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Hoch oben in den Wolken

1

Das Gabelfrühstück in der Propstei, wo man frische Eier mit belegten Broten und Brei mit Sahneschneeballen aß, dann noch eine kleine Tasse Kaffee trank und dazu die herrlichen weichen Brezeln verzehrte, die im ganzen Kirchspiel nirgends so ausgezeichnet hergestellt werden konnten wie in der Propstei, diese Mahlzeit pflegte die behaglichste des ganzen Tages zu sein. Die beiden Alten, der Propst und seine Gattin, die um diese Zeit erst aus dem Bette kamen, waren dabei so frisch und munter wie siebzehnjährige junge Leutchen. Die nächtliche Ruhe hatte sie erfrischt. Die Altersmüdigkeit, die sich später am Tage erkennbar machte, war wie weggeblasen, und sie pflegten sich sowohl mit den jungen Hausbewohnern als gegenseitig zu necken.

Aber natürlich konnte an einem Morgen wie diesem von irgendeinem Scherz keine Rede sein. Die beiden jungen Leute waren in Ungnade gefallen. Charlotte hatte sie durch die Art, wie sie gestern Schagerström geantwortet, sehr betrübt, und der Hilfsgeistliche hatte sie durch sein gestriges Ausbleiben von den Mahlzeiten, ohne irgendwelche Benachrichtigung zu schicken, gekränkt.

Als Charlotte sehr rasch hereinkam und sich an den Eßtisch setzte, wo die andern schon Platz genommen hatten, wurde sie mit einem strengen Ausruf empfangen.

»Hast du die Absicht, dich mit diesen Fingern an den Tisch zu setzen?« fragte die Frau Propst.

Charlotte richtete den Blick auf ihre Hände, die in der Tat von dem eifrigen Schreiben stark mit Tinte bekleckst waren.

»Ach nein!« versetzte sie lachend. »Du hast ganz recht, liebe Tante. Verzeih, verzeih!«

Sie eilte zur Tür hinaus und kehrte gleich darauf mit reinen Händen zurück, ohne eine Spur von Verdrossenheit über die Zurechtweisung, die ihr überdies in Gegenwart ihres Bräutigams erteilt worden war.

Frau Forsius sah sie etwas verwundert an.

»Was ist jetzt los?« dachte die alte Dame. »An dem einen Tag zischt sie wie eine Schlange und am nächsten girrt sie wie eine Taube; nein, aus der Jugend kann heutzutage kein Mensch mehr klug werden.«

Nun brachte Karl Artur schnell eine Entschuldigung wegen seiner Versäumnis vor. Er habe einen Spaziergang machen wollen, sich aber dann so müde gefühlt, daß er sich auf einem Waldhügel zum Ausruhen niedergelegt habe. Er sei dann eingeschlafen, und beim Erwachen habe er zu seiner großen Überraschung sowohl das Mittagessen als auch das Abendbrot verschlafen gehabt.

Nun wurde Frau Forsius froh gestimmt; der junge Mann hatte doch so viel Lebensart, daß er sich entschuldigte.

»Du brauchst nicht gar so schüchtern zu sein, Karl Artur,« sagte sie gnädig. »Wenn wir auch schon gegessen hatten, so hätten wir dir doch immer noch etwas vorsetzen können.«

»Du bist allzu gütig, Tante Regina.«

»Nun mußt du aber heute doppelt soviel essen, damit du das Versäumte nachholst.«

»Ach, ich habe keinen Hunger gelitten, Tante. Ich ging auf dem Heimweg zu Sundlers hinein, und Frau Sundler hat mir Abendbrot gegeben.«

Ein ganz kleiner Ausruf drang bei diesen Worten über Charlottes Lippen. Karl Artur richtete rasch seine Augen dahin, und im selben Augenblick verbreitete sich eine dunkle Röte über sein ganzes Gesicht. Er hätte Frau Sundlers Namen nicht aussprechen dürfen. Jetzt würde vielleicht Charlotte aufspringen und sagen, sie wisse nun, wer es gewesen sei, der sie angeklagt habe. Und sie würde einen Auftritt herbeiführen.

Aber Charlotte rührte sich nicht. Und auf ihrem Gesicht spiegelte sich die größte Seelenruhe wider. Wenn Karl Artur nicht gewußt hätte, welche Hinterlistigkeit hinter dieser weißen Stirn wohnte, hätte er gesagt, durch diese Stirne strahle ein inneres Licht.

