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Samstag: Nachmittag und Abend

1

Wenn einem etwas Schweres zu tun bevorsteht, so ist es ein Glück, sich sagen zu können: »Es muß sein. Ich weiß, warum ich es tue. Es gab keinen andern Ausweg.«

Die heftige Unruhe legt sich dann vor der starken Überzeugung, daß man nichts anderes tun kann, als sich unterwerfen. Es ist wahr, wie man zu sagen pflegt, daß alles leichter zu ertragen ist, wenn nur einmal feststeht, daß es unabänderlich bleibt.

Als Charlotte nach Hause zurückgekehrt war, schrieb sie sofort ein paar Zeilen an Schagerström. Es waren wirklich nicht viele, die ihr aber viel Kopfzerbrechen verursachten. Schließlich hatte sie das Folgende zusammengebracht:

 

»Mit Berufung auf die letzten Zeilen Ihres Briefs möchte ich anfragen, ob Sie geneigt sind, sich morgen nachmittag um zwei Uhr in der Propstei einzufinden, um sich von dem Herrn Propst mit mir trauen zu lassen?

Ich bitte, dem Boten Ihre Antwort mitzugeben.

Ihre ergebene Dienerin          
Charlotte Löwensköld.«

 

Als dieser Brief zusammengefaltet und gesiegelt war, bat Charlotte den Propst um Erlaubnis, den Kutscher damit nach Groß-Sjötorp schicken zu dürfen. Dann begann sie, ihren beiden alten Freunden alles zu berichten, was geschehen war, und sie auf die Ereignisse des kommenden Tages vorzubereiten.

Aber die Frau Propst unterbrach sie mit den Worten:

»Nein, weißt du was, das alles kannst du uns ein andermal erzählen. Jetzt geh hinauf und ruh' dich ein Weilchen aus, du siehst aus wie ein Gespenst.«

Sie führte Charlotte hinauf in ihr Stübchen, nötigte sie, sich aufs Sofa zu legen, und deckte sie mit einem Tuche zu. »Nun mach' dir keine Gedanken,« sagte sie, »und schlaf so lang wie möglich! Ich wecke dich, wenn es Zeit zum Mittagessen ist!«

In Charlottes Kopf wirbelten die Gedanken in tollerer, qualvollerer Hast als je zuvor, aber nach und nach legten sie sich zur Ruhe. Sie schienen einzusehen, daß hier nichts mehr zu tun war, daß alles abgemacht, alles ganz unabänderlich war. Und dann führte der Schlaf das arme Mädchen auch endlich fort von allem miteinander.

Sie schlief einige Stunden. Die Frau Propst steckte zwar, wie sie versprochen hatte, den Kopf herein, als das Mittagessen aufgetragen wurde; aber als sie Charlotte schlafend fand, störte sie sie nicht. Erst als der Kutscher mit Schagerströms Antwort zurückkam, wurde sie geweckt.

Charlotte öffnete den Brief und fand nur eine Zeile.

»Ihr ergebener Diener wird die Ehre haben, sich einzufinden.«

Sie sandte den Zettel an Frau Sundler und begann nun noch einmal mit dem Propst und seiner Frau ihr Schicksal zu besprechen; aber sie wurde abermals unterbrochen. Ihre Schwester, die Doktorin Romelius, ließ sie zu sich rufen. Sie hatte am Morgen einen heftigen Blutsturz gehabt.

»Jetzt gibt es aber wirklich nur noch lauter Unglücksfälle!« rief die Frau Propst. »Natürlich ist sie schwindsüchtig, so hat sie ja schon seit langem ausgesehen. Selbstverständlich mußt du sofort zu ihr, mein Herzenskind. Wenn dir's nur nicht zuviel ist!«

»Aber gewiß nicht, gewiß nicht,« versicherte Charlotte und machte sich eiligst bereit zu diesem zweiten Gang am heutigen Tag ins Kirchdorf.

