Elisabeth Langgässer
Der Torso
Elisabeth Langgässer

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Die Sippe auf dem Berg und im Tal

Ob er heute noch lebt, kann ich wirklich nicht sagen – mein Mann und ich haben schon lange nichts mehr von diesem Zweig der Verwandtschaft gehört, und überhaupt bin ich selbst kein Freund von langen Familiengeschichten: sie sind meistens ganz uninteressant. Aber es ist natürlich gut möglich, daß man ihn doch noch am Ende in ein Irrenhaus stecken mußte, den Vetter Alban samt seiner Behauptung: er, ganz allein er, sei schuld. Man weiß ja, wie hartnäckig solche Leute an ihren Ideen hängen; mit solchen Leuten meine ich die, die nicht eigentlich wahnsinnig sind, sondern nur von einem Gedanken besessen, den andere Menschen nicht einsehen wollen, weil ihre Weltordnung sonst gestört oder am Ende nicht haltbar wäre – man kennt das an sich selbst. Für gewöhnlich helfen sich dann die Normalen, indem sie die fixe Idee dieser Menschen mit anderen fixen Ideen in einen Suppentopf werfen: zum Beispiel mit der fixen Idee, der Kaiser von China zu sein, oder ein großer Erfinder oder der wiederkehrende Christus oder sonst eine Abstrusität. Dann ist natürlich alles ganz klar, dann sagt man mit vollem Recht: verrückt! und beruhigt sich wieder dabei. Wahrscheinlich hat seine Frau, die Mathilde, seine Schwiegertochter, sein großer Enkel und die übrige Sippschaft das auch so gemacht, denn sie mußten ja weiterleben. Sie mußten für ihren schönen Hof und den Kolonialwarenladen leben, in dem man selbst im Jahr 43 noch allerlei kaufen konnte; vor allem aber mußte die arme Mathilde für ihre Hoffnung, den ältesten Sohn noch einmal wiederzusehen, leben – ihren Liebling, der in Stalingrad blieb, vielleicht ist er jetzt wieder da.

Im übrigen finde ich, daß sie es alle im Grund gar nicht nötig hatten, sich über den Alban groß zu erheben und sich klüger zu dünken als er. Die ganze Familie, ich sage es mit einigem Widerstreben, war etwas rappelig. Gescheite Leute, gar keine Frage, aber alle ein bißchen gespritzt. Sehr musikalisch, ein Onkel zum Beispiel mußte jedes Jahr nach Bayreuth oder nach Salzburg fahren, ein 19 anderer ging nach Amerika, überhaupt sind sehr viele ausgewandert, einer gar in die Türkei.

Das alles: ich meine der Zustand dieser großen, verzweigten Familie, ist mir erst klar geworden, als ich in dem entsetzlichen Sommer der ersten Großangriffe mit den Kindern nach Hessen hinunterfuhr, um die Kleinen zu evakuieren. Es war nach der Zerstörung von Hamburg, und wir erwarteten in Berlin, als nächste daran zu sein. Man hörte nur noch von ›coventrysieren‹ und ›ausradieren‹ reden – diese Ausdrücke haben mich immer an die schönste deutsche Ballade erinnert; an die ›Kraniche des Ibykus‹ nämlich. Ahnt man vielleicht schon, wieso? Kurzum: ich fuhr nach Hessen hinunter, nach dem Städtchen Amöneburg. ›Städtchen‹ heißt es von früher her; heute ist es nichts weiter als eine Handvoll von jeder Bedeutung und jedem Wohlstand verlassener Häuser, einem Amtsgericht, einem geistlichen Stift und einer Burgruine – so einsam und so gänzlich verloren wie nur ein Stück Mittelalter es sein kann, das hoch auf einem vulkanischen Kegel inmitten der Ebene liegt und seinen Verfall den vier Winden preisgibt, die um die Ringmauer wehen. Am schönsten sind dort oben die Wolken und die mächtigen alten Nußbäume; damals war ein richtiges Nüssejahr, jeder Baum hing so brechend voll, daß er gestützt werden mußte. Daran entsinne ich mich noch genau, vielleicht, weil diese gestützten Bäume für mein Gefühl eine dunkle Verbindung mit meinen Verwandten hatten, deren zweie im Rollstuhl gefahren wurden: sie hatten ein schweres Rückenmarkleiden, und das Mädchen, das sie abwechselnd schob, war selber tuberkulös. Die Schwindsucht ist da oben nicht selten; mein Schwiegervater, der Schiffsarzt Meander, heilte sie erst auf hoher See zwischen Ceylon und Borneo aus.

