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Die abgeschnittenen Locken

Am Donnerstag abend kam noch ganz spät in einem großen Reisewagen Frau Oberst Ekenstedt an der Propstei vorgefahren. Sie ließ den Wagen vor der Veranda halten, stieg aber nicht aus, sondern sagte dem Hausmädchen, die rasch herbeigeeilt war, um der Frau Oberst beim Aussteigen behilflich zu sein, sie möchte ihre Herrin bitten, einen Augenblick herauszukommen. Sie wolle nur ein paar Worte mit ihr reden.

Frau Forsius erschien sofort, sich verneigend und mit einem Lächeln, das bis zu den Ohren reichte. Welch eine große Freude, welche Überraschung! Ob nicht die liebe Beate aussteigen und nach der langen Reise unter diesem niedrigen Dach ausruhen wolle?

Gewiß, gewiß, die Frau Oberst habe keinen andern Wunsch, aber zuvor müsse sie wissen, ob dieses schreckliche Frauenzimmer noch im Hause sei.

Frau Propst Forsius sah sehr verständnislos drein.

»Meinst du die schlechte Köchin, die ich hatte, als du das letztemal hier warst? Die ist schon lange fort. Diesmal sollst du ein gutes Essen bekommen.«

Aber Frau Beate blieb unter ihrem Kutschendach ruhig sitzen.

»Verstell' dich nicht, Gina! Du weißt wohl, wen ich meine. Die schlechte Person, mit der Karl Artur verlobt war. Ich will wissen, ob du sie noch immer im Hause hast.«

Diesmal mußte die Frau Propst verstehen. Aber was sie auch immer auf dem Grunde ihres Herzens über Charlotte denken mochte, sie war trotzdem bereit, jedes Mitglied ihres Hauses gegen die ganze übrige Menschheit zu verteidigen.

»Du mußt entschuldigen, liebe Beate, aber Charlotte, die nun seit sieben Jahren für mich und Forsius wie eine Tochter gewesen ist, jagen wir nicht in aller Eile zum Hause hinaus. Und im übrigen weiß ja noch niemand, wie das Ganze eigentlich zusammenhängt.«

»Ich hab' einen Brief von meinem Sohn und einen von Thea Sundler und auch einen von ihr selbst,« versetzte Frau Beate Ekenstedt. »Für mich gibt es keine Ungewißheit.«

»Hast du einen Brief von ihr selbst, der beweist, daß sie schuldig ist, dann darfst du bei Gott nicht von hier wegfahren, ohne daß ich ihn gesehen habe!« sagte die Frau Propst in einem Eifer, der ihr unwillkürlich die Beteuerung über die Lippen drängte.

Damit trat sie ganz nahe zu der eigensinnigen kleinen Frau Oberst hin, die sich unwillkürlich unter dem Verdeck zusammenduckte. Es sah aus, als wolle Frau Forsius sie aus dem Wagen heben.

»Fahr zu, fahr zu!« befahl die Frau Oberst dem Kutscher.

In diesem Augenblick trat Karl Artur aus dem Seitenflügel. Er hatte die Stimme seiner Mutter erkannt und eilte nun mit langen Schritten auf das Hauptgebäude zu.

Das gab ein liebevolles Wiedersehn! Die Frau Oberst schlang die Arme um ihren Sohn und küßte ihn so leidenschaftlich und heiß, wie wenn er in Lebensgefahr geschwebt hätte.

»Aber willst du denn nicht aussteigen, Mama?« fragte Karl Artur, der sich über alle die Küsse, die ihm in Gegenwart des Kutschers und des Postillons, des Hausmädchens und der Frau Propst zuteil wurden, etwas verlegen fühlte.

»Nein,« erklärte Frau Beate, »während der ganzen Reise hab' ich immer wieder gesagt, ich wolle mit der Person, die dich so schändlich betrogen hat, nicht unter einem Dache schlafen. Setz' dich hier neben mich, Karl Artur, dann fahren wir nach dem Gasthaus.«

»Ach was, sei nicht kindisch, Beate!« warf die Frau Propst ein, die sich wieder beruhigt hatte. »Wenn du nur dableibst, dann sollst du auch nicht einen Schimmer von Charlotte sehen, das verspreche ich dir.«

»Aber ich werde ihre Nähe trotzdem fühlen,« beharrte Frau Beate.

»Die Leute haben schon genug Stoff zum Klatschen,« sagte die Frau Propst. »Sollen sie nun auch noch die Nachricht verbreiten dürfen, daß du nicht bei uns wohnen wolltest?«

»Natürlich mußt du hier bleiben, Mama,« entschied Karl Artur. »Ich sehe Charlotte jeden Tag, und es ist mir noch kein Leid geschehen.«

Als Karl Artur sich so bestimmt äußerte, schaute sich Frau Beate um, wie um einen Ausweg zu finden. Plötzlich deutete sie auf den Seitenflügel, in dem ihr Sohn wohnte.

