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Samstag: Morgen und Vormittag

1

An einem Montag, genau vierzehn Tage nach jenem Montag, wo Schagerström zuerst als Freier gekommen war, hatte Charlotte zu entdecken gemeint, daß Thea Sundler in Karl Artur verliebt sei. Ein höchst merkwürdiges Gefühl hatte sich ihrer dabei bemächtigt. Nun glaubte sie ein Mittel in der Hand zu haben, um ihr verlorenes Glück wiederzuerlangen. Dieses Gefühl hielt auch noch die folgenden Tage an. Mit der Post am Dienstag erhielt sie außerdem ein Briefchen von der Frau Oberst, die ihr mitteilte, alles gehe über Erwarten gut und alle Mißverständnisse würden sich in kurzer Zeit aufklären. Dies alles stärkte ihren Mut, was auch durchaus nötig war.

Am Mittwoch erfuhr sie, Karl Artur werde nach Karlstadt reisen, um dem Begräbnis der Frau Dompropst Sjöberg beizuwohnen. Wie leicht konnte es da zu einer Aussprache kommen, und Frau Beate würde sicherlich die Gelegenheit benützen, um mit Karl Artur über Charlotte zu reden. Vielleicht kam dann doch endlich ihre Unschuld an den Tag. Vielleicht kehrte Karl Artur, über ihre Aufopferung gerührt, doch wieder zu ihr zurück. Sie hatte zwar keine Ahnung, wie es die Frau Oberst anzugreifen gedachte, um dieses Wunder zu bewirken; aber die kluge Frau fand ja doch immer noch Auswege, wo andere nur Dunkel und Hoffnungslosigkeit sahen.

Trotz aller Zuversicht, die Charlotte in ihre Schwiegermutter setzte, waren die Tage, die Karl Artur in Karlstadt zubrachte, doch recht schwer für sie. Charlotte fühlte sich stets zwischen Furcht und Hoffnung hin und her geworfen. Sie fragte sich, was die Frau Oberst wohl tun könnte. Sie selber, die Karl Artur alle Tage sah, konnte sich nicht verhehlen, daß seine Liebe zu ihr gänzlich erloschen war. Er saß mit ihr am gleichen Tisch, aber er sah an ihr vorbei und war sich gar nicht bewußt, daß sie zugegen war. Und das war kein Irrtum, es war unbestreitbar; für ihn war die Sache zu Ende. Seine Liebe war ein abgehauener Zweig, den keine Macht der Welt wieder am Baume befestigen und zum Wachstum bringen konnte.

Am Freitag wurde Karl Artur zurückerwartet, und das war natürlich der schwerste Tag. Charlotte saß schon am frühen Morgen an dem Eckzimmerfenster, das Aussicht auf den Flügel gewährte, und wartete. Zum tausendstenmal überdachte sie alles, was vorgefallen war, prüfte und forschte und war doch ebenso unsicher wie vorher. Sie fürchtete, dieses Warten den ganzen Tag ertragen zu müssen; aber siehe, Karl Artur traf schon um vier Uhr in der Propstei ein! Er ging sofort in den Flügel, kam aber gleich wieder heraus, eilte, ohne einen Blick auf das Wohnhaus zu werfen, durch das Tor und schlug den Weg ins Kirchdorf ein. Ach, zu Thea Sundler zog es ihn – nicht zu ihr!

Also, das war der Erfolg der Bemühungen seiner Mutter? Charlotte konnte sich nicht verhehlen, daß sie mißglückt waren.

Sie fühlte, wie jede Hoffnung in ihr erstarb. Nun sollte ihr auch niemals wieder jemand vorreden, es gebe noch Hilfe und Rettung für sie.

Und doch lebte die Hoffnung noch immer in ihr. Denn als am Samstag früh um sechs Uhr das Hausmädchen in Charlottes Zimmer trat, um ihr auszurichten, daß der Herr Dr. Ekenstedt Fräulein Charlotte um eine Unterredung bitte, deutete Charlotte diesen Bescheid gleich als einen Beweis der Liebe. Gewiß wollte er damit sagen, er wünsche zu der alten Vertraulichkeit und zu den alten Gewohnheiten zurückzukehren.

Auf einmal wurde es ihr zur Gewißheit, daß ihre Schwiegermutter Wort gehalten hatte und das große Wunder vollbracht war. Sie kam so eilig die Treppe herunter und in das Eßzimmer gelaufen, daß ihr die Locken um die Ohren flogen.