Es war übrigens durchaus nicht merkwürdig, daß Charlotte die Verwunderung ihrer Tischgenossen erregte. In ihrer Seele ging wirklich etwas ganz Außerordentliches vor.

Oder vielleicht ist es unrecht, es so zu nennen, nachdem es nichts anderes war, als was jedes von uns schon manchmal erfahren hat, wenn wir nach unserem schwachen Vermögen versucht haben, eine schwere Pflicht zu erfüllen oder uns eine Entsagung aufzuerlegen. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß wir während der Vollbringung mißgestimmt waren. Keine Begeisterung, ja nicht einmal das Bewußtsein, recht und klug zu handeln, kam uns zu Hilfe, und was wir für uns selbst von der guten Tat erwarteten, war nichts anderes als fortgesetzter Jammer und neues Elend. Aber dann, ganz plötzlich, merkten wir, wie unser Herz vor Freude zu springen anfing, wie es sich so leicht bewegte wie eine Tanzende und eine vollkommene Befriedigung unser Sein erfüllte. Durch ein Wunder fühlten wir uns über unser gewöhnliches alltägliches Ich hinausgehoben, und wir empfanden eine absolute Gleichgültigkeit für alle Unannehmlichkeiten, ja, wir waren überzeugt, daß wir von diesem Augenblick an ganz unberührt durch die Welt gehen würden; nichts würde von nun an imstande sein, die ruhige, feierliche Freude, die uns erfüllte, zu stören.

Etwas Derartiges war es, was Charlotte überkommen hatte, während sie ihr Frühstück aß. Das Gefühl ihres Unglücks, der Zorn, die Rachsucht, der verletzte Stolz, die verschmähte Liebe, alles war von dem großen Jubel, der ihre Seele jetzt erfüllte, weil sie sich für den Geliebten geopfert hatte, zurückgedrängt worden.

In diesem Augenblick gab es in ihrem Herzen kein anderes Gefühl als liebevolle Sanftmut und zärtliches Verstehen. Alle Menschen waren bewunderungswürdig, sie konnte sie nur nicht ganz so lieben, wie sie es eigentlich wert gewesen wären. Sie betrachtete den Herrn Propst Forsius – ein kleiner vertrockneter Greis mit kahlem Scheitel, glattrasiertem Kinn, einer mächtigen Stirne und kleinen lebhaften Augen! Er sah mehr einem Universitätsprofessor ähnlich als einem Pastor, und er hatte auch tatsächlich die Laufbahn eines Mannes der Wissenschaft einschlagen wollen. Im achtzehnten Jahrhundert geboren, wo man noch für Linné schwärmte, hatte er sich der Naturwissenschaft zugewendet und war eben auf dem Punkte gewesen, Professor der Botanik in Lund zu werden, als er an die Kirche in Korskyrka berufen wurde.

Die Gemeinde hatte nämlich seit Jahren nur Pfarrer mit Namen Forsius gehabt. Die Pfarrei war stets als eine Art Fideikommiß vom Vater auf den Sohn übergegangen, und da der Professor der Botanik Petrus Forsius der Letzte dieses Namens war, hatte man ihn gebeten, ja angefleht, die Blumen ihrem Schicksal zu überlassen und sich dafür der Seelsorge zu widmen.

All dies hatte Charlotte schon lange gewußt, aber sie meinte jetzt, sie habe bisher noch nie verstanden, welches Opfer das Aufgeben seines Lieblingsstudiums für den alten Herrn gewesen sein müsse. Es war allerdings ein sehr guter Propst aus ihm geworden. In seinen Adern floß das Blut von so vielen vortrefflichen Pfarrern, daß er seinem Amte als etwas Selbstverständlichem und Angeborenem vorstand. Aber aus vielen kleinen Zügen glaubte Charlotte doch zu merken, wie tief er es noch immer empfand, daß er nicht auf seinem rechten Platz bleiben und nicht seiner eigentlichen Lebensarbeit hatte nachkommen dürfen.

