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Die Strafpredigt

»Gina, mein lieber Schatz,« sagte der alte Propst, »ich verstehe mich nicht mehr auf Charlotte. Wir müssen sie um eine Erklärung bitten.«

»Gewiß, da hast du ganz recht,« stimmte seine Frau bei. »Soll ich sie vielleicht sofort rufen lassen?«

Schagerström war abgereist, und Karl Artur auf sein Zimmer gegangen. Wenn das Ehepaar ein kleines Verhör mit Charlotte vornehmen wollte, so war die Gelegenheit jetzt besonders günstig.

»An einem Tag gibt sie Schagerström einen Korb, und am nächsten nimmt sie seinen Antrag dankbar an,« sagte der alte Herr. »Hat man je so eine Wetterfahne gesehen. Ich muß ihr wirklich ein paar Worte der Ermahnung sagen.«

»Sie hat sich niemals darum gekümmert, was andere Leute über sie sagten,« seufzte Frau Forsius. »Aber dies übersteigt doch alle Grenzen.«

Sie war schon auf dem Wege nach dem perlbestickten Glockenzug, doch plötzlich blieb sie stehen. Sie hatte im Vorbeiweg einen Blick auf ihres Mannes Gesicht geworfen. Die fünf kleinen Runzeln mitten auf seiner Stirne glühten noch immer wie feurige Kohlen, während die Haut sonst vollkommen aschgrau war.

»Weißt du was,« sagte die alte Dame. »Ich frage mich, ob du auch genügend vorbereitet bist, um jetzt gleich mit Charlotte zu reden. Man kommt nicht so leicht mit ihr zurecht. Wie wäre es, wenn du bis zum Abend warten würdest, damit du dir etwas recht Treffendes ausdenken kannst.«

Die gute Frau gönnte ihrer lieben Gesellschafterin sicherlich eine ordentliche Zurechtweisung; aber ihr Gatte war nach der langen Fahrt und der starken Gemütsbewegung sichtlich müde, er durfte nicht sofort einem neuen aufregenden Gespräch ausgesetzt werden.

Fast in demselben Augenblick meldete das Hausmädchen auch, daß das Mittagessen auf dem Tisch stehe. Das war also eine weitere Veranlassung, die Charlotte zugedachte Strafpredigt aufzuschieben.

Das Essen wurde unter drückendem Schweigen eingenommen. Bei den vier Hausgenossen war es mit dem Appetit ebenso schlecht bestellt wie mit der guten Laune. Die Schüsseln und Platten wurden fast ebenso voll wieder hinausgetragen, wie sie hereingebracht worden waren. Man saß nur da, weil es eben sein mußte.

Als die Mahlzeit zu Ende war und Charlotte sowie Karl Artur jedes nach seiner Richtung verschwunden waren, riet die Frau Propst ihrem Manne aufs eindringlichste, doch seinen gewohnten Mittagsschlaf Charlottes wegen nicht zu versäumen. Es eile doch wirklich nicht so sehr mit dieser Strafpredigt. Charlotte sei ja im Hause, er könne jeden Augenblick mit ihr sprechen, sobald er nur wolle.

Der Propst war vielleicht nicht sehr schwer zu überreden. Aber jedenfalls wäre es besser gewesen, er hätte den Kampf sofort aufgenommen, denn kaum war er von seinem Mittagsschlaf aufgewacht, als auch schon ein Brautpaar sich einfand, das von dem Herrn Propst selbst getraut werden wollte. Dadurch war die Zeit bis zur Kaffeestunde ganz besetzt, und gerade als man vom Kaffeetisch aufstand, kam der Rentmeister dahergewandert, um mit dem Propst Brett zu spielen. Dann saßen die beiden alten Herrn beisammen und klapperten mit ihren Steinen, bis es Zeit zum Bettgehen war, und damit war für diesen Tag Schluß.

Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Am Mittwoch sah der Propst vollkommen frisch aus. Jetzt konnte er Charlotte ins Gebet nehmen; es stand kein Hindernis mehr im Wege.