Aber beim ersten Blick auf Karl Artur sah sie, daß sie sich getäuscht hatte. Er stand bei ihrem Eintreten vom Frühstückstisch auf, aber von ausgebreiteten Armen, Küssen und Dankesbezeigungen für ihre Absicht, ihn zu schützen, war gar keine Rede. Ein paar Sekunden stand er ganz steif da, wie wenn ihr rasches Erscheinen ihm keine Zeit gelassen hätte, seine Gedanken zu sammeln; aber nach kurzem Überlegen begann er:

»Ich habe erfahren, daß du aus reiner Barmherzigkeit die Schuld an der Auflösung unseres Verlöbnisses auf dich genommen hast. Du bist sogar so weit gegangen, Schagerström dein Jawort zu geben und dich mit ihm in der Kirche aufbieten zu lassen, um diese Täuschung glaubhaft zu machen. Du hast es natürlich gut gemeint und geglaubt, mir damit einen großen Dienst zu leisten, du hast um meinetwillen viel Schmähung ertragen, und ich sehe ein, daß ich dir großen Dank dafür schuldig bin.«

Charlotte hatte ihre kalte Miene wiedergewonnen und trug ihren Nacken steifer als seit Wochen. Sie erwiderte nichts.

Er fuhr fort:

»Deine Handlungsweise scheint in erster Linie dem Wunsche zu entspringen, mich vor dem Zorn meiner Eltern zu schützen. Ich sehe mich aber genötigt, auszusprechen, daß diese Absicht gänzlich mißglückt ist. Jetzt, während meines Besuchs in Karlstadt, haben sich aus Anlaß meiner Heiratspläne zwischen meinen Eltern und mir große Unstimmigkeiten gezeigt, und diese führten zu einem vollständigen Bruch. Ich bin ihr Sohn nicht mehr, und sie sind nicht mehr meine Eltern.«

»Aber Artur,« rief das junge Mädchen und war mit einmal wieder ganz Feuer und Flamme, »was redest du da? Deine Mutter – hast du mit deiner Mutter gebrochen?«

»Liebe Charlotte, meine Mutter hat versucht, Anna Svärd zu bestechen, sich mit einem Burschen aus ihrer Heimat zu verheiraten. Sie hat in hinterlistiger Weise mein Lebensglück zu vernichten gestrebt. Sie versteht ja nichts davon, was für mich das einzig Wichtige ist. Meine Mutter will, daß ich wieder mit dir anknüpfen soll. Sie war sogar so vorsorglich, Schagerström zu dem Begräbnis einzuladen, um Gelegenheit zu haben, ihn zur Aufgabe seiner Ansprüche auf dich zu bestimmen. Aber ich brauche dir das alles wohl nicht zu wiederholen. Du bist natürlich in die Pläne meiner Eltern eingeweiht. Du bist ja eben auch so vergnügt ins Zimmer hereingekommen, denn du hattest angenommen, der schöne Plan sei geglückt.«

»Ich kenne die Pläne deiner Mutter nicht, Karl Artur, nein, ich kenne sie ganz und gar nicht. Das einzige, was sie mir gesagt hat, ist, daß sie keine der Lügen glaube, die Thea Sundler über mich verbreitet hat. Als ich erfuhr, du seist nach Karlstadt gegangen, dachte ich, sie teile dir vielleicht die Wahrheit mit. Das wurde mir zur Gewißheit, als du mich rufen ließest. – Aber Karl Artur, wir wollen nicht von mir sprechen! Du kannst doch nicht ernstlich böse auf deine Mutter sein, das ist doch nicht möglich! Willst du nicht gleich wieder zurückfahren und alles wieder gutmachen? Sag', willst du nicht, Karl Artur?«

»Wie könnte ich das? Morgen ist Sonntag, und ich habe zu predigen.«

»So schreib ein paar Worte und laß mich hinfahren! Bedenke doch, wie alt sie ist! Bis jetzt ist sie jung geblieben, weil sie dich gehabt hat, ihr Herz zu erfreuen. Du bist ihre Jugend, ihre Gesundheit gewesen. In dem Augenblick, wo du sie verläßt, wird sie alt. Da ist es aus mit ihrem Scherz und ihrer Fröhlichkeit. Sie wird vergrämt und verbittert werden, mehr als irgendein anderer Mensch. Ach, Karl Artur, ich fürchte, du tötest deine Mutter. Du bist ihr Gott gewesen, du kannst ihr Leben oder Tod geben. Laß mich hinfahren, Karl Artur, mit einem Wort von dir!«

»Das weiß ich alles, Charlotte, aber ich will nicht schreiben. Meine Mutter war schon krank, als ich Karlstadt verließ. Mein Vater bat mich, mich mit ihr zu versöhnen, aber ich hab' es abgelehnt. Sie hat geheuchelt und gelogen.«

