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Der Hochzeitstag

1

Schagerström fand sich, wie Charlotte gewünscht hatte, am Sonntag um zwei Uhr in der Propstei ein. Der reiche Hüttenbesitzer kam in seinem großen Landauer angefahren. Die Pferde und das Geschirr glänzten, der Bediente und der Kutscher waren in großer Gala mit Blumensträußen in den Westen und ohne Spritzleder, so daß man die weißen Lederhosen und die Glanzlederstiefel, die bis dicht unter das Knie reichten, sehen konnte. Der Glanz ihres Herrn war keineswegs mit dem der Diener zu vergleichen, aber er kam doch festlich ausgestattet mit Hemdkrause und Spitzenmanschetten, in weißer Weste, einem gutsitzenden grauen Frack und einer Rosenknospe im Knopfloch. Kurz und gut, jedermann, der ihn in seiner Equipage erblickte, mußte denken: »Ei der Tausend! Fährt der reiche Schagerström jetzt aus, um Hochzeit zu machen?«

Als er vor der Propstei vorfuhr, wurde er über den freundlichen Empfang, der ihm zuteil wurde, ganz gerührt. Um die Wahrheit zu sagen, so hatte der alte Hof während der letzten kummervollen Zeit etwas Verschlossenes und Ungastliches gehabt. Es wäre schwer zu erklären, auf welche Weise sich dies gezeigt hatte, aber ein gefühlvolles Gemüt merkte den Unterschied wohl.

Das weite Gittertor stand nun offen, und ebenso die Haustür. Alle die seit mehreren Wochen herabgelassenen Rollvorhänge an den Fenstern im oberen Stock waren hinaufgezogen, so daß der Sonnenschein in alle Zimmer hineindringen und die Farben aus den Teppichen und Möbelbezügen nach Herzenslust herausziehen konnte. Aber die Veränderung bestand nicht allein darin. Auf den Blumen lag ein besonderer Glanz, und die Vögel zwitscherten mit einer ganz besonderen Freudigkeit.

Nicht allein das nette Hausmädchen, sondern auch der Propst und seine Gattin standen auf der Veranda, um Schagerström willkommen zu heißen. Beide umarmten ihn, küßten ihn auf die Wange, klopften ihm freundlich auf die Schulter und nannten ihn ohne alle Umstände bei seinem Vornamen. Sie behandelten ihn wie einen Sohn. Schagerström, der die letzte Nacht in angstvollem Kampf, den rechten Weg zu finden, verbracht hatte, fühlte bei alledem eine große Erleichterung, genau so, wie wenn ein kranker Zahn plötzlich zu schmerzen aufhört.

Er wurde in des Propstes inneres Zimmer geführt, wo Charlotte ihn erwartete. Sie trug ein Kleid aus schimmernder weißer Seide und sah entzückend aus. Das Kleid war allerdings etwas altmodisch. Man wäre geneigt, zu denken, Charlotte selbst habe kein passendes Gewand gehabt, und so habe die Frau Propst eines aus den großen Truhen auf dem Bodenraum der Propstei hervorgesucht. Es war ziemlich tief ausgeschnitten und von einem Schnitt, wie wenn die Menschen ihre Mitte unter den Achselhöhlen hätten; aber das Kleid paßte für eine Erscheinung wie Charlotte ausgezeichnet. Man hatte sich nicht die Mühe gemacht, Brautkrone oder Myrtenkranz aufzutreiben, die Frau Propst hatte Charlotte geholfen, ihre Locken mit einem hohen Schildpattkamm aufzustecken, damit die Haartracht zum Kleide paßte. Um den Hals trug sie zwei Reihen Wachsperlen mit einem schönen Schloß daran, und ebensolche Armbänder umschlossen die Handgelenke. Alle diese Sachen waren ohne allen Wert, aber sie standen ihrer Trägerin vorzüglich. Sie sah aus wie ein Bild aus alter Zeit.

Als Schagerström sich über Charlottes Hand beugte, um einen Kuß darauf zu drücken, sagte sie mit leichtbebenden Lippen:

»Karl Artur ist vor einer kleinen Weile nach Karlstadt gefahren, um sich mit seiner Mutter zu versöhnen.«

»Niemand als Sie allein, gnädiges Fräulein, hätte ein solches Wunder herbeiführen können,« erwiderte Schagerström.

Also so war es, Charlotte war es gelungen, den jungen Ekenstedt zu dieser Reise zu bewegen, indem sie ihre Einwilligung zu der Heirat mit ihm, Schagerström, gegeben hatte. Wie die Sache eigentlich zusammenhing, konnte er sich indes doch nicht erklären, und, um die Wahrheit zu sagen, so war er unzufrieden mit der ganzen Aufmachung. Er bewunderte ja wohl die Opferwilligkeit des jungen Mädchens, wollte auch die Frau Oberst und ihren Sohn gerne versöhnt wissen, aber, aber ... Um die Sache aufs kürzeste zu erklären: er hätte ganz einfach gewünscht, das junge Mädchen hätte ihn um seiner selbst und nicht um des jungen Ekenstedts willen geheiratet.

» Der böse Einfluß, von dem du schriebst, war es,« fuhr Charlotte fort, » der böse Einfluß begnügte sich nicht mit weniger, als daß ich heirate und aus der Propstei entfernt würde. Und alles mußte unverzüglich geschehen. Es gab keine Gnade.« Schagerström hielt sich an das Wort Gnade, und er nahm an, Charlotte leide jetzt, wo sie ihm ihre Hand reichen müsse, unsägliche Qualen.

»Mein gnädiges Fräulein, ich beklage aufs ...«

Doch Charlotte unterbrach ihn.

»Ich heiße Charlotte,« sagte sie. »Und ich habe im Sinne, dich Henrik zu nennen.«

Schagerström verbeugte sich zum Dank für diese Mitteilung.

»Ja, ich habe im Sinn, dich Henrik zu nennen,« wiederholte Charlotte mit leichtbebender Stimme. »Ich weiß, deine verstorbene Gattin nannte dich Gustav. Ich will sie diesen Namen für sich behalten lassen. Man soll den Toten nicht das nehmen, was ihnen gehört.«

Schagerström war aufs höchste verwundert. Diese Äußerung schien ja die Feststellung zu enthalten, daß Charlotte nicht mehr denselben Abscheu vor ihm fühlte, wie bei ihrem letzten Zusammentreffen in Örebro. Seine Stimmung veränderte sich abermals. Wenn ihm nicht schon lange Mißtrauen und Demut zur anderen Natur geworden wäre, so hätte er sich jetzt vollkommen glücklich fühlen können.

