er gab keine Antwort, Carola schien sie auch nicht zu erwarten, sondern richtete ihre Fragen an einen ganz anderen.

»Ist das Sterben schwer? Du kannst es mir sagen. Der Augenblick, wo sich die Seele losreißt von allem, was sie hat?«

Nun bewegte sich doch noch ein leiser Wind und hob die äußersten Enden der Weißdornzweige empor; die schräge fallenden Sonnenstrahlen wanderten über den Stahlhelm und entzündeten auf der erblindeten Fläche einen winzigen Funken von Licht.

»Liegst du gut?«

Der junge Mann warf den Kopf wie im Traum auf ihrem Schoß hin und her; sein verfinstertes junges Gesicht mit den Linien der unbarmherzigen Jahre entspannten sich unter den streichelnden Händen, die seine widerspenstigen Strähnen langsam und zart zu glätten versuchten und über die Stirn zu den Schläfen und von da aus über die Wangen gingen . . . die Lippen, die ihre kühlen Finger mit einem leise saugenden Kuß festzuhalten versuchten . . . bis die Finger endlich, selber beruhigt, in der Halsgrube liegenblieben, wo mit gleichmäßig starken Schlägen die lebendige Schlagader pochte.

»Ich liege gut«, gab der junge Mann mit entfernter Stimme zurück. »Ich möchte immer so liegen. Immer . . .« Er seufzte und flüsterte etwas, das Carola, weil er dabei den Mund auf ihre Hände preßte, nicht verstand; doch sie fragte auch nicht darnach. 67

Nach einer Weile sagte das Mädchen: »Ich muß jetzt weiter machen. Die Mutter kommt bald nach Haus. Übrigens, daß ich es nicht vergesse: der Kuratus hat gestern nach dir gefragt. Es ist jetzt großer Mangel an älteren Ministranten, besonders bei Hochämtern, weißt du, an hohen Festen, und so, Ob du nicht –?«

»Nein. Ich will nicht.« Der Bursche verzog seinen Mund.

». . . die Kleinen können den Text nicht behalten, sie lernen schlecht und sind unzuverlässig«, fuhr sie unbeirrt und beharrlich fort. »Bei dem Requiem neulich –«

Sie stockte. Dicht vor beiden flog ein Zitronenfalter mit probenden Flügelschlägen vorbei und ließ sich vertrauensvoll und erschöpft auf dem Korb mit den Pflänzchen nieder.

»Meinetwegen«, sagte der Bursche. »Nein: deinetwegen«, verbesserte er. »Damit du Ruhe hast«, fügte er noch hinzu.

»Damit er . . . Ruhe hat«, sagte sie und griff nach dem Pflanzenkorb. 68

 


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