»Aber Karl Artur, wenn sie geheuchelt und gelogen hat, so ist es zu deinem Besten geschehen. Ich weiß nicht, was sie drin in Karlstadt gegen dich verbrochen haben, aber was sie auch getan haben, sie wollten dein Glück. Da mußt du verzeihen. Kannst du nicht an die Zeiten denken, wo du noch ein Kind warst? Wie war deine Mutter damals? Was wäre dein Elternhaus ohne sie gewesen? Wenn du ein gutes Zeugnis von der Schule heimbrachtest, wäre dies so schön gewesen, wenn deine Mutter sich nicht so gefreut hätte? Wenn du von Upsala in den Ferien heimkamst, wäre es so schön gewesen, wenn deine Mutter dich nicht erwartet hätte? Wäre es an Weihnachten so schön gewesen, wenn deine Mutter sich nicht all die Überraschungen ausgedacht und die hübschen Verse gemacht und den Christbaum geschmückt hätte? Denk' doch daran, Karl Artur!«

»Ich bin gestern den ganzen Tag einsam und allein an der Landstraße gesessen und habe über meine Mutter nachgedacht. Nach den Begriffen der Welt ist sie eine vorzügliche Mutter gewesen. Ich gebe das zu nach deinen und der Welt Begriffen. Aber kann ich ihr dasselbe Zeugnis geben nach den Begriffen Gottes und den meinigen? Ich habe mich gefragt, Charlotte, was Christus zu einer solchen Mutter gesagt haben würde.«

»Christus,« erwiderte Charlotte mit einer Ergriffenheit, die ihr das Sprechen schwer machte, »Christus hätte das Äußerliche und Zufällige übersehen. Er hätte gesehen, daß eine solche Mutter imstande wäre, ihm bis an den Fuß des Kreuzes zu folgen, ja, sich für ihn kreuzigen zu lassen. Und danach würde er richten.«

»Du magst recht haben, Charlotte. Vielleicht könnte meine Mutter zwar für mich sterben, mich aber niemals mein eigenes Leben leben lassen. Meine Mutter würde niemals zugeben, daß ich Gott diene. Sie würde immer verlangen, ich solle ihr und der Welt dienen. Darum müssen unsere Wege auseinandergehen.«

»Nicht Christus gebietet dir, mit deiner Mutter zu brechen!« rief Charlotte heftig. »Thea Sundler ist's, die dir weismacht, sie und ich ...«

Karl Artur unterbrach sie mit einer Handbewegung.

»Ich wußte, daß diese Unterredung unangenehm sein würde, und ich hätte sie auch am liebsten vermieden, aber gerade die Person, die du eben nanntest und die du mit deinem Haß zu beehren beliebst, hat mich dazu veranlaßt, dir zu berichten, wie die Anstrengungen meiner Eltern verlaufen sind.«

»So, wirklich!« sagte Charlotte. »Das nimmt mich nicht wunder. Sie wußte ja, daß mich das tief betrüben, daß ich blutige Tränen weinen müßte.«

»Du kannst ihre Beweggründe deuten wie du willst, aber jedenfalls war sie es, die mich darauf aufmerksam machte, daß ich dir Dank schuldig sei für das, was du für mich tun wolltest.«

Charlotte, die wohl einsah, daß sie durch heftige Anklagen nichts gewinnen würde, bemühte sich, ruhiger zu werden und einen andern Weg einzuschlagen.

»Verzeih mir meine Heftigkeit!« sagte sie. »Ich wollte dich nicht verletzen, aber wie du weißt, hab' ich deine Mutter immer liebgehabt, und es kommt mir entsetzlich vor, zu denken, daß sie krank ist und auf ein Wort von dir wartet, das nicht kommt. Willst du mich wirklich nicht hinreisen lassen? Damit ist ja gar nicht gesagt, daß du dich auch mit mir versöhnen willst.«

»Gewiß kannst du hinreisen.«

»Aber nicht ohne ein Wort von dir.«

»Hör' auf mit bitten, Charlotte! Es nützt nichts.«

»Wie du es nur wagen kannst!« rief sie.