Charlotte fragte ihn nun, ob er sich an einer Trauung in dem äußeren Zimmer des Propstes, wo schon so viele Brautpaare im Lauf der Jahre vereint worden seien, genügen lassen wolle.

»Tante Regina wünschte allerdings, daß wir uns droben in dem großen Salon trauen ließen,« sagte Charlotte; »aber für mich wäre es hier unten am feierlichsten.«

Tatsächlich verhielt es sich indes anders: Charlotte hatte diesen Vormittag noch in vertraulichem Zusammensein mit ihren alten Freunden und Beschützern verbringen wollen, und so hatte sie der guten Frau Propst nicht erlaubt, die Zeit in dem nun seit langem unbenutzten Salon mit Auskehren und Abstäuben zu verderben. Die alte Dame hatte sich nicht einmal in die Küche entfernen dürfen, um das Essen zuzubereiten, womit sie die Neuvermählten bewirten wollte.

Der junge Hüttenbesitzer hatte nichts gegen das Amtszimmer einzuwenden, und so wurde die Trauung unmittelbar nachher vollzogen. Der Kutscher und der Diener von Groß-Sjötorp, der Pächter und seine Frau sowie das ganze Gesinde der Propstei wurden hereingerufen, um dem feierlichen Akt anzuwohnen. Der alte Propst las die Trauungsformel, und draußen vor den Fenstern ließen Buchfinken und Spatzen ihr allerlustigstes Gezwitscher hören; man hätte wirklich meinen können, sie wüßten, was da drinnen im Amtszimmer vorging, und wollten das Ereignis mit ihren besten Hochzeitsliedern feiern.

Als alles vorbei war, blieb Schagerström etwas unentschlossen stehen. Er wußte nicht recht, was er nun tun sollte; doch Charlotte wendete sich ihm zu und bot ihm die Lippen zu einem leichten Kuß.

Sie war wirklich auf dem besten Wege, ihn verwirrt zu machen. Alles hatte er erwartet, Tränen, versteinerten Gram, stolze Überlegenheit, alles, nur nicht diese frohe Unterwerfung.

»Alle, die uns sehen, denken sicherlich, ich sei es, der zu dieser Heirat gezwungen wurde, und nicht sie,« dachte er in seinem Herzen.

Er konnte sich die Sache nicht anders erklären, als daß Charlotte es am leichtesten mit ihrem Stolz vereinigen konnte, froh und glücklich auszusehen.

»Aber wie gut sie es macht!« dachte er etwas unmutig und doch mit einer gewissen Bewunderung.

Als dann die vier Personen schon bei dem Mahle saßen, das nach Ausspruch der Frau Propst nur mit Hilfe des Himmels zustande gekommen war, aber jedenfalls ausgezeichnet schmeckte, gab sich Schagerström wirklich alle Mühe, seine Regenwetterstimmung abzuschütteln. Der Propst und seine Frau, die sich sicherlich nicht darüber wunderten, daß er seine Lage etwas schwierig fand, strengten sich aus aller Macht an, ihn aufzuheitern, und schließlich sah es auch aus, als ob ihre Anstrengungen von Erfolg begleitet wären.

Sie brachten ihn jedenfalls so weit, wenigstens den Mund aufzutun. Er begann von seinen Reisen in fremden Ländern zu erzählen, von seinen Versuchen, die schwedische Eisenindustrie durch Einführung von dem, was er in England und Deutschland gelernt hatte, zu heben.

Während er sprach, sah er, daß Charlotte ihm mit ungeteiltem Interesse zuhörte. Mit vorgestrecktem Kopfe und weitoffenen Augen saß sie da und folgte jedem seiner Worte, was aber seiner Ansicht nach nur eine Vorspiegelung sein konnte.

»Das tut sie um der alten Leute willen,« dachte er. »Sie kann sich doch unmöglich für alle diese Dinge interessieren, die sie gar nicht versteht. Sie will dem Propst und seiner Frau weismachen, sie habe mich lieb. Das ist alles.«

Diese Erklärung gefiel ihm indes besser und sagte ihm mehr zu als die vorhergehende. Es tat ihm wohl, zu sehen, wie anhänglich seine Frau an diese prächtigen alten Menschen war.

Gegen Schluß der Mahlzeit legte sich aber doch eine traurige Stimmung auf die Gemüter. Die beiden Alten in der Propstei konnten ihre Gedanken unmöglich von der Tatsache losreißen, daß Charlotte sie in wenigen Augenblicken verließ. Charlotte, dies sprühende Geschöpf mit allen ihren dummen Streichen, mit ihren Späßen, mit ihrer raschen Zunge, ihrer Heftigkeit, Charlotte, die sie so oft hatten tadeln müssen, Charlotte, der sie ihres liebevollen Herzens wegen alles hatten verzeihen müssen, sie würde von nun an nicht mehr in ihrem Hause sein. Ach, wie leer und interesselos würde das Leben nun für sie werden!

»Es ist nur gut, daß du morgen wiederkommst und deine Habseligkeiten einpackst,« sagte die Frau Propst.

Schagerström begriff; ja, sie suchten sich damit zu trösten, daß Charlotte nicht weit fortzog und sie sie doch bisweilen sehen konnten; aber trotzdem meinte er zu sehen, wie sie gleichsam zusammensanken, wie ihre Rücken sich beugten und ihre Gesichter von Falten durchzogen wurden. Von diesem Tage an war niemand mehr da, der das Alter von ihnen fernhielt.

»Wir sind ja so froh für dich, Charlotte, mein liebes Kind,« sagte der Propst, »weil du eine prächtige Heimat und einen guten Mann bekommst, aber du wirst begreifen, du wirst begreifen ... Wir werden dich vermissen.«

Der alte Herr war wirklich dem Weinen nahe, aber die Frau Propst rettete die Situation, indem sie Schagerström erzählte, was ihr guter Alter ihr einmal anvertraut habe, das er tun würde, wenn er fünfzig Jahr jünger und ein Junggeselle wäre. Alle miteinander mußten hell auflachen, und die traurigen Gedanken wurden verscheucht.