Sie fand ihre Schwester in ihrem Salon, in einem Sessel mit hoher Rückenlehne sitzend, mit all ihren Kindern um sich her. Zwei lehnten sich an sie, zwei saßen auf einem Schemel zu ihren Füßen, und die beiden Kleinsten lagen oder krochen auf dem Boden herum. Diese hatten keine Ahnung von Krankheit und Gefahr; aber die vier, die schon etwas mehr Verstand hatten, zeigten sich voller Angst und Unruhe. Es sah aus, als bildeten sie einen Wall um ihre Mutter her, als wollten sie sie gegen einen neuen Anfall schützen.

Keines von ihnen rührte sich bei Charlottes Eintritt. Der älteste Junge hob nur warnend den Finger auf.

»Mama darf sich nicht bewegen und nicht sprechen,« flüsterte er.

Es war keine Gefahr, daß Charlotte ihre Schwester zum Sprechen verleiten würde. Sowie sie das Zimmer betrat, drückte ihr etwas die Kehle zu. Sie kämpfte, das Weinen zu unterdrücken.

Die sogenannte gute Stube der Doktorin war ein kleines kaltes Zimmer mit den Birkenmöbeln, die sie von ihren Eltern geerbt hatte. Es war ein Sofa, ein Tisch, zwei Lehnsessel, zwei kleine Fenstertischchen und sechs Stühle. Das waren lauter alte schöne Sachen, aber da sonst gar nichts weiter im Zimmer war, nicht das kleinste Stück Teppich, kein Blumentopf am Fenster, war der Raum Charlotte immer äußerst ungemütlich vorgekommen. Es hatte ihr immer weh getan, bei ihren Besuchen hier sitzen zu müssen, aber es war deshalb doch immer so geblieben. Ihre Schwester hatte sie niemals in eines der andern Zimmer geführt. Charlotte hegte den Verdacht, die übrige Wohnung sei sehr dürftig und armselig ausgestattet, und deshalb werde sie nicht hineingelassen.

Die Ärzte pflegen sonst wohlhabende Leute zu sein, aber Romelius, der nur immer im Wirtshaus saß und trank, verdiente wohl so gut wie nichts und gab Frau und Kinder der größten Not und Entbehrung preis. Ach, Charlotte begriff wohl: die Doktorin, die ihren Mann liebte, wollte nicht, daß die Schwester ihn tadeln sollte, deshalb hatte sie die beiden so weit wie möglich auseinandergehalten und Charlotte auch keinen Einblick in die Verhältnisse gestattet.

Als nun Charlotte sah, daß die Schwester sie in all ihrem Elend doch wieder im Salon empfing, war sie tief gerührt. Das tat sie um ihres Mannes willen. Sie wollte ihn also immer noch schützen.

Charlotte trat zu ihrer Schwester und küßte sie auf die Stirne.

»Ach, Marie Luise, Marie Luise!« flüsterte sie.

Die Doktorin sah mit einem schwachen Lächeln zu ihr auf. Dann neigte sie den Kopf nach der genau aufhorchenden Kinderschar und sah hierauf wieder zu Charlotte empor.

»Ja, gewiß,« sagte Charlotte verständnisinnig.

»Hört, Kinder,« fuhr sie in so kräftigem und bestimmtem Tone fort, daß sie sich selbst wunderte, woher sie die Kraft dazu nahm, »Frau Propst Forsius schickt euch Backwerk. Ich hab' es draußen im Flur in meinem Beutel. Kommt nur mit, ihr werdet Augen machen!«

So lockte sie die Kinder aus dem Zimmer, verteilte das Backwerk unter sie und schickte sie dann in den Garten, um dort zu spielen.

Als Charlotte wieder zu ihrer Schwester hineinkam, setzte sie sich auf den Schemel zu deren Füßen, nahm deren harte, abgearbeitete Hände in die ihrigen und legte ihre Wange darauf.

»So, Liebste, jetzt sind sie weg. Nun sag' mir, was du von mir wolltest.«

»Wenn ich sterbe,« sagte die Kranke, schwieg aber gleich wieder aus Furcht vor einem neuen Hustenanfall.