Jetzt, seit er einen Vikar hatte, sah man den fünfundsiebzigjährigen Greis seine botanischen Studien wieder aufnehmen. Er wanderte umher und sammelte Pflanzen, klebte sie auf und ordnete sie in sein Herbarium ein. Darum ließ er aber in der Gemeinde doch nicht fünfe gerade sein. Vor allem war er sehr genau darauf bedacht, jederzeit den Frieden aufrechtzuerhalten, damit sich kein Zerwürfnis, das die Gemüter verbitterte, einschleichen könnte, sondern damit im Gegenteil die Ursache des Zerwürfnisses entfernt würde. Deshalb war er auch über die scharfe Antwort, die Charlotte am gestrigen Tage Schagerström gegeben hatte, höchst ungehalten gewesen. Aber gestern war Charlotte eine andere gewesen als heute. Da hatte sie den alten Herrn nur furchtsam und unnötig ängstlich gefunden. Jetzt auf einmal verstand sie ihn auf ganz andere Weise.

Und Frau Forsius ...

Charlotte richtete ihren Blick auf die alte Dame, deren große knochige Gestalt keine Spur von einem angenehmen Äußern zeigte. Das Haar, das nicht ergrauen wollte, obgleich sie fast ebenso alt war wie ihr Gatte, trug sie in der Mitte gescheitelt und über die Ohren herabgekämmt, und dann verschwand es unter einer schwarzen Tüllhaube. Die Haube verhüllte einen guten Teil des Gesichts, und Charlotte hielt das eigentlich für Berechnung, denn die Frau Propst hatte nicht viel Schönes vorzuweisen. Sie meinte vielleicht, es genüge, wenn man ihre Augen betrachte, die zwei runden Pfefferkörnern glichen, sowie ihre Stumpfnase mit den großen Nasenlöchern, ihre Augenbrauen, die nur aus ein paar ganz kleinen Wischen bestanden, ihren breiten Mund und ihre vorstehenden Backenknochen.

Sie sah sehr streng aus, aber wenn sie auch ihre Hausbewohner etwas stramm im Zaume hielt, so war sie doch gegen sich selbst am strengsten. Sie gönnte sich nie einen Augenblick Ruhe und Erholung. Im Dorfe pflegte man von ihr zu sagen, es wäre nicht angenehm, in Frau Propst Forsius' Haus zu sterben. Für sie war es sicherlich kein Vergnügen, mit einer Stickerei oder einem Strickzeug ruhig auf einem Sofa zu sitzen, nein, richtige grobe Arbeit mußte sie tun, wenn Frau Forsius sich zufrieden fühlen sollte. In ihrem ganzen Leben hatte sie sich niemals etwas so Unnützliches vorgenommen, wie einen Roman zu lesen oder auf einem Klavier herumzuklimpern.

Charlotte, die die Tante Forsius vielleicht bisweilen unnötig arbeitseifrig gefunden hatte, konnte sie an diesem Morgen gar nicht genug bewundern. War es nicht schön, wenn man sich selbst niemals schonte, sondern bis in sein hohes Alter unermüdlich tätig war? War es nicht schön, wenn man alles bis in den kleinsten Winkel sauber und ordentlich haben wollte, wenn man eigentlich vom Leben nichts weiter begehrte, als recht viel arbeiten zu dürfen?

Und außerdem war Frau Forsius durchaus nicht langweilig. Welchen Blick hatte sie für alles Komische, welch ein Talent, mit lustigen Einfällen herauszurücken, bei denen sich die Leute vor Lachen biegen mußten.

Frau Forsius hatte sich indessen mit Karl Artur noch weiter über Frau Sundler unterhalten. Er sagte, er habe sie aufgesucht, weil sie die Tochter von Malwina Spaak, einer alten Freundin seiner Familie, sei.

»Gewiß, gewiß,« sagte Frau Forsius, die ganz Värmland kannte und vor allem alle, die sich in Beziehung auf Haushaltung einen guten Namen erworben hatten. »Malwina Spaak war eine tüchtige und reelle Person.«

Nun fragte Karl Artur, ob Frau Forsius die Tochter nicht für ebenso vortrefflich halte wie die Mutter.

»Ich kann nichts anderes sagen, als daß sie ihr Hauswesen gut besorgt,« erwiderte Frau Forsius, »aber ich fürchte, sie ist ein wenig verdreht.«

»Verdreht?« wiederholte Karl Artur in fragendem Tone.