Als der Landauer vorfuhr und Charlotte auf die Frau Propst zutrat, um ihr Lebewohl zu sagen, zog die Dame Charlotte mit sich ins nächste Zimmer hinein und flüsterte ihr ins Ohr:

»Laß deinen Mann heute nicht aus den Augen, mein Kind! Er hat etwas im Sinn, ich sehe es ihm an. Gib wohl acht auf ihn!«

Charlotte versprach, ihr Bestes zu tun.

»Er sieht übrigens heute recht gut aus. Ist es dir nicht auch aufgefallen? Es steht ihm gut, wenn er so vornehm angezogen ist.«

Charlotte überraschte sie mit der Antwort:

»Mir ist er nie häßlich vorgekommen. Er macht einen kraftvollen Eindruck. Er ist wie Napoleon.«

»Was du nicht sagst!« versetzte Frau Forsius. »Dieser Gedanke ist mir noch nie gekommen. Aber es ist gut, wenn du so denkst.«

Als Charlotte, zur Abreise bereit, auf die Veranda trat, sah Schagerström, daß sie dieselbe Mantille und denselben Hut trug, die sie genau vor vier Sonntagen auch getragen hatte und die ihm damals gewöhnlich und unkleidsam vorgekommen waren.

Jetzt fand er sie plötzlich ganz entzückend, und trotz allem regte sich jählings stürmische Freude in seinem Herzen. Dieses junge Wesen gehörte jetzt ihm und würde ihn in sein Heim begleiten. Während Charlotte noch immer Lebewohl sagte und dabei kein Ende finden konnte, trat er plötzlich näher, umfaßte sie mit seinen starken Armen und setzte sie in den Wagen.

»So ist's recht, so ist's recht, so soll es sein, so soll es sein!« erklang es von der Propstei her, während der Wagen um den blumengeschmückten Vorplatz herum und zum Tor hinausfuhr.

 

2

Es ist fast unnötig, zu sagen, daß der junge Hüttenbesitzer sein Vorgehen rasch bereute. Es war unrecht von ihm, Charlotte zu erschrecken. Wenn er sich auf diese Weise benahm, würde sie denken, er betrachte diese ganze Sache für etwas anderes als eine Scheinehe, und er würde mit den Ansprüchen eines richtigen Ehegatten zu ihr kommen.

Charlotte sah auch in der Tat etwas ängstlich aus. Er sah, wie sie sich in die Wagenecke, so weit entfernt von ihm wie nur möglich, zurückzog. Aber das dauerte nicht lange. Ehe sie das Kirchdorf erreicht hatten, saß Charlotte schon wieder lächelnd und plaudernd dicht neben ihm.

Na ja, das war leicht zu verstehen! Sie wollte eine gute Miene zeigen, während man die Dorfstraße entlangfuhr. Es würde sich natürlich ändern, wenn sie auf die einsame große Landstraße hinauskämen.

Aber Charlotte fuhr fort, wie sie begonnen hatte. Während der ganzen Fahrt unterhielt sie sich lebhaft und vergnügt. Und die Gesprächsstoffe, die sie wählte, waren in hohem Grade geeignet, ihm zu zeigen, daß sie ihre Ehe ganz ernst nahm.

Zuerst lenkte sie das Gespräch auf Schagerströms Pferde. In erster Linie wollte sie Auskunft haben über die vier, die vor den Landauer gespannt waren. Wo sie gekauft worden seien, wie alt sie seien, wie sie hießen, wie es mit ihrer Herkunft stehe, ob sie leicht scheuten, ob sie je mit ihm durchgegangen seien? Dann kam die Reihe an alle andern Pferde, die sich auf Groß-Sjötorp befanden. Ja, war es denn möglich? Gab es dort wirklich Reitpferde, richtige zugerittene Reitpferde? Und auch Sättel? Gab es tatsächlich einen richtigen englischen Damensattel?

Den Pferden in der Propstei schenkte Charlotte einen mitleidigen Gedanken. Sie waren jetzt ganz gewiß dem Verderben preisgegeben, da sie nicht mehr da war, um ihnen etwas Bewegung zu verschaffen.

Hier konnte Schagerström einen Einwurf nicht unterdrücken.

»Ich habe kürzlich in der Postkutsche eine fremde Dame erzählen hören, wie ein gewisses Fräulein die unschuldigen Kreaturen ihrer Wohltäter mißhandelte.«

»Was sagst du?« rief Charlotte; aber dann verstand sie, worauf er anspielte, und sie brach in helles Lachen aus.

Ein gutes Gelächter ist wirklich etwas Merkwürdiges. Plötzlich fühlten sich die beiden Neuvermählten als gute Freunde. Die Steifheit und die Feierlichkeit waren verschwunden.

Charlotte fragte immer weiter. Was für Industriewerke und sonstige Einrichtungen es auf Groß-Sjötorp gebe? Wieviel Essen in der Schmiede seien und wie die Schmiede und ihre Frauen und ihre Kinder hießen? Sie meine gehört zu haben, es finde sich auch ein Sägewerk auf Groß-Sjötorp, ob das wahr sei? Ach so, es gab auch eine Mühle dort! Wie viele Mahlgänge es in der Mühle gebe? Wie der Müller hieße?

Es war ein vollkommenes Examen. Schagerström wurde es ganz wirr im Kopfe von all den vielen Fragen. Bisweilen konnte er gar keine richtige Auskunft geben.

Er wußte nicht, wieviele Schafe er besaß, und er war auch nicht im reinen darüber, wieviele Milchkühe im Kuhstall standen und wieviel Milch sie gaben.

»Das ist Sache des Inspektors,« antwortete er lachend.

»Es sieht wirklich aus, als ob du über gar nichts richtig Bescheid wüßtest,« sagte Charlotte. »Ich bin überzeugt, es herrscht eine furchtbare Unordnung bei dir daheim. Es wird sehr viel Mühe und Arbeit kosten, bis alles so ist, wie es sein soll.«

Sie schien indes bei dieser Aussicht durchaus nicht unzufrieden zu sein, und Schagerström gestand ihr, er habe sich schon lange einen wirklichen Haustyrannen gewünscht, gerade so eine scharfe Hausmutter wie die Frau Propst Forsius.

Nachdem er das Wort Inspektor ausgesprochen hatte, kam Charlotte ein neuer Gedanke, und sie fragte, wieviele Herren am Herrschaftstisch mitessen würden. Wie der Haushalt eingerichtet sei, wieviele Hausmädchen und wieviele Bedienten da seien? Ob er auch eine Haushälterin habe und ob sie etwas tauge?