»Wagen? Was soll das heißen, Charlotte?«

»Denkst du nicht mehr an Upsala, und wie es dir nicht möglich war, eine schriftliche Arbeit zu machen, weil du unhöflich gegen deine Mutter gewesen warst?«

»Das werde ich nie vergessen.«

»Du mußt es indes doch vergessen haben. Aber ich sage dir, ehe du dich mit deiner Mutter ausgesöhnt hast, wirst du nie mehr so predigen können, wie an den beiden letzten Sonntagen.«

Er lachte. »Nein, Charlotte, bange machen gilt nicht.«

»Ich will dir nicht bange machen. Ich sage dir nur, wie es kommen wird. Sooft du eine Kanzel besteigst, mußt du daran denken, daß du verweigert hast, dich mit deiner Mutter zu versöhnen, und das wird dir alle Kraft rauben.«

»Beste Charlotte, du willst mir bange machen wie einem Kinde.«

»Denk' an meine Worte!« rief das junge Mädchen. »Bedenke sie, solange es noch Zeit ist! Morgen oder übermorgen kann es schon zu spät sein.«

Sie schritt der Tür zu, und nachdem sie diese Drohung ausgestoßen hatte, ging sie hinaus, ohne eine Entgegnung abzuwarten.

 

2

Nach dem Frühstück bat der Propst Charlotte, mit ihm in sein Zimmer zu kommen. Dort teilte er ihr mit, Schagerström, der gestern abend an seiner Frau vorbeigefahren sein müsse, habe durch seinen Diener einen großen Briefumschlag in der Küche abgeben lassen, der des Propstes Anschrift trage. Der eigentliche Inhalt habe sich aber als ein dicker Brief an Charlotte erwiesen. An den Propst habe Schagerström nur ein paar Zeilen geschrieben und ihn gebeten, Charlotte darauf vorzubereiten, daß der Brief schlimme und traurige Nachrichten enthalte.

»Ich bin nicht unvorbereitet, Onkel,« sagte Charlotte. »Heute früh hab' ich mit Karl Artur gesprochen und weiß nun schon, daß er mit seinen Eltern gebrochen hat und daß seine Mutter krank ist.«

Der alte Mann war aufs heftigste bestürzt. »Was sagst du? Was sagst du da, Herzenskind?«

Charlotte streichelte den Arm des Greises.

»Ich kann noch nicht darüber sprechen, Onkel. Aber gib mir meinen Brief.«

Sie nahm ihn aus der Hand des alten Mannes, ging auf ihr Zimmer und begann zu lesen.

Schagerströms Brief enthielt eine ganz ausführliche Schilderung aller Begebenheiten, die in letzter Zeit und besonders am Begräbnistag im Ekenstedtschen Hause vorgefallen waren. Aus den in fliegender Eile hingeworfenen Zeilen bekam Charlotte doch einen ganz genauen Begriff von allem, was vorgegangen war, von dem Eintreffen des Mädchens aus Dalarne in Karlstadt und ihrem unvermuteten Erscheinen am Begräbnistag, und von dem unglücklichen Fall der Frau Oberst, ihrer Sehnsucht nach dem Sohne, von Schagerströms Besuch im Krankenzimmer, von den Nachforschungen und endlich von dem heftigen Wortwechsel zwischen Vater und Sohn im Arbeitszimmer des Obersten.

Schließlich erwähnte der Schreiber, daß der Oberst ihn gebeten habe, Charlotte von allem zu unterrichten, und führte wörtlich die Äußerung des alten Mannes an, Charlotte sei nun der einzige Mensch auf der Welt, der seinem armen Weibe und seinem armen Sohne helfen könne.

Der Brief schloß mit folgenden Zeilen:

 

»Ich habe dem Obersten versprochen, seinen Auftrag auszurichten, aber kaum war ich auf meinem Zimmer angelangt, als es mir klar wurde, daß ich Sie, gnädiges Fräulein, nicht mit meiner Gegenwart belästigen dürfe. Deshalb beschloß ich, den Rest der Nacht zu einer Niederschrift des Vorgefallenen zu verwenden. Ich bitte um Entschuldigung, daß sie so umfangreich geworden ist. Vielleicht ist durch die Gewißheit, daß Sie das Geschriebene lesen würden, meine Feder so flink übers Papier gelaufen. Nun ist der Morgen weit vorgerückt. Mein Reisewagen steht schon seit Stunden angespannt vor der Tür, aber dennoch muß ich noch einige Worte hinzufügen.

Ich habe den jungen Ekenstedt nun bei verschiedenen Gelegenheiten beobachten können und habe da hin und wieder eine geistreiche, edle Seele in ihm erkannt, die künftige Größe verheißt. Aber dann hab' ich ihn wieder hart gefunden, beinahe grausam, leichtgläubig, leicht lenksam und allen gesunden Menschenverstandes bar. Ich möchte Ihnen, gnädiges Fräulein, die Vermutung aussprechen, daß der junge Mann unter einem unheilvollen Einfluß steht, der in verderblicher Weise auf seinen Charakter einwirkt.