»Ja gewiß, verdreht. Kein Mensch im Dorfe hat sie gern, und deshalb hatte ich ein wenig mit ihr zu reden versucht, aber weißt du, was sie mir einmal sagte, als sie sich verabschiedete? Ja, sie sagte wirklich zu mir, indem sie die Augen verdrehte: ›Wenn Sie eine silberne Wolke mit goldenem Rand sehen, dann denken Sie an mich!‹ Jawohl, das sagte sie. Was hat sie nur damit sagen wollen?«

Als Frau Forsius dies erzählte, zuckte es um ihren Mund. Es war ja ganz unwiderstehlich komisch, daß irgendein kluger Mensch auf die Idee kommen sollte, sie, Frau Forsius, zu bitten, nach einer Wolke mit goldenem Rand auszuschauen.

Sie gab sich die größte Mühe, das Lachen zu unterdrücken. Hatte sie sich doch vorgenommen, während des ganzen Frühstücks streng und ernst zu sein. Charlotte sah, wie sie mit sich kämpfte. Es war ein harter Kampf; doch plötzlich kam das ganze Gesicht in Bewegung, die Augen zogen sich zusammen, die Nasenflügel weiteten sich, der Mund verzog sich, und schließlich kam unwiderstehlich das Lachen. Das ganze Gesicht verzerrte sich, und der Körper machte die komischsten Bewegungen.

Und jetzt mußten alle andern mitlachen, es war ihnen ganz unmöglich, ernst zu bleiben. »Eigentlich,« dachte Charlotte, »braucht man die Frau Propst Forsius nur lachen zu sehen, und dann muß man sie liebhaben.«

Nun sah man nicht mehr, daß sie häßlich war. Man mußte unwillkürlich dem dankbar sein, der in seinem Innern so viel Fröhlichkeit beherbergte.

 

2

Gleich nach dem Frühstück, sobald Karl Artur das Eßzimmer verlassen hatte, sagte Frau Forsius zu Charlotte, ihr Mann habe beschlossen, an diesem Vormittag einen Besuch auf Groß-Sjötorp zu machen. Und obgleich sich das junge Mädchen noch immer in derselben inneren Begeisterung befand, wurde sie bei dieser Mitteilung doch von einer leichten Unruhe befallen. Würde das nicht Karl Arturs Verdacht bestärken? Aber sie beruhigte sich sofort wieder. Sie lebte ja droben in den Wolken. Was sich hier unten auf der Erde zutrug, hatte eigentlich recht wenig für sie zu bedeuten.

Schon um halb elf Uhr fuhr der große Landauer vor. Propst Forsius fuhr natürlich nicht mit einem feinen Gespann, aber seiner grauweißen Nordlandspferdchen mit den schwarzen Mähnen und Schwänzen, seines stattlichen Kutschers, der seine schwarze Livree mit großer Würde trug, brauchte er sich wahrhaftig auch nicht zu schämen. Um die Wahrheit zu sagen, so konnte man an der ganzen Propstei-Equipage keinen andern Fehler entdecken, als daß die Pferde etwas zu wohlgenährt waren. Der Propst verwendete viel zuviel Sorgfalt auf sie. Es war ihm auch schwer gefallen, sie an diesem Tage aus dem Stalle zu nehmen. Wenn es gegangen wäre, wäre der Propst viel lieber in einem Einspänner weggefahren.

Die Frau Propst und Charlotte waren an diesem Tage zum Elfuhrkaffee bei Frau Apotheker Gråberg eingeladen. Frau Gråberg feierte ihren Namenstag. Da der Weg nach Groß-Sjötorp an dem Kirchdorfe vorüberführte, durften sie sich mit in den Wagen setzen und ein Stück mitfahren.

Als der Wagen nun durchs Tor in den Hof hereinfuhr, wendete sich Charlotte dem Propst zu, wie wenn ihr plötzlich etwas eingefallen wäre.

»Der Hüttenbesitzer Schagerström hat mir heute morgen einen schönen Strauß Rosen geschickt, ehe ihr beide aufgestanden waret. Wenn du es für richtig hältst, könntest du ihm ja ein paar Worte des Dankes dafür sagen, Onkel.«

Man kann sich die Freude und Verwunderung der beiden alten Leute vorstellen. Das nahm ihnen wirklich einen großen Stein vom Herzen. Es würde also kein Unfriede in der Gemeinde entstehen. Schagerström war nicht beleidigt, wie er es rechtmäßigerweise wohl hätte sein können.