Auch den Garten vergaß sie nicht. Als sie erfuhr, daß sowohl Gewächshaus als auch ein Treibhaus für Weinstöcke da sei, war sie ein wenig verdutzt, genau so wie bei der Eröffnung betreffs der Reitpferde.

Begreiflicherweise konnte Schagerström während der Fahrt die Zeit nicht lang werden. Als der Wagen in den Waldweg einbog, der zu seinem Besitztum führte, mußte er sich sagen, daß ihm die zwei Meilen, die das Kirchdorf von Groß-Sjötorp trennten, heute wunderbar kurz vorgekommen waren.

Im übrigen aber nahm er sich wohl in acht, sich allerlei Einbildungen hinzugeben.

»Ich verstehe sie recht gut,« sagte er sich. »Sie versucht, sich in das Unvermeidliche zu finden. Sie plaudert, um nicht denken zu müssen.«

Man kann indes wohl verstehen, welch ein aufregender, geschäftiger Tag es auf Groß-Sjötorp gewesen war.

Eigentlich wußte man nicht recht, was mit dem Hüttenbesitzer los war. Die Botschaft aus der Propstei war ja schon am Samstag, nachmittags drei Uhr, eingetroffen, aber er hatte kein Wort davon verlauten lassen, was eigentlich bevorstand. Erst ganz spät am Abend war ihm eingefallen, daß er den Trauring besorgen müsse. Und sofort war einer der Inspektoren beauftragt worden, in die nächste Stadt zu reiten, mit dem strengen Befehl, im Notfalle den Goldschmied aus dem besten Schlaf aufzuwecken, um einen glatten goldenen Ring zu kaufen und auch gleich die Buchstaben eingravieren zu lassen.

Der Inspektor hatte gottlob den Mund nicht gehalten, sondern so vielen Menschen wie nur möglich mitgeteilt, daß am nächsten Tage eine neue Frau auf Groß-Sjötorp einziehen werde, und daß man das als ein wirkliches Glück betrachten müsse. Wie in aller Welt hätte es sonst der Haushälterin gelingen sollen, die Staatsräume zu lüften, die Bezüge von den Möbeln abzunehmen und den Staub abzuwischen? Wie hätte es dem Gärtner gelingen können, alle Gartenwege zu harken, alle Blumenbeete zu reinigen? Und wie hätte man sonst die Livreen, die Stiefel, die Pferdegeschirre und auch den Landauer putzen und glänzend bürsten können? Der Hüttenbesitzer war wie betäubt herumgegangen und nicht imstande gewesen, sich irgend etwas vorzunehmen. Der Bediente Johansson hatte auf eigene Faust bestimmen müssen, was seiner Ansicht nach für einen Hochzeitsanzug paßte.

Glücklicherweise hatte es indes auf Groß-Sjötorp doch Leute gegeben, die wußten, was es hieß, eine junge Herrin zu empfangen. Sowohl der Obergärtner als auch die Haushälterin waren schon zu jener Zeit da gewesen, als die Frau Landrat Oldencrona auf Groß-Sjötorp regierte, sie wußten also, was die Ehre des Hauses verlangte.

Nur zum Schein, könnte man fast sagen, hatte zwar die Haushälterin betreffs des Empfangs von dem Hausherrn Befehle verlangt, ehe er am Sonntag abgefahren war, und ebenso vorsichtig war auch der Obergärtner gewesen. Schagerström hatte sicherlich an gar keinen feierlichen Empfang gedacht; ehe er sich am Sonntag auf den Weg machte, sagte er aber, wenn Frau Sällberg ein kleines Festmahl richten wolle und wenn der Obergärtner jetzt noch eine Ehrenpforte errichten könne, so habe er nichts dagegen.

Nachdem sich die beiden auf solche Weise freie Hände verschafft, hatten diese vortrefflichen Menschen nur noch die Abreise des Hüttenbesitzers abgewartet und waren dann eifrigst an die Vorbereitungen zu einem fast königlichen Empfang gegangen.

»Bedenken Sie, Frau Sällberg,« sagte der Gärtnermeister, »sie ist ja ein adliges Fräulein und weiß also, wie es auf einem so großen Gute, wie dieses hier, zuzugehen pflegt.«

»Ach, sie kommt ja nur aus einer Propstei,« versetzte die Haushälterin, »und so wird sie sicherlich nicht viel verstehen, aber deshalb kann ein anderes doch zeigen, daß es seinen Verstand beieinander hat.«

»Oho, seien Sie nicht gar zu sicher, Frau Sällberg!« erwiderte der Obergärtner. »Ich hab' sie in der Kirche gesehen. Sie sah wirklich nicht wie eine gewöhnliche Mamsell in einer Propstei aus. Sie hätten nur ihre Haltung sehen sollen. Mir war, als sähe ich die alte Gnädige von Groß-Sjötorp wieder vor mir. Es wurde mir dabei ganz warm ums Herz.«

»Nun, mit der Vornehmigkeit mag es sein wie es will,« sagte die Haushälterin. »Ich bin jedenfalls froh, daß wir eine junge Frau ins Haus bekommen. Nun gibt's wieder Bälle und Gesellschaften. Dann darf man doch zeigen, was man kann. Das ist dann etwas anderes, als tagaus, tagein nur für ein paar Herren zu kochen, die das Essen einfach verschlingen.«

»Wenn es dann nur nicht zuviel des Guten für Sie wird,« entgegnete der Obergärtner lachend. »Wer viele Jahre lang unter der Frau Propst Forsius gestanden hat, versteht sich aufs Hauswesen, jawohl.«

Damit eilte er zur Tür hinaus, denn nun mußte wahrlich eiligst ans Werk geschritten werden. Wenn man noch vier Ehrenpforten errichten, dazu den Hauseingang mit den Namenszügen aus Blumen schmücken wollte, durfte man wirklich keine Zeit mit Schwatzen verlieren.

Der Obergärtner hätte sich indes diesen Aufgaben nicht unterziehen können, wenn ihm nicht so viele eifrige Helfer beigesprungen wären. Aber man muß sich vorstellen, welche Freude die Nachricht auf dem ganzen Gute und im ganzen Hüttenwerk hervorgerufen hatte. Ach, droben in dem großen Herrschaftshause würde wieder eine Herrin sein, man würde wieder eine gnädige Frau haben, zu der man mit seinen Sorgen und Schwierigkeiten kommen konnte! Eine Hausfrau war eben doch noch mehr als ein Hausherr. Sie blieb daheim, mit ihr konnte man über seine Kinder und über die Kühe reden. Die Nachricht, daß sie schon an diesem selben Tag eintreffe, war fast zu gut, um wahr zu sein.