Sie, mein Fräulein, sind nun in den Augen Ihres Verlobten gerechtfertigt, von jedem Verdacht gereinigt. Da Sie und Dr. Ekenstedt sich alle Tage sehen, ist es unmöglich, daß er Ihrem Zauber auf die Dauer widerstehen könnte. Das gute Verhältnis zwischen Ihnen beiden muß sich ja in ganz kurzer Zeit wiederherstellen. Das ist wenigstens die aufrichtige Hoffnung Ihres ergebenen Dieners, durch den dieses Verhältnis leider gestört worden ist. Doch verzeihen Sie einem Manne, der Sie liebt und ein ungetrübtes Glück für Sie ersehnt, wenn er Sie vor dem erwähnten Einfluß warnt und Ihnen rät, diesen womöglich ganz zu beseitigen.

Gestatten Sie mir noch ein Wort:

Ich brauche Ihnen wohl nicht auszusprechen, daß des Obersten Bitte auch die meine ist. Für die Frau Oberst Ekenstedt fühle ich eine Ergebenheit ohne Grenzen, und wenn Sie zu ihrer Rettung meiner Hilfe bedürfen, so können Sie auf meine Bereitwilligkeit auch zu dem größten Opfer rechnen.

Ihr ergebener und gehorsamer Diener         
Gust. Henr. Schagerström.«

 

Charlotte las diesen Brief mehrere Male. Als sie sich seinen Inhalt ganz zu eigen gemacht hatte, blieb sie eine Zeitlang unbeweglich sitzen und fragte sich, was wohl diese beiden Männer, der Oberst und Schagerström, von ihr erwarteten.

Was meinte der Oberst mit seinem Gruß, und wozu hatte Schagerström sich die Mühe gemacht, ihr diesen langen Brief zu schreiben?

Einen Augenblick dachte sie daran, daß der folgende Tag der des dritten Aufgebots sei. Meinte Schagerström, sie werde, nachdem sie nun alles erfahren hatte, das letzte Aufgebot stattfinden und ihm dadurch gesetzlich bindende Kraft geben lassen?

Nein, sie sprach ihn sofort frei von jeder derartigen Absicht. Er hatte nicht an sich selbst gedacht. Hätte er das getan, so würde er vorsichtiger geschrieben haben. So aber hatte er sich sehr offenherzig über Karl Artur geäußert. Er hatte sich ohne Bedenken der Gefahr ausgesetzt, sie könne glauben, der Brief sei von dem Wunsche, einem Nebenbuhler zu schaden, eingegeben.

Aber was meinten denn dann die beiden, er und der Oberst, daß sie tun könne?

Ach, was sie von ihr erwarteten, das war ihr klar: sie sollte der Mutter den Sohn zurückgeben. Aber wie sollte sie das bewerkstelligen?

Bildeten sie sich denn ein, sie habe die allergeringste Macht über Karl Artur? Sie hatte ihn ja schon zu überreden gesucht, hatte ihre ganze Beredsamkeit aufgeboten, aber nichts erreicht.

Sie schloß die Augen. Da sah sie Frau Beate vor sich mit verbundenem Kopfe und einem totenblassen, gleichsam ganz klein gewordenen Gesicht. Sie sah den stolzen, verachtungsvollen Zorn in ihren Zügen. Sie hörte sie zu dem fremden, unbekannten Manne, der, wie sie selbst, an verschmähter Liebe litt, sagen: »Es ist hart, Herr Hüttenbesitzer, wenn unser Herz keine Gegenliebe findet, wo es liebt.«

Charlotte sprang auf, faltete den Brief zusammen und steckte ihn in ihre Tasche, als sollte er ihr Hilfe und Schutz gewähren. Einige Augenblicke später war sie auf dem Wege nach dem Kirchdorf.

Als sie an der Hecke des Organistengärtchens angelangt war, blieb sie einen Augenblick stehen und betete ein Vaterunser. Sie wollte versuchen, Thea Sundler zu bewegen, Karl Artur zu seiner Mutter zurückzuschicken. Thea allein vermochte es. Charlotte flehte zu Gott, er möge ihrem stolzen Herzen die nötige Geduld verleihen, auf daß es ihr gelinge, dieses Weib, von dem sie gehaßt wurde, zu rühren und zu gewinnen.

Das Glück war ihr günstig, Frau Sundler war allein zu Hause. Charlotte fragte, ob sie wohl ein paar Minuten für sie übrig hätte, und bald saßen sie einander in Frau Sundlers hübscher kleiner guter Stube gegenüber.