»Und das sagst du erst jetzt!« rief Frau Forsius. »Du bist doch wirklich mehr als sonderbar!«

Jedenfalls war sie jetzt höchst entzückt. Sie fragte, wann der Strauß in die Propstei gebracht worden sei, ob er schön gebunden gewesen, ob vielleicht ein Brieflein zwischen den Blumen gesteckt habe, und noch alles mögliche in dieser Art.

Der Propst aber nickte Charlotte nur zu und versprach, ihre Botschaft zu bestellen. Zugleich richtete er sich auf; offenbar war ihm eine wirkliche Last von der Seele genommen.

Charlotte fragte sich, ob sie am Ende jetzt wieder eine Unvorsichtigkeit begangen habe. Aber an diesem Morgen konnte sie eben keine Ruhe finden, bis alle Menschen vergnügt waren, wenigstens soweit es dabei auf sie ankam. Sie fühlte einen unendlichen Drang, sich für das Glück anderer aufzuopfern.

Der Wagen hielt gerade an der Stelle, wo der Weg nach der Stadt von der großen Landstraße abbog, und die beiden Damen stiegen aus. Es war tatsächlich fast genau derselbe Platz, wo Karl Artur am gestrigen Tage das schöne Mädchen aus Dalarne getroffen hatte.

Bei ihren Besuchen im Kirchdorfe blieb Charlotte stets gerade hier an diesem Platze stehen, um die schöne Aussicht zu bewundern. Der kleine See, der den Mittelpunkt der Landschaft bildete, war hier besser zu sehen als von der Propstei aus, die entschieden etwas nieder lag. Von hier aus konnte man alle die recht abwechslungsreichen Ufer des Sees übersehen. Auf der linken Seite, wo sich Charlotte jetzt eben befand, breiteten sich ebene Äcker aus, und da herrschte große Fruchtbarkeit, das konnte man an den vielen umherliegenden Dörfern ersehen. Nach Norden lag die Propstei, die auch von ebenen und wohlbebauten Feldern umgeben war, aber drüben im Nordosten schloß sich eine mit Laubwäldern bestandene Gegend an. Ein Fluß rauschte mit einem schäumenden Wasserfall daraus hervor, und zwischen den Bäumen tauchten schwarze Dächer und hohe Schornsteine auf. Dort drüben lagen zwei ansehnliche Eisenhämmer, die noch mehr als die Äcker und Wälder zum Reichtum der ganzen Gegend beitrugen. Sah man dann aber wieder gen Süden, so begegnete dem Auge lauter Kargheit. Da erhoben sich niedrige Hügel mit dichtem Waldbestand. Denselben Anblick bot auch der östliche Strand. Diese Seite des Sees wäre einem melancholisch und einförmig vorgekommen, wenn es nicht einmal einem reichen Hüttenbesitzer eingefallen wäre, mitten im Walde auf dem Hügelabhang ein Herrenhaus zu erbauen. Das weiße Gebäude, das aus dem Tannenwalde herausragte, nahm sich außerordentlich gut aus. Durch eine sinnreiche Verteilung der Bäume im Park war ein eigenes Trugbild entstanden. Man meinte ein richtiges Schloß mit Mauern und Seitentürmen vor sich zu sehen. Diese Stelle war die Perle der ganzen Gegend. Man hätte das Schloß um keinen Preis auf diesem Platz missen mögen.

Charlotte, die heute in einer andern Welt lebte, schenkte weder dem See noch dem Herrenhause einen einzigen Blick. Statt dessen blieb die alte Frau Propst, die sich sonst wirklich nicht viel aus Naturschönheiten machte, stehen und schaute über die Landschaft hin.

»Warte nur einen Augenblick,« sagte sie. »Sieh dir Berghamra dort drüben an. Denk dir, man behauptet, Groß-Sjötorp sei noch viel größer und noch viel schöner. Ja, weißt du was? Wenn ich wüßte, daß jemand, den ich liebhabe, auf einem großartigen Herrensitz wohnt, das würde mich sehr glücklich machen.«

Mehr sagte sie nicht, aber sie blieb noch immer stehen, wackelte mit dem Kopfe und faltete ihre alten, runzligen Hände fast wie in stiller Anbetung.