Ein paar Jungen verbreiteten die Nachricht unter allen denen, die zu Groß-Sjötorp gehörten, und in allen Katen und in allen Höfen putzte man sich, so gut man konnte, und wanderte nach dem Herrenhofe, um einen Schimmer von den Neuvermählten zu erhaschen. Aber allen, die auf dem Hofe eintrafen, wurde sofort eine Arbeit angewiesen. Die Ehrenpforten wurden errichtet, alte Fahnen und Standarten, die unter den früheren Besitzern im Gebrauch gewesen waren, den Weg entlang aufgepflanzt. Zwei kleine Böller wurden herausgezogen. Es war ein Leben und ein Gewimmel auf dem Hofe, von dem man sich kaum eine Vorstellung machen kann.

Als dann die Neuvermählten gegen sechs Uhr in das Gebiet von Groß-Sjötorp einfuhren, war auch alles in Ordnung.

Bei der ersten Ehrenpforte, die sich noch innerhalb des Waldes befand, wurden sie von den Schmieden des Hüttenwerks begrüßt, die ihre großen Hämmer geschultert hatten. An der zweiten, die am Waldessaum errichtet war, standen alle Feldarbeiter des Hüttenwerks und grüßten das Ehepaar mit geschulterten Spaten, bei der dritten Ehrenpforte, die den Eingang zur Allee bildete, schrien die Müller und Sägewerksleute Hurra, und an der vierten vor der Auffahrt zum Herrenhofe stand der Obergärtner, von seinen Untergebenen umringt, und überreichte einen prachtvollen Blumenstrauß. Vor dem Herrenhause selbst endlich hatten sich die Verwalter, die Buchhalter, die Haushälterin und die Dienstmädchen aufgestellt, sie knicksten und verbeugten sich.

Eigentlich war nicht alles in so guter Ordnung, wie es hier beschrieben wird. Alle Menschen waren in ausgezeichneter Laune, sie schrien und riefen aus vollem Halse hurra, sogar auch noch, als der Wagen an der Ehrenpforte, wo sie Wache halten sollten, schon vorbeigefahren war. Die Kinder liefen auf eine recht wenig feierliche Weise mit dem Wagen um die Wette, und die Böller wurden in dem allerunerwartetsten Augenblick abgeschossen; aber das Ganze war doch überaus schön und festlich, die selige Frau Landrat wäre gewiß davon befriedigt gewesen, welche Ehre Groß-Sjötorp und ihr alter Obergärtner einlegten.

Schagerström, der sicher nicht an einen so großartigen Empfang gedacht hatte, war auf dem Punkt, über die Freiheit, die sich seine Untergebenen angemaßt hatten, ärgerlich zu werden, aber ehe er seinem Mißfallen Ausdruck gab, warf er glücklicherweise noch einen Blick auf Charlotte.

Sie saß mit lächelnden Lippen da, aber zugleich glänzte eine Träne in ihrem Auge, und sie hielt die Hände im Schoße gefaltet.

»Wie schön, wie schön!« flüsterte sie. »Wie wunderschön!«

Alles miteinander, die Ehrenpforten, die Blumen, die Fahnen, die freundlichen Gesichter, die Hurrarufe, die Böllerschüsse, das alles galt ihr, alles war für sie der Willkommgruß zu ihrem Einzug auf dem Gute. Und sie, die nun schon wochenlang daran gewöhnt war, daß alle Menschen sie verachteten und sich von ihr zurückzogen, sie, die bei jeder Bewegung nur Mißtrauen und Tadel geerntet, sie, die kaum noch gewagt hatte, sich aus dem Hause zu entfernen, vor Angst, sich Beleidigungen auszusetzen, ja, sie fühlte sich dankerfüllt, gerührt und über Verdienst und Würdigkeit geehrt.

Dies hier waren keine Schmähgedichte, keine Sträuße aus Dornen und Disteln, es war kein Hohngelächter, Freude und Jubelrufe waren es, die sie begrüßten.

Sie streckte ihre Arme nach den Leuten aus. Von diesem Augenblick an liebte sie diesen Ort und seine Bewohner. Es war ihr, als sei sie in eine neue glückliche Welt versetzt. Hier wollte sie leben und sterben.

 

3

Welch ein Glück für einen Mann, eine junge Braut in ein prächtiges Haus heimführen zu können! Von Zimmer zu Zimmer zu wandern, ihre entzückten Ausrufe zu hören, ein paar Schritte vorauszueilen, die Türen zum nächsten Gemach zurückzuschlagen und zu sagen: »Ich glaube, dies hier ist nicht so ganz übel.« Die junge Gattin wie einen Schmetterling umherflattern zu sehen, bald einen Ton auf dem Flügel anschlagend, bald zu einem Gemälde hineilend oder einen Blick in den Spiegel werfend, um zu schauen, ob ein vorteilhaftes Bild von ihr widerstrahle, bald zum Fenster hinlaufend, um die wunderschöne Aussicht zu bewundern!

Aber wie ängstlich mußte man nicht werden, wenn man sie mittendrin plötzlich in Tränen ausbrechen sieht, wie eifrig fragt man, was sie denn habe, wie aufrichtig verspricht man, all ihren Kümmernissen abzuhelfen!

Wie froh wird man doch, wenn man hört, das Weinen habe keinen andern Grund, als daß sie eine Schwester habe, die in öden, kahlen Zimmern krank daniederliege, während sie, die junge Frau selbst, ohne alles Verdienst diese Pracht und Herrlichkeit genießen dürfe! Wie stolz fühlt man sich, ihr versprechen zu können, fortan solle die Schwester keine Not mehr leiden, sie dürfe ihr alle die Hilfe gewähren, die sie benötige, ja wenn sie wünsche, solle gleich diesen Abend noch ...

»O nein, nicht heute abend. Morgen ist es früh genug.«

Damit ist diese Sorge abgetan. Die junge Frau vergißt sie ganz, und dann beginnt das Zeigen aufs neue.

