Elisabeth Langgässer
Der Torso
Elisabeth Langgässer

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Verlagert

Die drei Koffer trafen sich an der Sperre, und da sie nicht etwa als Passagiergut, sondern getrennt von ihren Besitzern – in das Riesengebirge der eine, nach Oberschlesien der andere, und der dritte nach Reichenbach fuhren – blieben sie in dem Eisenbahnwagen noch weiterhin zusammen und fanden es schließlich nötig, einander vorzustellen. Natürlich nicht gleich und eigentlich nur, weil der eine von ihnen es wollte: der Schließkorb mit der Wachstuchbespannung, ein Vatterchen von gediegenem Äußern, bißchen schwerfällig, ausgesprochen vom Lande, obwohl er vielleicht aus der Gegend der Jannowitzbrücke war – aber dort gibt es ja solche genug: erste Generation in der Stadt und ein kleiner, biederer Klempnerladen, die Wohnung im selben Haus. Er hatte auch gleich seinen Spitznamen weg, den die beiden anderen Herren ihm gaben; der eine, der sich mit harmloser Miene einen ›lustigen Springinsfeld‹ nannte, und der andere, ein gebildeter, auffallend gut gekleideter Herr mit richtigem Goethekopf: Goethe auf den Ruinen Roms von Heinrich Wilhelm Tischbein. Man weiß schon, was ich meine. Also wirklich: ein sehr gebildeter, ein hochgebildeter Mann. Nun, die beiden gaben dem Schließkorb, wie ich eben schon sagte, einen Spitznamen, weiter nichts Schlimmes, und nannten ihn die ›ehrliche Haut‹, wenn sie über ihn sprachen.

Springinsfeld, Goethekopf, ehrliche Haut. Das waren die Namen des Kofferkleeblatts, und ich denke, daß man sich jetzt ein Bild von den drei Herren macht. Übrigens darf man nicht etwa glauben, der Springinsfeld und der Goethekopf hätten besser zueinander gepaßt, als der Goethekopf und die ehrliche Haut. Sie verstanden es nur, sich auszudrücken, auch wo überhaupt nichts zum Ausdrücken da war; aber wo ist schon, du lieber Himmel, etwas Besonderes auszudrücken, wenn man zusammen verreist? Oder ist es wohl jemals vorgekommen, daß eine Reisebekanntschaft ihre Versprechungen hält? So etwas war ja niemals von Dauer; auch, wenn man sich noch so 25 ehrlich verspricht, hinterher eine Karte zu schreiben. Ich sage: selbst, wenn in der Sommerfrische zwei Sandburgen nebeneinander liegen, fragt man schon vier Wochen später: hat der nun eigentlich Meier mit ei oder mit ai geheißen? Der hat überhaupt nicht Meier geheißen, na, es ist ja auch einerlei. Bedeutungsvoll war doch allein der Sturm, der kurz vor dem Ende der Ferien unsere Burg zerstört hat – und so eine Burg wie unsere Burg, hat es solange es einen Strand gibt, an diesem Strand nicht gegeben.

Aber auch nicht solchen Sturm.

Der Leser ahnt jetzt schon, daß diese Reise keine pure Vergnügungsreise war, wie? Sie wurde von den drei Herren nach dem großen Luftangriff angetreten, als man wohl merken konnte: am Ende würde nichts übrigbleiben. Außer natürlich, was einer im Koffer verlagert hatte. [Hat der Leser eigentlich auch was verlagert? Kulturgüter? Sein Familiensilber? Oder auch nur seine Bettlaken, wie? Die Kissenbezüge, die Daunendecken, die Wäschegarnitur?]

