Elisabeth Langgässer
Der Torso
Elisabeth Langgässer

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Jetzt geht die Welt unter

Als die Leute aus ihrem Bunker kamen, lag der fremde Hund mit dem fahlgrauen Fell immer noch in der Schlafzimmerecke und war nicht fortzukriegen.

»Wie lange liegt er denn jetzt schon da?« fragte der Großvater ärgerlich und trat mit dem Fuß nach ihm.

»Seit ewig. Seit dem Beginn der Beschießung. Vor über zweieinhalb Tagen ist er uns zugelaufen«, sagte die junge Frau, »und nun werden wir ihn nicht mehr los. Aus der Siedlung ist er bestimmt nicht gekommen«, fügte sie noch hinzu.

»Nicht los werden? Na, dann laß mich mal machen«, sagte der alte Mann. Er bückte sich zu dem Hund herunter und redete ihm zu. »Wie heißt er denn?«

»Woher soll ich das wissen?« sagte die Frau gereizt. »Ich versteh' nicht die Hundesprache.«

»Tell heißt er«, rief der älteste Junge. »Tell oder Tyras.«

»Wieso denn: oder? Heißt er nun Tell oder Tyras? Wie kommst du bloß darauf?« fragte der Großvater ihn.

»Nur so.«

»Oder Struppi! Gelt, er heißt Struppi?« krähte das jüngste Mädchen und nahm vor Begeisterung, auch was zu wissen, den Finger aus der Nase.

»Struppi! Du bist wohl –«, fauchte der Bruder.

»Man muß es eben mit allem probieren«, meinte die junge Frau. Inzwischen hatte der alte Mann sein Zureden fortgesetzt. Der Hund, wie vollkommen taub und gefühllos, schien gar nicht hinzuhören, obwohl seine scharfen, gespitzten Ohren steil aufgerichtet waren. Er zitterte. Unaufhörlich zitternd, lag er in seiner Ecke; wäre das Zittern nicht gewesen, so hätte man glauben können, der Hund sei ausgestopft. Mit ihm zusammen zitterten, bebten und klirrten die Fensterscheiben.

»Hört ihr – jetzt kommt es schon wieder näher«, sagte die Tante 45 der jungen Frau. »Das ist schwere Artillerie. Jetzt liegt der Beschuß wahrscheinlich schon auf der Innenstadt.«

»Laß ihn. Das kommt und geht hin und her. Den Bahnhof Köpenick hat der Volkssturm dem Iwan bereits wieder abgenommen«, sagte eine Kusine.

»Wem abgenommen? Dem Iwan?« fragte der alte Mann. In diesem Augenblick stieß der Hund ein kurzes Gewinsel aus. »Habt ihr's gehört? Jetzt weiß ich, woher die Töle kommt. Das ist ein Truppenhund.«

»Was heißt das – ein Truppenhund?« fragte die Tante.

»Ein Hund, der der Truppe gehört hat und durchgegangen ist«, sagte der alte Mann.

»Vielleicht ein Hund der Entsatzarmee?« fragte rasch die Kusine dazwischen und blickte im Kreis herum: bin ich nicht rasch von Begriff?

»Entsatzarmee – nee. Das ist doch bloß Bluff«, sagte der alte Mann.

»Was ist das, Großvater?«

»Das ist Bluff. Das ist weiter gar nichts als Bluff.«

»So? Bluff?« schrie die Kusine empört. »Dann ist der Hund also auch bloß Bluff ? Er ist vielleicht überhaupt nicht da? Er sieht bloß aus wie ein Hund?«

»Sei still, Adele«, sagte die Tante. »Rege dich doch nicht auf. Hauptsache, er kommt fort.«

»Wer?« fragte der Junge.

»Wer? Wer? Wer?« schalt seine Mutter. »Du hörst es doch – der Hund!«

»Der geht nicht«, piepste das kleine Mädchen.

»Na wart' mal, ich krieg ihn schon fort«, knurrte der alte Mann. Nun bückte er sich aufs neue herunter und packte den Hund am Halsband, um ihn emporzuziehen. Der Hund ließ sich fallen. »Verdammtes Vieh!« Der Alte zog ihn rücksichtslos weiter. Das miserable Geräusch der schleifenden Hundebeine hörte sich widerlich an. Indessen rauschte es durch die Luft, ein paar Bomben schlugen irgendwo ein.

»Laß ihn liegen«, sagte die junge Frau mit ängstlichem Gesicht. 46 »Wir sind wieder einmal zu früh aus unserem Bunker gegangen.«

Sie faßte die Kinder fest an der Hand, die Tante und die Kusine stiegen gleichfalls über den Hund hinweg, der Großvater sagte, es sei schon besser, überhaupt erst nicht mehr nach oben zu gehen, sondern im Bunker zu bleiben: »Wofür ist der Bunker denn da?«

Natürlich gingen die Leute hinterher doch noch ins Haus. »Der Hund ist fort«, rief die junge Frau.