»In diesem Sessel hier sitzt man ganz vortrefflich,« sagt er. »Und am Fenster ist ein guter Platz für einen Nähtisch.«

Ja gewiß! O, sie wird sich am Nähtisch ausgezeichnet ausnehmen, zugleich aber fällt einem etwas ein, das man vergessen hat. Dies ist ja keine richtige Ehe. Dies alles ist nichts als Schein. Bisweilen sieht es freilich aus, als nehme sie es ernst, aber man weiß ja, wie sie es tatsächlich meint. Nur eines darf man sich gönnen: man kann tun, als wisse man es nicht, bis der entscheidende Augenblick da ist; man kann das Spiel noch einige Stunden weitergehen lassen, kann sich ebenso fröhlich stellen wie sie, kann die Angst im tiefsten Herzen verbergen und so das Glück des Augenblicks genießen.

Ja, auf solche Weise kann man mit demselben Glücksgefühl die Besichtigung fortsetzen, bis der Diener kommt und meldet, daß das Essen aufgetragen sei.

Und ist es nicht wunderbar, ihr den Arm bieten und sie an einen Eßtisch führen zu dürfen, der prachtvoll gedeckt ist mit echtem Porzellan, mit funkelndem Kristall und glänzendem Silber, sich mit ihr zu einem königlichen Mahl niedersetzen zu dürfen, einem Mahl mit acht Gängen, mit Wein, der in den Flaschen purpurn glüht, mit Gerichten, die einem auf der Zunge zerschmelzen, mit so herrlichem Essen, das ganz von selbst hinabgleitet!

Und dann ganz in dem Wohlbehagen aufgehen, neben sich eine junge Frau zu haben, die alles das, was man am meisten liebt, verkörpert, die klug und natürlich ist, die sich in die Verhältnisse zu schicken weiß, die im höchsten Grad mutwillig ist, die in ein und derselben Sekunde lachen und weinen kann, die jeden Augenblick eine neue hinreißende Eigenschaft zeigt!

Ein Glück ist es vielleicht auch, aus all diesem herausgerissen zu werden, gerade in dem Augenblick, wo man im Begriff ist, den Kopf zu verlieren, weil der Obergärtner, der an diesem Tag auf Groß-Sjötorp den Herrn spielt, meldet, daß alles zum Tanz in der Scheune bereit sei, daß aber niemand beginnen wolle, ehe die Herrschaft sich zeige. Die Braut und der Bräutigam müßten ja den Hochzeitsreigen eröffnen.

Welche fröhliche Art, Hochzeit zu feiern! Nicht unter Gleichgestellten, die vielleicht mißgünstig wären und kritisieren würden, sondern unter bewundernden Untergebenen, die einen fast als Gottheiten betrachten.

Der Ordnung halber zuerst die Braut einmal auf dem glatten Scheunenboden im Kreis herumzuführen, sie dann aber abzugeben, um sie tanzen zu sehen, zu sehen, wie sie sich mit Schmieden und Müllern, mit Alten und Jungen herumschwingt, immerfort mit derselben guten Laune! Wie wunderbar, da auf einem Stuhle zu sitzen und an alte Sagen und Gedichte zu denken, die von Elfen handeln, so sich zum Tanze der Menschen herbeigeschlichen und die schönen Burschen mit sich in den Wald hinausgelockt haben. Denn wie man sie so im Tanze mitten in der von schwerer Arbeit vierschrötig gewordenen Schar dahinschweben sieht, kommt sie einem vor, als sei sie nicht aus gewöhnlichem irdischen Stoffe, sondern aus etwas Feinerem, Besserem geschaffen.

Ja, so dazusitzen und sich doch über die entschwundenen Minuten zu ängstigen, bis man schließlich merkt, daß der Augenblick gekommen ist, wo der Hochzeitstag sein Ende erreicht hat, und die Leere und der Ernst des Lebens aufs neue beginnen.

 

4

Was Charlotte betrifft, so klang ihr die ganze Zeit über die Warnung der Frau Propst in den Ohren: »Mein Kind, laß deinen Mann heute nicht aus den Augen! Er hat etwas im Sinn. Gib wohl acht auf ihn!«

Die raschen Übergänge in seiner Stimmung von Fröhlichkeit zu Schwermut waren ihr auch selbst aufgefallen, und bei jedem neuen Tanze sah sie sich immer erst um, ob er noch in der Scheune saß, und kaum hatte ein Tänzer sie verlassen, so ging sie auch gleich zu ihrem Manne hin und ließ sich neben ihm nieder.

Da sie zu denen gehörte, die alles um sich her beobachten, hatte sie, als sie über den Hof nach der Scheune gingen, bemerkt, daß das kleine Coupé, das Schagerström auf seinen längeren Reisen benützte, aus der Wagenremise herausgezogen war. Dies vermehrte ihre Unruhe und schärfte ihre Wachsamkeit.

Als sie mit dem Kutscher tanzte, machte sie einen Versuch, zu erfahren, was beabsichtigt war.

»Wir tanzen wohl nicht zu lange?« sagte sie. »Wann wollte denn der Hüttenbesitzer abfahren?«

»Die Zeit ist noch nicht ganz bestimmt, gnädige Frau. Aber ich habe den Wagen herausgezogen und den Pferden das Geschirr angelegt. Ich kann im Umsehen fertig sein.«

Ei sieh! Ja, nun wußte Charlotte, wonach sie sich zu richten hatte! Da aber ihr Gatte immer noch in ruhiger Unterhaltung mit seinen Untergebenen in der Scheune saß, fand sie es am klügsten, sich unbefangen zu zeigen.

»Wahrscheinlich hatte er im Sinn, heute abend auf und davon zu fahren, aber er hat seine Absicht vielleicht geändert,« dachte sie. »Er wird gesehen haben, daß ich nicht so gefährlich bin, wie er dachte.«

Aber eine kleine Weile nachher, als eben eine recht lange Polka zu Ende gegangen war und sie sich wieder nach ihrem Manne umschaute, war er verschwunden.

Es war indessen draußen Nacht geworden, und die große Scheune war nur schlecht von ein paar Laternen beleuchtet, aber Charlotte war sich sofort klar, daß Schagerström nicht mehr anwesend war. Unruhig schaute sie sich nach dem Kutscher und dem Diener um. Auch sie schienen verschwunden zu sein.

Sie warf ihre Mantille um und gesellte sich zu einigen jungen Leuten, die in dem breiten Scheunentor standen, um sich nach dem Tanze abzukühlen, sagte ein paar Worte zu ihnen und glitt dann still und unbemerkt in die Nacht hinaus.