Im Verlauf der Reise kamen sich dann die Koffer immer näher; sie rückten dichter und höher zusammen, denn immer neue Kofferfahrgäste wurden in den Wagen geworfen. Ja, leider wurden die Gäste ganz einfach übereinander geschleudert – der Goethekopf, dieses vornehme Erbstück, hatte bereits eine tiefe Schramme, die niemals mehr gut zu machen sein würde; er fühlte das auch selbst. Der Springinsfeld, ein Vulkanfiberkoffer, vertrug noch am ehesten einen Stoß, er war überhaupt eine gängige Mischung: sehr hübsch, ein bißchen gedankenlos, aber nicht ohne Gefühl. Jedesmal, wenn ihn wieder was anstieß, begann er, einen Schlager zu trällern. Seine Lieblingsoper war Rigoletto, und daraus wieder die Arie: »O, wie so trügerisch . . .« Gott, na ja, er sang es nicht einmal schlecht. Abwechselnd sang er sehr gern was aus den Caprifischern – ich glaube, es kann nur die Stelle: »Bella, bella, bella Marie!« am Schluß gewesen sein.

Dieser Vulkanfiberkoffer reiste für eine Braut; für eine junge Stenotypistin in einem Wehrmachtsbetrieb. Ihre ganze Aussteuer war darin: die süße Wäsche, das weiße Kleid und der 3,50 m lange 26 Schleier – im Grunde war es natürlich ein Unsinn, denn eine kirchliche Trauung würde sich Siegi verbeten haben, und eine germanische wollten die Eltern von Fräulein Erika nicht. »Eigentlich«, sagte der Springinsfeld zu dem Goethekopf, »hätte man für das Geld, das diese Marotte kostete, die Wäsche entweder etwas teurer, aus reiner Seide zum Beispiel und mit Handstickerei verziert, für Erika kaufen sollen, oder nachher eine romantische Reise mit dem KdF-Dampfer machen können – diesmal vielleicht nach den Balearen, denn die erste, wobei sich Siegi und Erika kennenlernten, ging bloß bis zur Loreley.«

So? Aber die Loreley, lieber Herr, sei doch sicher auch etwas Schönes, meinte der Schließkorb freundlich. Und Burg Stolzenfels am Rhein? Andenken gäbe es überall –

Worauf der Springinsfeld wieder sagte: das sei es ja gerade, warum Fräulein Erika heiraten wolle. Der Junge wäre nun schon ein Jahr alt, ein prachtvoller kleiner Panzer; nein wirklich: ein herziges Kind. Die alte Generation natürlich . . . Er blickte den Schließkorb herausfordernd an, aber weder die ehrliche Haut, selbstverständlich, noch der Goethekopf äußerten sich dazu; der Schließkorb, weil er dagegen war, der Goethekopf, weil ihm das Thema nicht paßte, obwohl er, wie er beiläufig sagte, ganz ohne Vorurteil war. Er fuhr in dem Auftrag eines Herrn des Kultusministeriums, dessen Sammlung: Zeichnungen, Autogramme und kleinere Ölbilder, Teile von Originalpartituren, er an den Verlagerungsort, nach Reichenbach, bringen sollte. In dem Goethekopf war gewissermaßen die ganze deutsche Kultur enthalten; selbstverständlich rechnete er Nordfrankreich, Holland und Belgien mit – was wir haben, geben wir nicht mehr her und nehmen noch etwas dazu.

Von dem Schließkorb kann man hingegen nur sagen, daß nichts Besonderes darin war. [Das alte Ehepaar, das ihn gepackt und ein großes Vorlegeschloß an die Stange, die durch die Korbschlaufen lief, mit Befriedigung angehängt hatte, meinte das allerdings nicht.] Oder sind vielleicht zwölf Paar wollene Strümpfe, sind Bettlaken aus dem schweren handgesponnenen Leinen von Frau Kabuschkes Mutter und zwei Paradekissen, mit echten Klöppelspitzen garniert, 27 etwa garnichts Besonderes, na? Dazu die beiden einfachen Hemden und die Kopfkisschen für den Sarg?