Charlotte, die ihre Absicht wohl verstand, erwiderte rasch:

»Ja, gewiß, es muß herrlich sein, dort in dem dunklen Tannenwald zu wohnen, wohin nie ein Mensch kommt. Das ist etwas anderes, als an der großen Heerstraße zu sein, wie wir in der Propstei.«

Darauf drohte die alte Dame, die recht gern die Menschen auf dem Wege hin und her unterwegs sah, Charlotte mit aufgehobenem Finger.

»Ja ja, du!«

Damit nahm sie Charlottes Arm und wanderte mit ihr auf der angenehmen Straße, die von Anfang bis zu Ende von großen herrschaftlichen Gebäuden umgeben war, weiter dem Ort zu. Nur im Anfang zeigten sich einige kleine Hütten. Wenn sich weiter solche fanden, so lagen sie abseits an dem Waldhügel hinauf und waren von der Straße aus nicht zu sehen. Die alte Stadtkirche mit ihrem hohen spitzen Turm, die wie eine Ahle hoch in die Luft hinaufragte, der Gerichtshof, das Gemeindehaus, der große belebte Gasthof, die Doktorwohnung, das Haus des Landrats, das etwas von der Straße zurückstand, ein paar große Bauernhöfe und die Apotheke, die am Ende der Straße lag und sie gleichsam abschloß, all dies legte nicht allein Zeugnis davon ab, welch eine reiche Gegend Korskyrka war, sondern zeigte zugleich auch, daß man auf der Höhe der Zeit war und nicht tatenlos und rückständig verblieb.

Aber als die Frau Propst und Charlotte nun im besten Einvernehmen die Straße entlang wanderten, dankten sie ihrem Gott, daß sie nicht gezwungen waren, hier zu wohnen, hier, wo man auf allen Seiten Nachbarn hatte, wo man keinen Schritt vor die Tür machen konnte, ohne daß alle Menschen es wußten und sich fragten, wohin man gehe. Sobald sie in den Ort hineingekommen waren, sehnten sie sich auch schon nach der Propstei zurück, die ganz für sich selbst lag und wo man sein eigener Herr war. Sie meinten, sie würden sich erst wieder so recht behaglich fühlen, wenn sie sich auf dem Heimwege befänden und die dickstämmigen Lindenbäume der Propstei aus der Ferne auftauchen sähen.

Endlich traten sie durch die Haustür der Apotheke. Es war ihnen, als seien sie etwas spät dran. Als sie die knarrende Holztreppe nach der oberen Wohnung hinaufstiegen, hörten sie über ihren Köpfen das Durcheinander von vielen Stimmen, das wie das Summen eines Bienenschwarms an ihr Ohr drang.

»Heute geht es ja recht lebhaft her,« sagte Frau Forsius. »Hör' nur, wie eifrig sie reden! Es muß etwas Besonderes geschehen sein.«

Charlotte hielt mitten auf der Treppe an. Noch keinen Augenblick war ihr in den Sinn gekommen, Schagerströms Werbung, die aufgehobene Verlobung und Karl Arturs Verlobung mit dem Mädchen aus Dalarne könnten schon zum allgemeinen Gesprächsstoff geworden sein. Aber jetzt überschlich sie plötzlich eine Angst, am Ende war es gerade dies alles, was da droben so eifrig und mit erhobenen Stimmen verhandelt wurde.

»Da ist natürlich die verwünschte Organistenfrau am Werke gewesen, die hat geklatscht,« dachte sie. »Das ist mir eine schöne Vertraute, die sich Karl Artur angeschafft hat.«

Aber keinen Augenblick überlegte sie, ob sie umkehren solle. Einem Haufen Klatschbasen aus dem Wege zu gehen, wäre ja selbst unter gewöhnlichen Verhältnissen nicht für sie in Frage gekommen, wieviel weniger an diesem Vormittage, wo sie für alles, was Tadel hieß, vollständig unempfänglich war. Als die neuen Gäste in das große Zimmer traten, wo alle, die der Frau Apotheker zum Namenstage gratulierten, sich aufhielten, entstand ringsum ein verhängnisvolles Schweigen. Nur eine einzige alte Dame, die eben dabei war, ihrer Nachbarin etwas aufs eifrigste zu erklären, saß mit aufgehobenem Zeigefinger da und rief:

»Und noch etwas, Liebste, das kürzlich geschehen ist!«

Alle Anwesenden sahen verlegen aus. Mit dem Erscheinen der Damen aus der Propstei war gar nicht gerechnet worden.