Da sie auf dem Hofe ganz fremd war, wußte sie kaum, wohin sie ihre Schritte lenken sollte, um ins Wohnhaus zurückzugelangen. Aber in kurzer Entfernung bemerkte sie den Schein einer Laterne, und so eilte sie in dieser Richtung weiter. Als sie näher kam, sah sie, daß die Laterne vor dem Stall auf der Erde stand. Ja, der Kutscher war eben beim Einspannen. Er hatte schon die Pferde herausgeführt.

Charlotte schlich sich bis zum Wagen hin, ohne sich auf irgendeine Weise bemerklich zu machen. Jetzt wußte sie, was sie tun wollte. Wenn sie einen Augenblick benützte, wo der Kutscher ihr den Rücken kehrte, konnte sie den Wagenschlag aufmachen und in das Coupé steigen. Wenn der Wagen dann an der Freitreppe vorfuhr und Schagerström kam, um darin Platz zu nehmen, wollte sie ihm zu wissen tun, was sie über einen solchen Fluchtversuch dachte.

»Warum spricht er mit mir nicht über das, was ihn quält?« dachte sie. »Er ist ja wie ein schüchterner Junge.«

Aber ehe sie ihre Absicht ausführen konnte, war der Kutscher schon fertig. Er hängte die Zügel über das Verdeck, nahm den Kutschermantel, den er auf dem Bock liegen hatte, zog ihn an und wollte eben auf seinen Platz hinaufspringen, als ihm wohl die Laterne einfiel. Er sagte ein beruhigendes »Ruhig, ruhig!« zu den Pferden, ging zu der Laterne hin, löschte sie aus und trug sie in den Stall hinein.

Natürlich beeilte er sich soviel als möglich, aber in der Nähe war jemand, der noch rascher war als er. Gerade als er die Stalltür zumachte, knallte eine Peitsche. Ein eifriger Zuruf brachte die Pferde in vollen Lauf, und hinaus ging's durch das Hoftor, das der Kutscher vorsichtigerweise weit aufgemacht hatte, und die Allee hinunter. Der Wagen verschwand in der nächtlichen Dunkelheit. Man hörte nur noch das Räderrollen und Pferdegetrappel.

Wenn jemals ein Kutscher nach dem Herrenhause schneller gelaufen ist als seine eigenen Pferde, um dem Hausherrn zu berichten, daß irgendein verdammter Schlingel es gewagt habe, sich auf seinen Bock zu schwingen und ihm gerade vor der Nase mit seinem Wagen davonzufahren, so leistete dieses Kunststück jetzt der Kutscher Sundmann auf Groß-Sjötorp.

Im Flur traf er auf Schagerström im Gespräch mit der Haushälterin, die ihm mitteilte, daß die junge gnädige Frau verschwunden sei.

»Der Herr Hüttenbesitzer trug mir auf, sie zu grüßen und ihr zu sagen, er habe keine Zeit mehr gehabt, noch länger in der Scheune zu verweilen, aber sie solle nur weitertanzen, solange sie Lust habe, und wenn ich zu ihr trete, solle ich ...«

Der Kutscher ließ sie nicht ausreden. Er hatte wichtigere Nachrichten.

»Herr Hüttenbesitzer!« begann er.

Schagerström wendet sich nach ihm um.

»Was ist denn mit dir los?« sagte er. »Du siehst ja aus, wie wenn man dir deine Pferde gestohlen hätte.«

»Ja, das gerade hat man getan, Herr Hüttenbesitzer.«

Und er berichtete, was geschehen war.

»Aber die Pferde sind nicht schuld daran, Herr Hüttenbesitzer. Sie wären mir nicht davongelaufen, wenn nicht irgend jemand heimlich auf den Bock gesprungen wäre. Wenn ich nur begreifen könnte, wer es gewagt hat ...«

Er brach jäh ab. Schagerström hatte etwas ganz Unglaubliches getan. In Gegenwart des Kutschers, des Dieners und der Haushälterin hatte er sich auf einen Stuhl geworfen und war über deren Bestürzung in ein schallendes Gelächter ausgebrochen.

»Ach so, ihr begreift nicht, wer es gewagt hat, meine Pferde zu stehlen!« rief er noch immer lachend.

Die drei Untergebenen starrten ihn sprachlos an.

»Wir müssen den Dieb fassen,« sagte er, als sich seine Lachlust einigermaßen beruhigt hatte. »Sundmann, du mußt drei Pferde satteln, Johansson, du kommst und hilfst uns. Sie aber, Frau Sällberg, gehen der Sicherheit halber in die Wohnung hinauf und sehen nach, ob die gnädige Frau dort ist.«

Die Haushälterin verschwand, kam aber sofort wieder die Treppe herunter mit dem Bescheid, daß die gnädige Frau ganz gewiß nicht oben sei.

»Ach Gott, Herr Hüttenbesitzer, es wird doch kein Unglück passiert sein!« sagte sie.

»Das kommt darauf an, wie man's nimmt, Frau Sällberg. Aber merken Sie sich meine Worte! Bisher haben wir hier auf Groß-Sjötorp selbst regieren dürfen, von jetzt haben wir einen Herrn über uns bekommen.«

»Ach, darüber können wir uns ja nur freuen, Herr Hüttenbesitzer.«

Und siehe! Auf diese Worte hin klopfte Schagerström, der reiche Schagerström, die gute Alte auf ihre müden Schultern, schwang sie einmal im Kreise herum und rief:

»Frau Sällberg, Sie nehmen Ihr Schicksal mit der rechten Ergebenheit hin! Möchte ich es doch auch so können!«

Darauf lief er hinaus, um in Gesellschaft des Kutschers und seines Dieners dem Flüchtling nachzusetzen.

Eine ganz kleine Zeit nachher war alles entschieden. Die Ausreißerin war eingefangen und saß nun in der einen Wagenecke neben Schagerström. Sundmann hatte den Kutschersitz bestiegen und fuhr in gemächlichem Trab heimwärts, während der Diener Johansson die Reitpferde führte.

Charlotte war zuerst wohl eine halbe Meile weit rasch mit dem Wagen davongefahren; aber dann waren einige große Hügel vor ihr aufgetaucht, und trotz allem Peitschengeknall hatte sie die Pferde nicht dazu gebracht, rascher als im Schritt zu fahren, und so hatte sie sich schmählicherweise ergeben müssen.