Ach, aber mitten am Vormittag entdeckte Frau Forsius ihren Gatten im Garten, wo er eben dabei war, ein Gemüsebeet zu reinigen, weil die Disteln überhandzunehmen drohten.

»Ja, ja, ich weiß wohl, ich sollte jetzt mit Charlotte reden,« sagte er, sobald er seine Frau erblickte. »Ich denke auch an nichts anderes. Sie soll eine Strafpredigt bekommen, wie sie noch nie eine gehört hat. Ich bin auch nur in den Garten herausgegangen, um meine Gedanken noch mehr zu sammeln.«

Mit einem leichten Seufzer wandte sich die Frau Propst wieder ihrer Küche zu. Sie hatte alle Hände voll zu tun. Es war jetzt Ende Juli, da mußte Spinat eingesalzen, grüne Erbsen getrocknet und Himbeeren zu Eingemachtem und Saft eingekocht werden.

»Ei, ei,« dachte sie, »mein Mann macht sich viel zuviel Mühe. Er setzt wohl eine ganze Predigt zusammen. Aber so geht es bei den Pfarrern. Sie verschwenden viel zuviel Beredsamkeit an uns arme Menschen.«

Trotz ihrer Arbeit hatte sie begreiflicherweise doch ein wachsames Auge auf Charlotte, damit diese nichts Ungehöriges tue. Aber eine solche Wachsamkeit war kaum notwendig. Schon am Montag, ehe Schagerström nach der Propstei gekommen war und diesen ganzen unangenehmen Zustand im Hause hervorgerufen hatte, war Charlotte mit einer großen Arbeit beschäftigt gewesen; sie schnitt alte abgetragene Kleider in lauter Streifen, die zu einem Bodenteppich zusammengewoben werden sollten. Sie und Frau Forsius waren auf den Speicher gestiegen und hatten alte Tuchröcke hervorgesucht, die zu nichts Besserem mehr verwendbar waren, als zusammengeschnitten zu werden. Diese Kleider sowie noch eine Menge andere ältere Kleidungsstücke hatten sie in die Anrichte hinuntergetragen, wo solche Arbeiten, bei denen es viel Abfall gab und die also nicht in den aufs peinlichste reingehaltenen guten Zimmern vorgenommen werden konnten, stets fertiggemacht wurden. Und den ganzen geschlagenen Dienstagnachmittag sowie auch den ganzen Mittwoch saß Charlotte in der Anrichte und schnitt und schnitt Stoffstreifen ohne Aufenthalt. Sie ging nicht zur Tür hinaus. Man war nächstens versucht, zu sagen, sie habe sich selbst zu freiwilligem Arrest verurteilt.

»Mag sie da sitzenbleiben!« dachte die Frau Propst. »Sie verdient es wahrhaftig nicht besser.«

Und die Frau Propst hatte auch ein wachsames Auge auf ihren Mann. Er verließ sein Salatbeet nicht und ließ auch Charlotte nicht rufen.

»Forsius setzt eine Predigt zusammen, die ein paar Stunden dauern wird,« dachte sie. »Gewiß hat Charlotte sich schlecht benommen, aber jetzt tut sie mir allmählich doch leid.«

Vor Mittag wurde jedenfalls nichts in der Sache getan. Dann kam das Essen, dann der Mittagsschlaf, der Nachmittagskaffee und das Brettspiel in der gewohnten Ordnung. Die Frau Propst wollte jetzt nichts mehr in der Sache tun. Es reute sie nur, daß sie ihren Mann nicht gestern mit Charlotte ins Gericht gehen ließ, während er noch ärgerlich war und frisch von der Leber weg geredet hätte.

Aber am späten Abend, als die beiden Alten Seite an Seite in dem großen zweischläfrigen Bette lagen, versuchte der Propst sich wegen der Verzögerung zu entschuldigen.