Immerhin eilte die Frau Apotheker den beiden neuen Gästen aufs freundlichste entgegen, und Frau Forsius, die ja von all dem, was Charlotte und Karl Artur angestellt hatten, gar nichts wußte, war vollkommen unbefangen, obgleich sie recht wohl merkte, daß nicht alles so war, wie es sein sollte. So alt sie auch war, ihre Knie waren noch so geschmeidig wie die einer Tänzerin, und nun machte sie zuerst vor der ganzen Gesellschaft eine tiefe Reverenz. Dann ging sie herum und begrüßte alle der Reihe nach unter beständigen kleinen Verbeugungen. Und Charlotte, der ein schlecht verhehltes Mißfallen entgegenzuströmen schien, folgte dicht hinter Frau Forsius. Ihre Verbeugungen waren allerdings bedeutend weniger tief als die der Pröpstin, aber mit dieser konnte man ja ohnedies nicht in Wettbewerb treten.

Doch bald wurde Charlotte eins klar – alle Anwesenden wichen ihr aus. Als sie ihre Tasse Kaffee erhalten hatte und sich damit an einem der Fenster niederließ, kam niemand herbei und setzte sich auf den leeren gegenüberstehenden Sessel. Ganz genau so war es auch, als der Kaffee getrunken war und Strickzeug und Stickereien aus den Ridikülen und Taschen hervorgeholt wurden. Man ließ sie ganz allein an dem Fenster sitzen, niemand schien eine Ahnung von ihrer Anwesenheit zu haben.

Ringsherum saßen die Damen in kleinen Gruppen beisammen. Sie steckten die Köpfe so nahe zusammen, daß die Spitzen und Rüschen ihrer großen Tüllhauben einander berührten. Alle dämpften die Stimmen, damit Charlotte nichts verstehen sollte, aber doch faßte sie einmal ums andere ihr eifriges: »Und noch etwas, Liebste, und noch etwas, das kürzlich geschehen ist.«

Aha, jetzt erzählten sie einander, daß sie, Charlotte, Schagerströms Werbung zuerst abgewiesen habe. Es habe sie aber nachher gereut, und so habe sie auf die hinterlistigste Art einen Streit mit ihrem Bräutigam vom Zaun gebrochen, damit er die Verlobung auflöse. Höchst pfiffig war das ja ausgedacht! Von ihr sollte niemand sagen können, sie habe einen armen Mann im Stich gelassen, um die gnädige Frau von Groß-Sjötorp zu werden. Der ganze feinausgedachte Plan wäre auch geglückt, und sie wäre jeglichem Tadel entgangen, wenn die Frau des Organisten ihre bösen Absichten nicht erraten hätte.

Charlotte saß ganz still drüben am Fenster und ließ das Stimmengewirr an sich vorüberziehen. Nicht einen Augenblick fiel ihr ein, daß sie aufstehen und sich verteidigen könnte. Die hochgespannte Gemütsverfassung, in der sie sich befand, hatte jetzt ihren Höhepunkt erreicht. Sie fühlte keinen Schmerz, sie wanderte auf den Wolken hoch über allem Irdischen.

Dieses ganze giftige Summen hätte sich ja gegen Karl Artur gewendet, wenn sie nicht schützend vor ihm gestanden hätte. Sonst hätte man von allen Ecken und Enden gehört: »Und noch etwas, Liebste! Haben Sie es gehört? Der junge Ekenstedt hat mit seiner Braut gebrochen? Und noch etwas, und noch etwas! Er ist auf die Landstraße hinausgelaufen und hat dem ersten besten Mädchen, das ihm in den Weg kam, einen Heiratsantrag gemacht. Und noch etwas, und noch etwas! Meinen Sie, Liebste, ein solcher Mensch könne noch länger in Korskyrka als Pfarrer bleiben? Und noch etwas, und noch etwas! Was wird nur der Bischof dazu sagen!«

Ja, Charlotte war froh, daß das alles über sie kam!

Während nun Charlotte ganz allein da am Fenster saß und ihre Begeisterung noch immer zunahm, weil sie Karl Artur schützte, kam schließlich eine kleine, blasse, magere Dame zu ihr hin.