»Ja, richtig,« versetzte Charlotte, »du darfst nicht sprechen. Aber du hast mich bitten wollen, mich deiner Kinder anzunehmen, falls du von hinnen gehst. Das gelobe ich dir, Marie Luise.«

Die Schwester nickte, und während sie Charlotte dankbar zulächelte, fiel eine Träne aus ihren Augen.

»Ich wußte, du würdest mir beistehen,« hauchte sie.

»Sie fragt gar nicht einmal, wie ich es machen soll, mich ihrer Kinder anzunehmen,« dachte Charlotte, die über diesem neuen Elend ganz vergessen hatte, was am Vormittag vorgefallen war. Aber dann kam ihr plötzlich der Gedanke: »Gewiß kannst du dich der Kinder annehmen, du wirst ja reich. Du heiratest ja doch Schagerström.«

Dann stieg ein neuer Gedanke in ihr auf. »Am Ende ist alles so gekommen, wie es kam, damit ich Marie Luise helfen kann.«

Nun dachte sie zum erstenmal mit einer gewissen Befriedigung an ihre Heirat mit Schagerström. Bisher hatte sie sich nur in geduldiger Unterwerfung in diese Sache gefunden.

Sie schlug der Schwester vor, sich von ihr zu Bett bringen zu lassen. Aber die Doktorin schüttelte den Kopf. Sie hatte noch etwas auf dem Herzen.

»Du darfst die Kinder nicht bei Richard lassen,« sagte sie.

Charlotte versprach auch das von Herzen. Zu gleicher Zeit aber war sie sehr verwundert. Marie Luise war also nicht in solch blinder Bewunderung für ihren Mann befangen, wie sie geglaubt hatte. Sie merkte, daß dieser schon zu weit heruntergekommen war und man die Kinder seinem Einfluß entziehen mußte.

Aber die Schwester schien ihr noch etwas anvertrauen zu wollen.

»Ich fürchte die Liebe,« sagte sie. »Ich wußte ja, wie Richard war, aber die Liebe zwang mich, ihn zu nehmen. Ich hasse die Liebe.«

Charlotte merkte wohl, daß sie das sagte, um sie zu trösten. Sie wollte damit sagen, daß auch die heftigste Liebe ein Irrtum sein und der Grund zum unheilvollsten Mißgriff werden könne. Es wäre besser, sich vom Verstand leiten zu lassen.

Charlotte hätte gern gesagt, sie für ihr Teil werde die Liebe bis zu ihrer Todesstunde hochhalten und ihr trotz aller Qual, die sie durch sie erlitten, niemals zürnen; aber die Doktorin bekam einen ihrer gefährlichen Hustenanfälle, der jede Erwiderung abschnitt. Sobald wieder etwas Ruhe eingetreten war, beeilte sich Charlotte, das Bett zurechtzumachen und ihre Schwester hineinzulegen.

An diesem Abend erfüllte Charlotte alle Hausmutterpflichten in dem kleinen Heim. Sie bereitete den Kindern ihr Abendbrot, leistete ihnen während des Essens Gesellschaft und brachte sie zu Bett.

Aber als sie dabei die Kleider, das Bettzeug, das Kochgeschirr und das Porzellan zwischen die Finger bekam, entsetzte sie sich. Wie war das alles zerschlissen, zersprungen! Es fehlte am notwendigsten Hausgerät. Wie unordentlich, wie untauglich war das Dienstmädchen! Wie zerlumpt die Kinderkleider! Wie übel mitgenommen Tische und Stühle! Hier fehlte eine Rückenlehne, dort war ein Bein abgeschlagen!

Charlotte brannten die Tränen in den Augen, aber sie ließ sie nicht herausfließen. Tiefes Mitleid mit der Schwester überkam sie, mit ihr, die eine solche Armut ertragen hatte, ohne ein Wort der Klage, ohne eine Bitte um Hilfe.