Ein paar Minuten lang war es ganz still im Wagen gewesen, dann aber fragte Charlotte:

»Nun, wie war dir zumut?«

»Es war überwältigend,« antwortete Schagerström. »Ich verstehe jetzt, wie es einer Frau zumute sein muß, wenn ihr der Mann auf und davon geht.«

Im nächsten Augenblick fühlte Schagerström einen harten Griff an seiner Schulter.

»Du verstellst dich nur, du lachst ja. Du glaubst also gar nicht, daß ich auf und davon gehen wollte?«

»Geliebte,« begann Schagerström, »der einzige frohe Augenblick, den ich an diesem heutigen Tage gehabt habe, war, als Sundmann daherkam und mir mitteilte, daß du meine Pferde gestohlen habest.«

»Warum denn?« fragte Charlotte etwas einsilbig.

»Geliebte, ich verstand, daß du mich nicht abreisen lassen wolltest.«

»Daran hab' ich ganz und gar nicht gedacht,« brach Charlotte los. »Aber nun hat seit drei Wochen das ganze Kirchspiel über mich losgezogen, und wenn du nun auch noch davongefahren wärest ...«

»Allerdings,« warf Schagerström ein, »ich begreife, das hättest du nicht ertragen können.«

Er lachte vor Liebe und Glück, aber im nächsten Augenblick sagte er mit tiefernster Stimme:

»Meine Geliebte, wir wollen uns doch nun endlich einmal aussprechen. Sag' mir, ob du verstanden hast, warum ich gerade heute abend abreisen wollte?«

»Ja,« sagte das junge Mädchen mit fester Stimme. »Das hab' ich verstanden.«

»Warum hast du es dann verhindert?«

Charlotte schwieg. Er wartete lange auf eine Antwort; aber das Schweigen wurde nicht gebrochen.

»Wenn wir heimkommen,« sagte der Ehegatte, »findest du auf deinem Schlafzimmer einen Brief von mir vor. In diesem Briefe sage ich dir, daß ich aus den Umständen, die dich mir in die Arme geführt haben, keinen Vorteil ziehen werde. Du brauchst also unsere Ehe für nichts anderes zu halten als für eine Scheinehe.«

Wieder schwieg er, um noch einmal auf Antwort zu warten; aber keine Stimme wurde laut.

»In diesem Briefe sage ich weiter, um dir einen Beweis meiner Liebe zu geben und all das Leid, das ich über dich gebracht habe, wieder gutzumachen, wolle ich dir Groß-Sjötorp zum Erb und Eigentum schenken. Wenn wir erst rechtmäßig geschieden sind, wird es mir eine Freude sein, dich hier, wo dich alle Menschen schon lieben, auch ferner wohnen zu wissen.«

Abermals eine lange Pause; aber kein Wort drang über Charlottes Lippen.

»Das kleine Abenteuer hier ändert in keiner Weise irgend etwas, das in dem Briefe steht,« fuhr Schagerström fort. »Ich hab' es zuerst falsch aufgefaßt. Jetzt weiß ich's besser; es war nur ein Schelmenstreich, den du mir gespielt hast, um im Kirchdorfe nicht aufs neue verlästert zu werden.«

Jetzt rückte Charlotte ein wenig näher, dann fühlte Schagerström ihren warmen Atem an seiner Wange, und er hörte, wie sie ihm ins Ohr flüsterte:

»Der dümmste Kerl, der auf Gottes Erdboden herumläuft.«

»Was sagst du?«

»Soll ich es noch einmal sagen?«

Er legte hastig seinen Arm um sie und zog sie an sich.

»Charlotte,« sagte er, »jetzt mußt du reden. Ich muß wissen, wonach ich mich zu richten habe.«

»Nun ja,« begann sie in einem etwas verdrießlichen Tone, »es ist nichts Lustiges, was ich zu sagen habe; aber du freust dich vielleicht zu hören, daß Karl Artur gestern abend, ungefähr um diese Zeit, meine Liebe totgeschlagen hat.«

»Hat er das getan?«

»Er hat sie getötet. Er war ihrer wohl überdrüssig. Ich glaube fast, er hat es mit Wissen und Willen getan.«

»Geliebte!« sagte Schagerström. »Laß Karl Artur fahren! Sprich von mir! Wenn auch deine Liebe zu Karl Artur tot ist, so folgt daraus noch nicht ...«

»Nein, natürlich nicht. Ach, wenn du doch nur nicht so lange Erklärungen haben müßtest!«

»Du weißt am besten, wie dumm ich bin.«

»Siehst du, es ist sehr merkwürdig,« sagte Charlotte langsam und nachdenklich. »Ich liebe dich nicht, aber ich fühle mich wohl bei dir, und ich habe Vertrauen zu dir. Ich kann über alles mit dir reden, und ich kann mit dir scherzen. Ich fühle mich so geborgen und behaglich, wie wenn wir schon dreißig Jahre verheiratet wären.«

»Ungefähr so wie der Propst und die Pröpstin,« warf Schagerström mit einer gewissen Bitterkeit ein.

»Ja, ungefähr so,« fuhr Charlotte in demselben nachdenklichen Tone fort. »Du bist vielleicht damit nicht zufrieden, aber ich meine, es sei ein ganz schönes Ergebnis nach nur einem Tag. Ich hab' es gern, wenn du hier neben mir im Wagen sitzest und wenn du mir mit den Augen folgst, während ich tanze. Es macht mir Freude, mit dir bei Tisch zu sitzen und in deinem Hause zu wohnen. Ich bin dir dankbar, weil du mich von all dem Entsetzlichen weggeführt hast. Groß-Sjötorp ist entzückend, aber ich möchte nicht einen einzigen Tag hier wohnen, wenn du nicht da wärest, ich könnte mich ganz und gar nicht dareinfinden, wenn du von mir fortziehen würdest. Und doch ... Wenn das, was ich für Karl Artur gefühlt habe, Liebe war, so ist das jetzt keine Liebe.«

»Aber es kann Liebe werden,« sagte Schagerström leise, und eine tiefe Rührung klang aus seiner Stimme.

»Ja vielleicht,« erwiderte Charlotte. »Und weißt du was? Ich glaube, ich würde nichts dagegen haben, wenn du mich küßtest.«

Schagerströms Reisewagen war ein ausgezeichnetes Gefährt. Es fuhr dahin, ohne zu stoßen und zu rütteln. Der junge Hüttenbesitzer konnte die ihm erteilte Erlaubnis benützen.

 


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