Von ihm, diesem kühnen und klugen Menschen, der leider schon lange tot ist, gibt es ein Kinderbildchen, und wahrscheinlich war dieses Daguerrotyp der geheime Grund für meinen Entschluß, zuerst nach Amöneburg zu fahren und nicht, wie mein Mann mir geraten hatte, zu der Verwandtschaft des Alban Klein, welche den Hof und den Kaufmannsladen im Fuldaischen haben. Man sieht da 20 auf diesem Daguerrotyp das Kind an dem Knie seiner Mutter, einer schwarz gekleideten Bauernfrau, lehnen, wie der Photograph es hingestellt hatte: jeder Zoll ein geborener Lord. Am eigentümlichsten sind seine Augen – scharfe, sehr helle und kühle Augen, die etwas Unbeirrbares haben, einen Blick, der damals schon durch und durch sah, und dem man nicht ausweichen kann. Wahrscheinlich war ich selbst auf der Suche nach einer Antwort – Frage und Antwort lagen im Grunde nah beieinander, wir wußten es nur noch nicht. Ich besuchte also die Heimat und Herkunft des Arztes Meander, das Grab seiner Eltern und das Haus seiner Vettern und Basen –, aber daß ich dort mit den Kindern nicht würde bleiben können, hatte ich schon geahnt. Natürlich rieten mir die Verwandten, den Alban und die Mathilde Klein bei Fulda aufzusuchen – die mit dem Hof und dem Kaufmannsladen –, und wäre nicht der Pfarrer Karl Josef auf der anderen Seite von Fulda gewesen, so wäre ich sicherlich ohne Umweg zu Mathilde und Alban gefahren. So aber wollte ich diesen Pfarrer, den leiblichen Vetter des Arztes Meander, noch vorher kennenlernen– sicherlich mit der verstiegenen Hoffnung, in dem herrlich alten Pfarrhaus, das früher ein Adelshof war, unterschlüpfen zu können. Diese romantische Träumerei verging mir allerdings schon gleich am Anfang, als ich der Wirtschafterin des Pfarrers, einem richtigen Hausdrachen, über den Weg lief – der unausrottbaren, frommen Sorte, die sich immer gleich bleiben wird. Trotzdem war mein Besuch nicht vergeblich, und der Herbsttag bei meinem Verwandten Karl Josef, Pfarrer von Unterlüders, wird mir wie einer der seltenen Träume, in denen man wie eine Samenwolke über Berge und Täler hintreibt, ganz unvergeßlich bleiben. Man muß sich vorstellen, daß dieser Ort im Gegensatz zu Amöneburg fast eine Kleinstadt ist: weit und locker und sozusagen im Stil eines Fürstensitzes gebaut, das er im Grunde auch war – er gehörte früher zum Bistum Kurmainz, überall sieht man das Rad im Wappen und das Wappen der Fürstbischöfe.

Mein Verwandter nahm mich sehr herzlich auf und holte einen Wein aus dem Keller, den wir zusammen bei Kerzenlicht tranken, während die viermotorigen Kästen der Royal Air Force über 21 uns weg nach Fulda und Kassel und noch weiter nach Osten zogen. Wir redeten von diesem und jenem, der Pfarrer war früher weit in der Welt herumgekommen und mit seinem Vetter, dem Schiffsarzt Meander, ein paarmal auch nach Chikago gefahren. Zurückgekehrt, wurde er dann, was die Leute einen Arbeiterseelsorger nannten; er schloß sich den Gewerkschaften an und spielte eine Rolle als christlicher Arbeiterführer. Während er redete und erzählte und mir Bilder und alte Postkarten zeigte, blieb es natürlich nicht aus, daß wir beide von Schuld und Hoffnung und von der Zukunft, und wie sie wohl aussehen würde, sprachen; von der Buße und von dem Gericht. Was der Pfarrer Karl Josef im Einzelnen sagte, weiß ich heute nicht mehr genau; aber plötzlich, während wir redeten, und der Niersteiner in der Flasche sich senkte, und die Kerze herunterbrannte, fiel mir die Ähnlichkeit mit dem Bild aus dem Städtchen Amöneburg auf; die Ähnlichkeit mit seinem Vetter Meander, und ich sah ganz deutlich: dies war der Blick und die Haltung des kleinen Knaben auf dem alten Daguerrotyp – dieser feurigblaue, gerade Blick und die edelmännische Haltung eines geborenen Lords. Blitzartig zuckte, wie über das Glas eines erblindeten Spiegels, über mein Herz eine Doppelflamme, die rechts und links von der Fläche stand, und hier und dort drüben das Gleiche bewirkte, das Gleiche erläuterte . . .