Während dieser Arbeiten ging Charlotte immer wieder zu ihrer Schwester hinein, die nun ruhig und ohne Schmerzen im Bette lag und der Charlottes Fürsorge offenbar äußerst wohl tat.

»Jetzt sollst du aber etwas recht Schönes hören,« sagte Charlotte. »Du sollst dich künftig nicht mehr so plagen müssen. Ich schicke dir morgen ein ordentliches Dienstmädchen. Dann darfst du ruhig im Bett liegen und dich pflegen, bis du wieder ganz auf dem Damm bist.«

Die Kranke lächelte zaghaft. Man sah wohl, diese Aussicht machte ihr Freude. Aber Charlotte glaubte zu bemerken, daß noch irgend etwas ihre Schwester beunruhigte, was sie ihr noch nicht hatte abnehmen können.

»Es ist schon zu spät,« dachte Charlotte. »Sie weiß, daß sie sterben muß. Da kann sie nichts mehr trösten.«

Nach einem Weilchen stand sie wieder am Bett. Sie entwickelte allerlei Pläne, wie die Schwester in irgendein Bad gebracht und dort richtig verpflegt werden sollte. »Du weißt doch, daß ich jetzt reich werde. Du kannst dich auf mich verlassen.«

Es war Charlotte zuwider, auf diese Weise von dem Schagerströmschen Reichtum zu sprechen; aber der Schwester machte es Freude. Der Gedanke, daß Charlotte eine reiche Frau werde, war die beste Arznei für sie.

Sie nahm Charlottes Hände und streichelte sie voll Dankbarkeit, aber noch sah sie nicht völlig beruhigt aus.

»Was mag sie noch quälen?« dachte Charlotte. Sie hatte wohl einen Verdacht, wollte aber nicht darauf achten. Es war ja doch undenkbar, daß Marie Luise auch für ihren Mann bitten wollte. Jetzt, wo sie von allem entblößt, zugrunde gerichtet, todkrank im Bette lag! Nein, es mußte etwas anderes sein.

Nachdem alle Kinder zu Bett waren, ging Charlotte zu ihrer Schwester hinein, um ihr gute Nacht zu sagen.

»Ich will jetzt gehen,« sagte sie, »aber ich gehe noch an der Krankenwärterin vorbei und bitte sie, heute nacht bei dir zu wachen. Morgen bin ich wieder zeitig hier.«

Abermals streichelte Marie Luise die Hand ihrer Schwester aufs zärtlichste. »Morgen hab' ich dich nicht nötig, aber komm am Montag wieder!«

Charlotte verstand: ihre Schwester erwartete, ihr Mann, der heute Krankenbesuche machte, werde am Sonntag daheim bleiben. Sie wollte nicht, daß Charlotte mit ihm zusammentraf.

Noch immer hielt die Kranke Charlottes Hand fest, und diese sah wohl, daß sie sie noch um etwas bitten wollte.

Sie beugte sich herab und strich eine Locke aus der Stirn der Kranken. Ach, sie glaubte eine Sterbende berührt zu haben, und in dem plötzlichen Gefühl, sie habe heute vielleicht zum letztenmal ihre tapfere, treue Schwester gesehen, versuchte sie ihr noch einmal entgegenzukommen und sagte:

»Schagerström und ich werden uns auch um Romelius annehmen, das verspreche ich dir.«

Ach, welch ein Freudenschimmer flog da über das Gesicht der Kranken! Sie drückte Charlottes Hand an die Lippen.

Dann sank sie in die Kissen zurück. Ihre Augen schlossen sich, und nach einer keinen Weile war sie ruhig und friedlich eingeschlafen.

»Ich habe es ja gewußt,« dachte Charlotte. »An ihn hat sie gedacht, ich habe es ja gewußt, sie kann die Liebe nicht hassen.«

 

2

Es war zehn Uhr vorüber, als Charlotte von ihrem Besuch bei der Doktorin heimkehrte. Als sie das Gartentor öffnete, traf sie mit dem Stubenmädchen und der Köchin zusammen, die, aus einer andern Richtung kommend, auch auf dem Heimweg waren.