Charlotte glaubte die Unterhaltung mit der Bitte um Verzeihung für jene abgeschnittenen Locken einleiten zu müssen. »Ich war damals so verzweifelt,« sagte sie; »aber es war natürlich doch recht schlecht von mir.«

Frau Sundler zeigte sich sehr entgegenkommend und sagte, sie verstehe Charlottes Gefühle durchaus. Sie gab zu, sie selber habe noch viel mehr Ursache, um Verzeihung zu bitten. Sie habe an Charlottes Schuld geglaubt und wolle auch nicht leugnen, daß sie sehr hart über sie geurteilt habe. Aber von nun an wolle sie alles tun, um Charlotte wieder zu Ehren zu bringen.

Charlotte antwortete ebenso artig, sie sei ihr dankbar für dieses Versprechen, aber zunächst läge ihr etwas anderes viel mehr am Herzen als ihre eigene Rechtfertigung.

Hierauf erzählte sie Thea von dem unglücklichen Fall, den die Frau Oberst getan hatte, und fügte hinzu, Karl Artur wisse sicherlich nicht, wie verhängnisvoll dieser Fall für seine Mutter gewesen sei. Er hätte doch sonst Karlstadt nicht verlassen können, ohne der geliebten Mutter ein freundliches Wort zu sagen.

Aber nun wurde Thea sehr zurückhaltend.

Sie sagte, sie habe gefunden, Karl Artur werde bei allen wichtigen Handlungen von einer zweifellos göttlichen Eingebung geleitet. Was er auch tue, er wandle immer auf Gottes Wegen.

Bei diesen Worten färbte eine leichte Röte Charlottes bleiche Wangen, aber sie beendete ihren Bericht, ohne ein bitteres oder verletzendes Wort zu äußern. Sie erklärte nur, es sei ihre feste Überzeugung, die Frau Oberst werde sich nach dem Bruch mit Karl Artur niemals wieder erholen, und sie fragte Thea, ob es denn nicht ganz entsetzlich wäre, wenn Karl Artur den Tod seiner Mutter auf dem Gewissen hätte.

Frau Sundler erwiderte sehr schön und würdig, sie sei überzeugt, Gott werde seine schützende Hand über Mutter und Sohn halten. Sie glaube, es sei wohl die Absicht der Vorsehung, die liebe Frau Ekenstedt einem ernsthafteren Christentum zuzuführen.

Charlotte glaubte wieder das totenblasse Antlitz mit der drohenden Miene vor sich zu sehen, und sie fürchtete, daß die Frau Oberst schwerlich auf diesem Wege zu einer größeren Gottesfurcht gebracht werden könnte. Aber sie enthielt sich jeder unvorsichtigen Äußerung und sagte nur, der einzige Zweck ihres Besuches sei, Thea zu bitten, ihren Einfluß auf Karl Artur dazu zu verwenden, eine Versöhnung zwischen Mutter und Sohn herbeizuführen.

Nun wurde Frau Sundlers Redeweise noch salbungsvoller, noch lispelnder, noch ölig-demütiger als je. Ja, sie habe vielleicht einigen Einfluß auf Karl Artur, aber wenn es sich um etwas so Wichtiges handle, dann wage sie ihn nicht geltend zu machen. Dann müsse er seine Entschlüsse selber fassen.

»Sie will nicht,« dachte Charlotte. »Es ist, wie ich mir dachte. Es ist vergeblich, ihr Mitleid anzurufen. Sie tut es nicht ohne einen Gegendienst.«

Sie erhob sich mit der gleichen Selbstbeherrschung, die sie die ganze Zeit über gezeigt hatte, sagte äußerst höflich Lebewohl und schritt der Türe zu. Frau Sundler begleitete sie, indem sie lebhaft ihre Gedanken darüber entwickelte, welche Verantwortung ihr das Glück, Karl Arturs Vertrauen zu besitzen, auferlege.

Als Charlotte schon die Hand auf die Türklinke gelegt hatte, drehte sie sich um und ließ ihren Blick übers Zimmer hingleiten.

»Du hast wirklich ein ganz allerliebstes Zimmer,« sagte sie. »Es wundert mich nicht, daß es Karl Artur so gut hier gefällt.«

Frau Sundler schwieg. Sie wußte nicht, wo Charlotte hinauswollte.