»So war die Entwicklung«, sagte der Pfarrer. »Und so wird das Ende sein. Wer Wind gesäet hat, wird Sturm ernten –«, er fügte noch einige Worte hinzu, deren Sinn ich nicht mehr auffassen konnte, weil ich müde geworden war.

Nachträglich ist es mir so gewesen, als ob der Pfarrer mich »meine Tochter«, ganz wie im Beichtstuhl, nannte, und daß er abschließend zu mir sagte, die letzte Begründung könne am besten der Vetter Alban geben. Auf diese Weise habe ich wirklich die Antwort auf meine Frage gefunden – aber, daß Frage und Antwort, ich wiederhole es noch einmal, so nah beieinanderlagen, hätte ich nicht gedacht.

Auch hier war ein Nußbaum und waren Wolken, wir gingen im Grasgarten auf und nieder, der Vetter Alban und ich. Die Kinder 22 warfen mit Steinen nach den grünen, ledernen Kugelfrüchten, manchmal fiel eine zu Boden, dann gab es einen ganz leichten Aufschlag wie immer, wenn etwas fast wie von selbst und durch sich selber geschieht. Dazwischen ging seine Frau, die Mathilde, in dem Grasgarten hin und wider, um Wäsche aufzuhängen, und während sie sich bückte und reckte, und die Klammern in ihrer Schürze bescheiden klapperten, fragte die Frau mich nach diesem und jenem, und Alban hörte zu. Er war ein schwerer, sehr plumper Mann mit blassem Gesicht, einer trockenen Haut und feinen Kaufmannshänden.

»Welch ein Unglück!« sagte die Frau Mathilde.

»Ich bin schuld daran«, sagte der Mann.

»Der Luftkrieg wird von Tag zu Tag schlimmer.«

»Ich bin schuld daran«, sagte der Mann.

»Alles verloren«, sagte die Frau. »Das Gut, das Blut und die Ehre.«

»Ich bin schuld daran«, sagte der Mann.

»Unser Schwiegersohn ist jetzt auch vermißt.«

»Ich bin schuld daran«, sagte der Mann.

»Ganze Familien hier sind ohne Söhne und Schwiegersöhne –.«

»Ich bin schuld daran«, sagte der Mann.

»Warum bist du schuld daran?« fragte ich endlich. Er gab keine Antwort, Mathilde seufzte und schüttelte den Kopf. »Warum glaubt er denn, daß er schuld daran ist?« fragte ich seine Frau.

»Weil er falsch gewählt hatte«, sagte sie leise. »Er hat früher einmal das Falsche gewählt. Im Jahre 32. Darüber kommt er nicht weg.«

»Ach«, sagte ich fast enttäuscht, weil nichts weiter an seiner Behauptung dran war. »Das haben doch die meisten . . .«, da ging die Sirene los. Sie ging mir durch Mark und Bein, muß ich sagen, obwohl ich doch eigentlich wissen konnte, daß hier nichts passieren würde – hier auf dem flachen Land. Die Leute blieben auch ganz ruhig draußen, die Frau hing weiter die Wäsche auf, und die Kinder fingen zu wetten an, wann die Flieger herüberkämen.

Sie kamen denn auch wirklich sehr bald und zogen mit majestätischem Brummen in geschlossenen Formationen ihr Flugbild über 23 den Himmel; man sah die silbernen Flügel blitzen und bewunderte sie, wie man Vögel bewundert, die nach dem Süden ziehen. So unbeirrt zogen sie über den Himmel, so fern und jenseits von Gut und Böse, daß man fast darüber vergessen konnte, mit welcher Ladung sie flogen. Plötzlich aber, ich weiß nicht warum, fiel mein Blick auf den Vetter Alban, der etwas abseits stand. Er hatte die Arme weit ausgebreitet und den Kopf in den Nacken zurückgebogen – selbstvergessen – »hier, nehmt mich hin und richtet mich!« schien diese Haltung zu sagen. »Ich, ganz allein ich, bin schuld.« Dann schlug er, die Arme beugend, mit geballten Fäusten auf seine Brust und trommelte einen heftigen Wirbel, um wieder von neuem die offene Brust der Gerechtigkeit anzubieten: »Ich, ganz allein ich, bin schuld.«

Endlich führte die Frau ihn ins Haus, und er folgte ihr wie ein Kind. In der Luft war es still; so still, daß von ferne die ersten Einschläge hörbar wurden, das Abwehrfeuer und Bombe um Bombe, die sich hoch aus dem Himmel lösten. Ihre Aufschläge, weit von uns allen entfernt, klangen für unser Ohr nicht anders als das Poltern der Nüsse, wenn sie am Boden auf die gilbende Grasfläche prallen. Doch für das Ohr der Gerechtigkeit klangen sie wohl sehr laut. 24

 


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