Sie erzählten sofort, sie kämen von einer Betstunde der Pietisten in Holma. Die Versammlung habe in einer alten Schmiede stattgefunden. Es sei überfüllt gewesen, und Doktor Ekenstedt habe gesprochen. Nicht nur aus dem Kirchdorfe, von allen Seiten seien die Leute herbeigeströmt.

Charlotte wollte fragen, ob Karl Artur wieder so schön gesprochen habe wie bisher; aber die beiden Mädchen waren allzueifrig in ihrem Bericht über das Gehörte und ließen sie gar nicht zu Worte kommen.

»Und Doktor Ekenstedt sprach beinahe die ganze Zeit nur über Sie, Fräulein Charlotte,« sagte das Hausmädchen. »Er sagte, er und alle andern Leute hätten Ihnen großes Unrecht angetan. Sie seien niemals falsch und hinterlistig gewesen, das wolle er aller Welt zu wissen tun.« – »Ja, er erzählte, was das gnädige Fräulein gesagt habe und was er gesagt habe, damals, als Sie Streit bekamen,« fügte die Köchin hinzu. »Er wollte, wir sollten alle begreifen, wie alles zugegangen war. Aber ich glaube nicht, daß er recht damit getan hat. Vor mir saßen ein paar Burschen, die bogen sich vor Lachen.«

»Da waren natürlich noch viele, die lachten und ihren Spaß daran hatten,« nahm das Hausmädchen wieder das Wort, »aber das waren nur solche, die rein gar keinen Verstand haben. Alle andern fanden es sehr schön. Und zum Schluß bat er, wir sollten uns alle im Gebet für das gnädige Fräulein vereinigen, denn das gnädige Fräulein gehe nun einen gefährlichen Weg, sagte er. Das gnädige Fräulein wolle einen reichen Mann heiraten. Und dann erinnerte er uns an Jesu Wort, wie schwer es für die Reichen sei, ins Himmelreich zu kommen ... Aber wo ist denn das Fräulein hingekommen?«

Charlotte war ohne ein Wort hinweggeeilt. Wie gehetzt lief sie ins Haus, durch den Flur und die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Rasch zog sie ihre Kleider aus, ohne erst Licht anzuzünden, und lag dann unbeweglich, ins Dunkel starrend, in ihrem Bett.

»Jetzt ist es vollbracht,« murmelte sie. »Karl Artur hat die Liebe getötet.«

Bisher war ihm das noch nicht gelungen. Er hatte der Liebe Wunden geschlagen, sie verachtet, verschmäht, verleumdet, aber trotz allem hatte sie weitergelebt. Nicht am geringsten freundlichen Blick hatte sie sich erfreuen dürfen, und dennoch war sie am Leben geblieben.

Aber jetzt, nach diesem mußte sie sterben.

Charlotte fragte sich selber, warum das, was er jetzt getan hatte, so viel schwerer zu ertragen sei als alles andere? Sie konnte es sich selbst nicht erklären, aber sie wußte, es war so.

Karl Artur hatte es gewiß gut gemeint. Er hatte sie wieder zu Ehren bringen wollen. Er hatte gesprochen, um sein Gewissen zu erleichtern. Aber jedenfalls hatte er ihrer Liebe den Todesstoß gegeben.

Ach, sie fühlte sich ganz verarmt! Niemand mehr haben, von dem man träumen, nach dem man sich sehnen kann! Wenn sie etwas Schönes las, sollte der Held nicht mehr ganz von selber die geliebten Züge tragen! Wenn sie Musik hörte, die von Liebessehnsucht durchglüht war, sollte sie sie nicht mehr verstehen, weil das Echo in ihrem Herzen fehlte!

Würde sie denn an Blumen, Vögeln oder Kindern noch etwas Schönes sehen können, nachdem ihr ihre Liebe verlorengegangen war?