»Ich kann mir ganz gut denken, wie das abends bei euch ist,« fuhr Charlotte fort. »Dein Mann sitzt am Klavier, du stehst daneben und singst, und Karl Artur sitzt in einem der schönen Lehnstühle und hört zu.«

»Ja,« sagte Frau Sundler, noch immer ungewiß, worauf diese Rede hinauswollte. »Ja, wir haben es ganz wunderschön, ganz, wie du es sagst.«

»Vielleicht trägt Karl Artur auch ab und zu etwas zur Unterhaltung bei,« meinte Charlotte. »Er liest euch ein Gedicht vor oder erzählt euch von dem kleinen grauen Pfarrhaus, das er sich wünscht.«

»O ja,« rief Frau Sundler, »wir beide, mein Mann und ich, sind sehr glücklich darüber, daß Karl Artur unser geringes Haus mit seinem Besuch beehrt!«

»Wenn nichts dazwischenkommt, so kann ja dies Glück noch viele Jahre dauern,« fuhr Charlotte fort. »Karl Artur heiratet sein Mädchen aus Dalarne wohl noch nicht so bald. In der Propstei wird er es recht einsam finden, da kann er einen so behaglichen Zufluchtsort wohl brauchen.«

Frau Sundler blieb stumm. Sie war ganz Ohr, ganz Aufmerksamkeit. Es war ihr klar, daß Charlotte mit ihren Äußerungen eine bestimmte Absicht hatte, aber sie wurde nicht klug daraus.

»Wenn ich in der Propstei geblieben wäre,« sagte Charlotte, »so hätte ich ihn vielleicht ab und zu in einer freien Stunde etwas zerstreuen können. Ich weiß zwar wohl, daß er mich nicht mehr liebt, aber deshalb braucht man ja doch nicht wie Hund und Katze zusammen zu leben. Ich könnte ihm ja beispielsweise helfen, sein Kinderheim einzurichten. Wenn man sich täglich begegnen muß, bekommt man viele gemeinsame Interessen.«

»Ja natürlich. Aber willst du wirklich die Propstei verlassen?«

»Bestimmt kann ich es noch nicht sagen. Du weißt ja, daß ich daran gedacht habe, Schagerström zu heiraten.«

Damit nickte sie freundlich zum Abschied und öffnete die Tür, um nun wirklich zu gehen.

Als sie aber im Hausflur war, mußte sie wohl bemerkt haben, daß sich eines ihrer Schuhbänder gelöst hatte. Sie bückte sich und band es wieder fest. Sicherheitshalber band sie auch gleich das andere noch einmal.

»Ich muß ihr Zeit lassen, über die Sache nachzudenken,« dachte sie. »Liebt sie ihn wirklich, so läßt sie mich nicht gehen, liebt sie ihn nicht – – -«

Während sie noch über ihre Schuhe gebeugt stand, kam Frau Sundler in den Flur heraus.

»Liebe Charlotte,« sagte sie, »wolltest du nicht noch einmal bei mir eintreten? Ich habe gar nicht daran gedacht, daß du noch nie zuvor in meinem Hause gewesen bist. Da darf ich dir doch ein Glas Himbeersaft anbieten? Du sollst nicht gehen, ohne etwas genossen zu haben. Dadurch würdest du mir ja die Gemütlichkeit hinaustragen, wie man zu sagen pflegt.«

Charlotte, die endlich mit ihren Schuhbändern zurechtgekommen war, nahm die Aufforderung freundlich an. Nein, sie hatte nichts dagegen, noch einmal in das reizende Zimmer einzutreten und dort ein paar Minuten zu warten, während Frau Sundler rasch in den Keller lief und Saft holte.

»Jedenfalls ist Thea nicht dumm,« dachte das junge Mädchen. »Das ist doch ein Trost.«

Frau Sundler blieb recht lange weg, aber Charlotte betrachtete es nicht als ein schlechtes Zeichen. Sie wartete still und geduldig. In ihren Augen war ein Blick wie der eines Fischers, wenn er einen Fisch um den ausgeworfenen Köder kreisen sieht.

Nach einiger Zeit kam die Wirtin wieder mit Saft und etwas Backwerk. Charlotte trank von dem dunkelroten Himbeersaft, nahm einen Pfefferkuchen und fing an, daran zu knappern, während sie Frau Sundlers Entschuldigungen wegen ihres langen Ausbleibens zuhörte.

»Welch vorzüglicher Pfefferkuchen!« sagte Charlotte. »Den hast du gewiß nach einem Rezept deiner Mutter gemacht. Sie muß ja eine wahre Kochkünstlerin gewesen sein. Es ist doch herrlich für dich, daß du das Kochen so gut verstehst. Karl Artur bekommt sicher bei dir ein viel besseres Essen als in der Propstei.«

»Gewiß nicht, du mußt bedenken, wir sind arme Leute. Aber, Charlotte, wir wollen nicht von solchen unwichtigen Dingen reden, sondern an die arme liebe Frau Ekenstedt denken! Darf ich offen mit dir reden?«

»Deshalb bin ich doch hergekommen, liebe Thea,« sagte Charlotte mit ihrer sanftesten Stimme.