Der Goethekopf wurde aufgebrochen, als die letzten Deutschen mit Sack und Pack aus dem Sudetengau flohen. Eine Luftmine fetzte ihn auseinander; sie hatte natürlich nicht ihn allein und auch nicht nur den Eisenbahnwagen, sondern die Rüstungswerke und mit den Werken die Kriegsproduktion wie üblich treffen wollen. Doch wenn die Produktion an der Bahn, und die Schienen so ganz verdammt nahe an den Kulturgütern liegen, kommt so was ab und zu vor. Die Partituren flogen heraus, die Violinschlüssel und die Noten; die Autogramme; ein Brief von van Gogh an seinen Bruder Theo und einer von Feuerbach. Auch ein Ausschnitt aus einem Gartenfest des französischen Rokoko war dabei, und ein makabres Familienidyll des großen Malers Goya – der, dem es früher gehört hat, behauptet, der Kerl in der linken äußersten Ecke mit seiner Galgenphysignomie müsse ein Vorfahr des kleinen Henkers in dem Lager Dora gewesen sein.

Der Springinsfeld wurde ausgeplündert. Zwei Lagerweiber rissen sich hastig das weiße Kleid aus den Händen und rissen es dabei entzwei. Von der Braut, für welche das Kleid bestimmt war, ging später ein ziemlich rührender Song in dem amerikanischen Sektor um; ich glaube, er heißt so:

Der Schleier kam an ein Kabarett
und wurde dort verbraucht,
an Gonorrhöe starb die Braut im Bett
oder weil sie zuviel geraucht.
Ihr Kind, verlagert im Warthegau,
Lebt heute hinter dem Don,
doch eine gute russische Frau
verpflegt's wie den eigenen Sohn.

Am besten hatte der Schließkorb noch alles überstanden, obwohl das Ehepaar, dem er gehörte, seinen Inhalt jetzt nicht mehr nötig hatte, denn es kam kurz nach der Belagerung der Reichshauptstadt ohne Sarg in die Erde, ohne Kisschen und Leichenhemd. Man erinnert sich vielleicht an das Bild aus einer Illustrierten, wo ein junger 28 Bursche die Überreste eines gestorbenen Menschen in einen Pappkarton bettet – besser, man sieht nicht hin. Dieses Ehepaar also wurde an einer Straßenkreuzung begraben und später erst umgelegt. Ob es das gleiche Ehepaar ist, dem der Schließkorb zu eigen war, der mit dem Wachstuch, wird erst die Auferstehung der Toten mit Sicherheit ergeben.

Er selber aber, die ehrliche Haut, stand unberührt in dem Keller des Hauses, das dem Bruder des Klempners, dem Pfarrer Kabuschke in Oberschlesien, gehörte. Als es klar war, daß weder der Schließkorb zu diesem Herrn Kabuschke, noch Kabuschke zu seinem Schließkorb mit dem Vorlegeschloß würde kommen können, befahl der Pfarrer Kabuschke dem Küster, den Koffer aufzumachen. Der Küster, selbst eine ehrliche Haut, öffnete also den Koffer und nahm die Strümpfe, die Laken, die Leichenhemden heraus. In einem besonders dicken Paar Strümpfe war ein silbernes Sterbekreuz eingewickelt – der Corpus. daran [von Ebenholz] war schwarz wie die heilige Muttergottes in dem Wallfahrtsort Czenstochau. Dieses silberne Kreuz mit dem schwarzen Christus drehte der Küster sehr lange und ausführlich hin und her. Als er es endlich dem Pfarrer Kabuschke pflichtgemäß abgeliefert und auch die Laken, die Leichenhemden und die guten wollenen Strümpfe daneben gelegt hatte, ging der Küster, irgendwie sehr erleichtert und froh, daß er lebte, davon. Seine Hände pendelten in dem Takt seiner Schritte unbewußt mit – geöffnet, unbelastet und leer von fremden Eigentum . . .

»Omnia mea mecum porto.« 29

 


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