Diese Ehe, in die zu treten sie im Begriff war, lag vor ihr wie eine weite, öde Wüste. Hätte sie noch ihre Liebe gehabt, dann wäre ihre Seele doch nicht ihres ganzen Inhalts beraubt gewesen. Jetzt sollte sie in dem fremden Hause sitzen mit der Leere um sich und der Leere in sich.

Sie dachte an die Frau Oberst. Jetzt wußte Charlotte, was ihren Zorn hervorgerufen hatte, warum sie so streng und drohend aussah. Auch sie hatte immerfort daran denken müssen, daß Karl Artur ihre Liebe getötet habe.

Auch mit Schagerström beschäftigten sich Charlottes Gedanken. Sie fragte sich, was wohl die Frau Oberst an ihm gefunden habe, das ihr den Wunsch eingegeben, er möchte ihr Sohn sei. Das war keine leere Höflichkeit gewesen, ihre Worte mußten einen tieferen Grund haben.

Charlotte brauchte sich nicht lange zu besinnen, sie wußte, was die Frau Oberst an ihm entdeckt hatte – Schagerströms Fähigkeit, zu lieben. Und darauf verstand Karl Artur sich nicht. Er war einer wahren Liebe nicht fähig.

Charlotte lächelte etwas ungläubig. Konnte Schagerström besser lieben als Karl Artur? Hatte er sich denn nicht durchaus rücksichtslos gezeigt, sowohl als er ihr den Heiratsantrag machte, als auch bei dem Aufgebot? Aber die Frau Oberst hatte einen klareren Blick als alle andern, sie wußte, Schagerström würde in einem Herzen, das ihn liebte, die Liebe niemals töten.

»Es ist eine große, schwere Sünde, die Liebe zu töten,« flüsterte Charlotte in die Dunkelheit hinein.

Im nächsten Augenblick fragte sie sich, ob Karl Artur das wohl mit Absicht und Überlegung getan habe. Er, der fünf Jahre lang ihr Verlobter gewesen war, mußte wohl wissen, daß nichts sie so tief verletzen konnte, wie sein Gerede über sie und ihre Liebe vor einem zusammengelaufenen Menschenhaufen, dem sie nun der Gegenstand des Gelächters oder eines zudringlichen Mitleids wurde. Oder war es vielleicht Thea Sundler gewesen, die ihn dazu vermocht hatte, um Charlotte endlich aus dem Feld zu schlagen? Fühlte sie sich noch immer nicht sicher? War es ihr notwendig erschienen, ihr auch noch diese tödliche Schmach anzutun, trotzdem sie Charlotte nun verheiratet und Karl Artur vollständig entfremdet hatte?

Wessen Schuld es war, konnte ihr schließlich gleichgültig sein. In diesem Augenblick fühlte Charlotte nur den gleichen Widerwillen gegen beide.

Noch eine ganze Weile war sie die Beute eines ohnmächtigen Zornes. Eine Träne floß aus ihren Augen und benetzte ihr Kopfkissen.

Aber in Charlottes Adern floß altes schwedisches Adelsblut, und in ihrer Seele wohnte die echte schwedische Willenskraft, der edle, stolze Wille, der sich um keine Niederlage kümmert, sondern mit ungebrochener Spannkraft aufspringt zu neuem Kampf.

Da saß sie auch schon aufrecht im Bett und schlug ihre Fäuste gegeneinander, daß es schallte.

»Eines weiß ich gewiß,« sagte sie, »die Freude werde ich ihnen nicht machen, in meiner Ehe unglücklich zu sein!«

Und mit diesem guten Vorsatz, fest in die Seele gepflanzt, legte sie sich wieder in die Kissen zurück und schlief ein. Sie erwachte erst, als die Frau Propst um acht Uhr hereinkam, mit einem blumenbekränzten Kaffeebrett, um den bevorstehenden feierlichen Tag würdig einzuleiten.


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