Keine von beiden erhob die Stimme, sie sprachen eher immer leiser. Ganz ruhig saßen sie da, nippten an dem Himbeersaft und knapperten Pfefferkuchen. Aber beiden zitterten die Hände wie eifrigen Schachspielern, die am Schluß einer langwierigen Partie stehen.

»Ich will dir ganz aufrichtig sagen, Charlotte, ich glaube, Karl Artur hat etwas Angst vor seiner Mutter. Nicht gerade vor ihr selber, denn sie sitzt ja in Karlstadt und hat nicht oft Gelegenheit, auf ihn einzuwirken, aber er hat gemerkt, daß sie daran arbeitet, ihn wieder mit dir zu versöhnen, Charlotte. Und das – verzeih mir, wenn ich es ausspreche -, das ist's, was er am allermeisten fürchtet.«

Charlotte lächelte. »Aha,« dachte sie, »also auf diese Weise! Thea ist wirklich nicht dumm.«

»Du meinst also, Thea,« sagte sie, »du könntest Karl Artur dazu bringen, nach Karlstadt zu fahren und sich mit seiner Mutter zu versöhnen, wenn du ihn überzeugen könntest, daß dieser Schritt mir gegenüber keinerlei Folgen haben werde.«

Frau Sundler zuckte die Schultern.

»Ach, es ist nur eine Vermutung von mir,« entgegnete sie. »Vielleicht fürchtet er auch ein wenig seine eigene Schwäche. Natürlich hat deine Person etwas sehr Einnehmendes für ihn. Ich begreife ja eigentlich auch nicht, wie man jemandem widerstehen kann, der so schön ist wie du, Charlotte.«

»Du meinst also – – -«

»Ach, Charlotte, es fällt mir sehr schwer, es auszusprechen; aber ich glaube allerdings, wenn Karl Artur etwas Sicheres hätte, an das er sich halten könnte ...«

»Mit andern Worten, wenn ich mich morgen mit Schagerström zum drittenmal aufbieten ließe, so würde Karl Artur sich sicher fühlen.«

»Das wäre natürlich sehr gut ... Aber, Charlotte, ein Aufgebot kann doch rückgängig gemacht, die Hochzeit hinausgeschoben werden. Du kannst möglicherweise noch jahrelang in der Propstei bleiben.«

Charlotte setzte ihr Saftglas etwas hastig nieder. Als sie hierherkam, hatte sie eines gewußt: sie müßte einen hohen Preis dafür zahlen, falls Thea Karl Artur zu seiner Mutter reisen ließ. Aber sie hatte geglaubt, das dritte Aufgebot werde genügen.

»Ich hatte mir die Sache so gedacht,« fuhr Frau Sundler jetzt beinahe flüsternd fort, »wenn du jetzt gleich nach Hause gingst und ein Briefchen an Schagerström schriebst mit der Anfrage, ob er sich morgen nach dem Gottesdienst in der Propstei mit dir trauen lassen wolle, dann würde ...«

»Unmöglich ...!«

Es war wie ein verzweifelter Ruf nach Schonung – die einzige Äußerung während der ganzen Unterredung, die verriet, was das junge Mädchen litt.

Thea Sundler fuhr fort, ohne auf den Klageruf zu achten.

»Ich weiß nicht, was daran Unmögliches sein soll. Ich sage nur, wenn dieses Briefchen geschrieben und mit einem sicheren Boten nach Groß-Sjötorp geschickt würde, dann könnte die Antwort in fünf bis sechs Stunden hier sein. Im Falle sie befriedigend ausfiele, würde ich alles tun, was in meiner Macht steht, um Karl Artur zu dieser Reise zu bewegen.«

»Und wenn du nichts erreichst?«

»Ich habe Frau Ekenstedt wirklich lieb, Charlotte. Sie tut mir aufrichtig leid. Wenn ich nun Karl Arturs Befürchtungen in der genannten Hinsicht beruhigen kann, so glaube ich nicht, daß ein Mißerfolg möglich ist. Dessen bin ich sicher. Karl Artur wird morgen sofort nach dem Gottesdienst abreisen. Ehe die Trauung stattfindet, wirst du hören, daß er abgereist ist.«

Das war ein klarer, genau durchdachter Plan ohne Sprünge und Lücken. Charlotte sah starr vor sich hin. Konnte sie es tun? Das hieß, ein ganzes Leben lang mit einem Manne zusammensein müssen, den sie nicht liebte. Konnte sie das?

Ja, natürlich konnte sie es. Ihre Hand schloß sich um den Brief in ihrer Tasche. Natürlich konnte sie es.

Sie leerte ihr Saftglas, um ihre Kehle klar zu waschen.

»Ich werde dir Schagerströms Antwort so bald als möglich mitteilen,« sagte sie und erhob sich, um zu gehen.


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