»Ach, es ist wirklich nicht leicht für mich, Charlotte eine Strafpredigt zu halten,« begann er. »Es fällt mir dabei so vieles ein.«

»Kümmere dich nicht um alte Geschichten!« redete ihm seine Frau zu. »Du denkst natürlich an jene Zeit, wo sie den Stallknecht holte und bei Nacht mit deinen Pferden ausfuhr und ausritt, weil sie Angst hatte, sie würden zu fett. Laß das alles jetzt ganz aus dem Spiele. Richte deine Worte nur so ein, daß wir erfahren, ob sie Karl Artur dazu gebracht hat, mit ihr zu brechen. Davon hängt alles miteinander ab. Die Leute haben nämlich schon angefangen, darüber zu tuscheln, ob wir Charlotte wohl noch länger in unserem Hause behalten würden.«

Der Propst lächelte ein wenig.

»Ja, es war ein rechter Freundschaftsdienst, den mir Charlotte damals erweisen wollte, als sie die Pferde nachts aus dem Stalle holte. Und genau so wollte sie mir ein anderes Mal eine Freude machen. Das war damals, als sie mir beweisen wollte, daß meine Pferde ebensogut laufen könnten wie die der andern, und deshalb mit ihnen an einem Trabfahren teilnahm.«

»Ja, wir haben sehr viel mit diesem Mädchen durchgemacht,« seufzte die gute Frau Propst. »Aber all dies ist ja jetzt vergeben und vergessen.«

»Gewiß, gewiß,« stimmte der Propst bei. »Aber da sind auch noch andere Dinge, von denen ich nicht wegkommen kann. Weißt du noch, wie es vor sieben Jahren hier bei uns stand, als Charlotte ihre beiden Eltern verloren hatte und wir sie bei uns aufnehmen mußten? Gine, mein lieber Schatz, damals sahst du nicht so aus, wie du jetzt aussiehst. Man hätte meinen können, du seiest schon achtzig Jahr alt. Du warst schwach und kraftlos und schlepptest dich nur so herum. Ich war in beständiger Angst, ich müßte dich verlieren.«

Die Frau Propst verstand sofort, worauf ihr Gatte anspielte. An dem Tag, wo sie fünfundsechzig Jahr alt wurde, hatte sie sich gesagt, nun habe sie sich lange genug mit ihrem Haushalt abgemüht, und so hatte sie sich eine Wirtschafterin angeschafft, die eine ganz vortreffliche Person war. Die Frau Propst hatte nirgends mehr selbst Hand mitanlegen müssen, ja, die Mamsell fand es nicht einmal wünschenswert, daß sich die Herrin in ihrer Küche zeigte. Aber gleichzeitig war die Frau Propst abgefallen, sie hatte sich müde und elend und merkwürdig mißmutig und unglücklich gefühlt. Man war wirklich ängstlich geworden, sie könnte dahinsiechen.

»Jawohl,« sagte Frau Forsius, »es ist wahr, als Charlotte zu uns kam, war ich recht wenig wohl, obgleich ich damals so gute Tage gehabt habe wie noch nie in meinem Leben. Aber Charlotte konnte sich mit meiner Hausmamsell durchaus nicht vertragen. Am Luciatag, so ganz mitten in den strengsten Weihnachtsvorbereitungen, gab Charlotte der Mamsell einen Nasenstüber, die Mamsell zog ab, und ich arme kranke Person mußte ins Brauhaus hinüber und die Fische einlaugen. Nein, das vergesse ich nie.«

»Und das sollst du auch nicht vergessen,« fiel ihr der Propst lachend ins Wort. »Gina, mein lieber Schatz, du bist ein altes Arbeitspferd. Du wurdest gesund, nur weil du wieder Fische einlaugen und das Weihnachtsbier brauen mußtest. Charlotte ist immer selbstherrlich und beschwerlich gewesen, ich will das nicht leugnen, aber mit jenem Nasenstüber hat sie dir das Leben gerettet.«