»Nein, sieh doch her, er liegt immer noch da. Er ist in die Ecke zurückgekrochen. Den werden wir nicht so rasch los«, sagte der alte Mann. Plötzlich schlug er mit seinem Stock auf die winselnde Töle ein. Er drosch und drosch, das erschrockene Tier duckte den Kopf auf die Pfoten und rutschte von Zeit zu Zeit hin und her, aber es war ganz deutlich: so war es nicht fortzukriegen. »Ich schlage ihm noch die Beine entzwei und werfe ihn dann auf den Mist«, sagte der Alte keuchend und stützte sich auf den Stock. Seine Augen waren blutunterlaufen, die Hände bebten vor Wut.

»Warum denn?« schrie die Tante erbost. »Warum legt ihr ihm denn kein Futter hin und lockt ihn aus dem Haus?«

»Recht hat sie«, sagte die junge Frau. »Ich geh' ein Stück Salzfleisch holen.« Auch das war vergebens. Er schnupperte nur und drehte den Kopf wieder ab.

»Ob er krank ist?« fragte die Tante besorgt. »Vielleicht hat er Tollwut?«

»Nee, er hat Angst. Ganz hundsgemeine Angst«, sagte der alte Mann. »Wahrscheinlich kann er das Schießen nicht leiden.«

»Als Truppenhund kann er das Schießen nicht leiden?«

»Gerade deswegen.«

»Wieso: deswegen?«

»Laß den Großvater doch in Ruhe«, sagte die junge Frau zu der Tante. »Siehst du nicht, wie er sich ärgert über dein dummes Geschwätz?«

»So – dummes Geschwätz?« rief die Tante erbittert. »Ich mache dummes Geschwätz?«

»Du hast schon dein Leben lang weiter gar nichts als dummes Geschwätz gemacht«, sagte der Großvater bös. »Du und deine Tochter Adele –.« 47

»Hörst du es, Adi? Diese Gemeinheit!«

»Das rührt mich nicht«, sagte Adele kalt. »Das ist nichts weiter als Wut, weil die Entsatzarmee kommt.« Gleich darauf keifte die ganze Familie besinnungslos durcheinander; das Tier in der Ecke schien von dem Lärm behaglich berührt zu werden, es zog sich in sich zusammen und wedelte mit dem Schwanz. »Na, bitte«, sagte Adele plötzlich. »Das Schießen hat aufgehört.«

»Nachmittags hört es immer auf«, sagte eines der Kinder. »Am Abend fängt es dann wieder an.«

»Vielleicht auch nicht. Vielleicht niemals mehr«, meinte Adele schlau.

Am Abend war es bei weitem stärker, als es vorher gewesen war.

Die Kinder spielten ›Einschlag‹ und ›Abschuß‹. [Das war ein Abschuß – ein Einschlag. Abschuß. Nein, Einschlag. Wo soll denn ein Abschuß herkommen, sag? Na, von der Entsatzarmee.]

Am nächsten Morgen war das Getöse zu einem Inferno angewachsen. Neben dem Bunker hatte sich jetzt ein deutsches Geschütz postiert und schoß wie verrückt nach dem Feind. »Die sind bald alle mit ihrem Pulver«, sagte der Großvater aufgekratzt. »Dann gehen wir in das Haus.«

»Ach, laß doch«, gab ihm die junge Frau achselzuckend zurück. »Der Hund wird verhungert sein oder vor Angst vollkommen übergeschnappt. Das Zimmer ist nun doch schon versaut –«

»Ich will ihn verrecken sehen«, sagte der alte Mann.

Als endlich das Geschütz wieder abzog, gingen sie alle ins Haus.

»Wo ist der Hund denn?« fragte Adele. »Wo ist der Hund denn geblieben?«

Er war nicht mehr da. In der Ecke nicht und auch nicht unter dem Bett.

»Ich hatte die Tür doch abgeschlossen, bevor wir hinuntergingen«, sagte die junge Frau.

»Und wenn schon! Wunderst du dich darüber?« fragte der Großvater hart. »So was geht durch das Schlüsselloch . . .« Die Leute blickten einander an, ohne ein Wort zu sprechen; das Klirren der Scheiben knallte allen wie Peitschenschlag um die Ohren, die Luft 48 war von Flugzeuggebrumm erfüllt, ab und zu hörte man näher und ferner das Schießen der fahrbaren Flak auf der Avus – dann schlugen die Bomben ein. Als der Staub sich durch die zerbrochenen Scheiben wieder verzogen hatte, sagte der Alte: »Nun ist aber Schluß. Nun bleiben wir in dem Bunker, bis –«

Er ging voran, die anderen folgten. Zuletzt kam Adele, doch auf der Schwelle sah sie einmal um. »Was hast du denn, komm doch!« sagte die Tante. »Jetzt wird es gefährlich. Jetzt wird es schlimm.«

»Ja«, gab Adele mechanisch zurück und stolperte aus dem Haus.

»Jetzt geht die Welt unter«, sagte sie . . . eigentlich mehr zu sich selbst. 49

 


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