Das war Charlottes Schwester, Marie Luise Löwensköld, die Frau des Doktor Romelius. Sie hatte sechs Kinder und einen dem Trunke ergebenen Mann, war zehn Jahr älter als Charlotte, und es hatte nie eine richtige Vertraulichkeit zwischen ihnen geherrscht.

Frau Romelius stellte keine Fragen, sie setzte sich nur Charlotte gegenüber und strickte an einem Kinderstrumpf. Aber um ihren Mund lag ein sehr strenger Zug. Sie wußte, was sie tat, als sie sich an den Fensterplatz begab, das war wohl zu merken.

Da saßen nun die beiden Schwestern und fingen beständig denselben Ausruf auf: »Und noch etwas, Liebste! Und noch etwas!«

Nach einer Weile sahen sie, daß Frau Sundler mit der Frau Propst flüsternd verhandelte.

»Jetzt erfährt es Tante Regina,« dachte die Schwester.

Charlotte stand halb von ihrem Stuhl auf, bereute es jedoch sofort und setzte sich wieder nieder.

»Hör', Marie Luise,« sagte sie nach einer kleinen Weile, »wie war denn das mit Malwina Spaak? War da nicht eine Art Prophezeiung, eine Wahrsagung?«

»Ja, wahrhaftig, ich glaube, du hast recht,« antwortete die Schwester; »aber ich kann mich auch nicht mehr so ganz darauf besinnen. Es war irgendein unglückliches Schicksal, das die Familie Löwensköld treffen sollte.«

»Vielleicht kannst du doch erfahren, wie es sich damit verhält,« antwortete Charlotte.

»Natürlich. Ich muß es irgendwo schwarz auf weiß haben. Aber jedenfalls ging es uns nichts an, sondern nur die Löwenskölds auf Hedeby.«

»Danke,« sagte Charlotte, und wieder herrschte Schweigen zwischen ihnen.

Nach einer Weile schien indes der Frau Doktor Romelius bei all den Lästerreden, die durch das Gemach surrten, die Geduld auszugehen. Sie neigte sich zu Charlotte hin und sagte im Flüsterton:

»Ich verstehe alles miteinander. Du schweigst Karl Arturs wegen. Ich könnte allen den hier Anwesenden leicht mitteilen, wie sich alles verhält.«

»Schweig' um Gottes willen!« entfuhr es Charlotte in höchstem Schrecken. »Was hat es dabei zu tun, wie es mir geht? Karl Artur hat sehr große Gaben.«

Die Schwester verstand Charlotte sofort. Sie selbst liebte ihren Mann, obgleich er sie schon seit ihrer Hochzeit mit seinem Trinken unglücklich gemacht hatte. Noch immer hoffte sie, er werde sich wieder fassen und ein wahres Wunder von einem Arzt werden.

Als die Feier des Namenstages endlich ihr Ende erreicht hatte, und die Damen sich verabschiedeten, war es die dicke Organistenfrau, die im Flur genau aufpaßte, um der Frau Propst beim Umlegen ihrer Mantille zu helfen und ihr auch das Hutband zu knüpfen.

Charlotte, die sich sonst nie das Recht nehmen ließ, ihrer alten mütterlichen Freundin zu helfen, stand etwas blaß daneben und sah zu, sagte aber kein Wort. Als sie auf die Straße hinauskam, war es wieder die Organistenfrau, die herbeieilte und der Frau Propst den Arm anbot. Charlotte mußte sich damit begnügen, allein nebenher zu gehen.

Frau Sundler stellte Charlottes Geduld mehr als sonst jemand auf die Probe; aber sie wußte ja, daß sie sie loswurde, sobald sie am äußeren Ende der Straße die Organistenwohnung erreicht haben würden.

Doch nein, als sie glücklich so weit gekommen waren, fragte Frau Sundler, ob sie nicht bis zur Propstei mitgehen dürfe? Ein wenig Bewegung nach dem langen Stillesitzen würde ihr sehr gut tun.

Frau Forsius machte keine Einwendung, und so setzten sie ihren Weg wie vorher fort. Auch jetzt sagte Charlotte nichts. Sie schritt nur etwas weiter aus, so daß sie den andern eine kleine Strecke vorauskam und so die salbungsvolle, schleppende Stimme der Organistenfrau nicht mehr zu hören brauchte.


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