»Nun, und was soll ich dann von dir sagen?« entgegnete die Frau Propst sofort, die nicht gerne davon reden hören wollte, daß sie in diese beschwerlichen Arbeiten so verliebt sei und nicht ohne sie leben könne. »Wie war es denn mit dir? Du lägest jetzt wohl auch in deinem Grabe, wenn Charlotte nicht von der Kirchenbank heruntergefallen wäre.«

Der Propst verstand sofort, worauf seine Frau anspielte. Als Charlotte in die Propstei kam, hatte er selbst noch das ganze Pfarramt besorgt und dazu noch jeden Sonntag gepredigt. Seine Frau war ihm schon lange in den Ohren gelegen, er müsse sich nun einen Vikar nehmen. Sie war überzeugt, daß er sich vollständig aufrieb, und gleichzeitig war er auch gar nicht befriedigt, weil er keine Zeit mehr fand, sich seiner geliebten Wissenschaft zu widmen. Aber er hatte gesagt, er werde sein Amt verwalten, solange noch ein Funken Leben in ihm sei. Charlotte lag ihm nicht in den Ohren, aber eines Sonntags schlief sie mitten unter der Predigt ein, ja, sie schlief so fest, daß sie zur Bank hinausfiel, was in der Kirche natürlich allgemeine Aufregung hervorrief. Selbstverständlich war der alte Herr sehr empört gewesen, aber von da an begriff er, daß er doch zu alt zum Predigen sei. Er hatte sich einen Vikar eingetan, war dadurch einer Menge langweiliger Arbeiten enthoben worden und verjüngte sich zusehends.

»Ja gewiß,« sagte er. »Durch diesen Einfall hat sie mir eine ganze Reihe guter Jahre geschenkt. Und gerade das drängt sich mir auf, wenn ich sie schelten soll, und deshalb kann ich mit meiner Strafpredigt durchaus nicht zurechtkommen.«

Seine Frau erwiderte diesmal nichts, aber ganz im geheimen wischte sie sich eine Träne aus dem Auge.

Immerhin eins war ihr klar. Diesmal durfte Charlotte nicht ohne Zurechtweisung davonkommen, und so begann sie von neuem:

»Nun, all dies kann ja recht und gut sein; aber du wirst doch nicht sagen wollen, du habest gar nicht mehr im Sinn, herauszubringen, ob Charlotte es war, die den Bruch herbeigeführt hat?«

»Wenn man seinen Weg nicht ganz klar vor sich sieht, dann tut man am besten, zu schweigen und zu warten,« sagte der Propst. »Und ich glaube, wir sollten das diesmal tun, du und ich auch.«

»Du kannst die Verantwortung nicht auf dich nehmen, Schagerström Charlotte heiraten zu lassen, wenn sie so ist, wie die Leute behaupten.«

»Wenn Schagerström hierherkäme und mich fragte, dann weiß ich, was ich ihm antworten würde,« sagte der Propst.

»Ach so,« meinte seine Frau, »und was würdest du ihm denn antworten?«

»Ich würde zu ihm sagen: wenn ich selbst fünfzig Jahr jünger und ein Junggeselle wäre – – -«

»Was?« rief die Frau Propst, indem sie sich hastig im Bett aufsetzte.

»Ja, ich würde zu ihm sagen,« fuhr ihr Gatte unerschrocken fort, »wenn ich fünfzig Jahr jünger und ein Junggeselle wäre und ein Mädchen sähe wie Charlotte, ein Mädchen, das so voll sprudelnden Lebens ist und überdies etwas an sich hat, das kein anderes Mädchen aufweisen kann, dann würde ich selbst um sie freien.«

»Haha!« rief die alte Dame. »Du und Charlotte! Ja, ja, da würde es dir gut gehen!«

Ihre Arme fochten in der Luft, ihr Gesicht verzog sich, sie warf sich auf ihr Kissen zurück und brach in helles Gelächter aus.

Der alte Herr sah sie ein wenig entrüstet an, aber sie lachte immer weiter. Und bald lachte er mit. Beide bekamen einen wahren Lachkrampf, so daß sie erst lange nach Mitternacht einschlafen konnten.


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