»Kann ich nicht dort drüben bei Karl Artur übernachten?« fragte sie. »Wenn ich ihn im nächsten Zimmer wüßte, würde ich vielleicht nicht immer an die schreckliche Person denken müssen. Liebe Regina,« wendete sie sich an die Frau Propst, »wenn ich durchaus hierbleiben soll, dann laß mich dort im Flügel wohnen! Du brauchst gar keine Umstände zu machen. Ich brauche nur ein Bett, nichts als ein Bett!«

»Ich begreife gar nicht, warum du nicht in dem gewöhnlichen Gastzimmer schlafen kannst,« murrte die Frau Propst; »aber alles ist besser, als wenn du wegfährst.«

Sie war tatsächlich sehr ärgerlich. Während der Reisewagen nach dem Seitenflügel fuhr, murmelte sie vor sich hin, daß diese Beate Ekenstedt, so vornehm sie auch sein wolle, eben doch keine richtige Lebensart habe.

Als sie wieder ins Eßzimmer trat, sah sie am offenen Fenster Charlotte stehen, die offenbar alles genau gehört hatte.

»Nun ja, du hast wohl gehört, daß sie nicht mit dir zusammentreffen will,« sagte die Frau Propst. »Sie wollte nicht einmal unter einem Dache mit dir schlafen.«

Aber Charlotte stand befriedigt lächelnd dort am Fenster. Ach, seit lange war sie nicht so glücklich gewesen wie eben jetzt, wo sie Zeuge des liebevollen Wiedersehens zwischen Mutter und Sohn gewesen war! Jetzt wußte sie eines: nein, ihre Aufopferung war nicht vergeblich gewesen.

»Dann muß ich mich wohl abseits halten,« sagte sie mit der größten Seelenruhe, und damit glitt sie aus dem Zimmer.

Die Frau Propst war dem Ersticken nahe. Sie mußte hinein zu ihrem Manne.

»Was sagst du dazu?« begann sie. »Karl Artur und die Organistenfrau müssen jedenfalls recht haben. Sie hört, daß Beate Ekenstedt nicht unter einem Dache mit ihr schlafen will, und sie lächelt und sieht höchst befriedigt aus, wie wenn sie zur Königin von Spanien gewählt worden wäre.«

»Na ja, mein lieber Schatz,« sagte der Propst, »der Vorhang beginnt sich zu heben. Die Frau Oberst wird uns sicherlich helfen, unsere Sorgen zu zerstreuen.«

Aber die Frau Propst fürchtete, ihr lieber Gatte, der bis jetzt durch Gottes Gnade im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte geblieben war, fange nun an kindisch zu werden. Diese Törin, Frau Beate Ekenstedt, wie wollte die ihnen helfen können?

Die Worte des Propstes hatten sie nur noch niedergeschlagener gemacht. Sie ging in die Küche und ordnete an, daß für die Frau Oberst im Flügel ein Zimmer zurechtgemacht werde. Dann schickte sie auch noch ein Abendbrot hinüber, und darauf ging sie in ihr Schlafzimmer.

»Es ist am besten, sie ißt ihr Abendbrot drüben. Da kann sie ihren Herrn Sohn liebkosen, soviel sie will. Ich dachte, sie sei gekommen, um ihm wegen der neuen Verlobung die Leviten zu lesen, aber sie küßt ihn und verwöhnt ihn nur. Wenn sie meint, sie werde auf diese Weise Freude an ihm erleben ...«

Am nächsten Morgen erschien nicht allein Karl Artur, sondern auch die Frau Oberst beim Frühstück. Frau Beate war in strahlender Laune und unterhielt sich aufs liebenswürdigste mit ihren Gastgebern. Aber als die Frau Propst ihre Freundin Beate jetzt beim hellen Tageslicht sah, kam sie ihr wie etwas verwelkt und geisterhaft vor. Frau Forsius war viele Jahre älter als Frau Beate, aber sie fühlte sich im Vergleich zu ihrer Freundin frisch und in ungebrochener Kraft.

»Beate tut mir wirklich leid,« dachte sie. »Sie ist nicht so froh, wie sie tut.«

Als das Frühstück vorüber war, schickte Frau Beate Karl Artur ins Kirchdorf, um Thea Sundler, die sie gerne sprechen wollte, zu holen. Der Propst ging in sein Zimmer an seine gewohnte Beschäftigung, und die beiden Damen blieben allein zurück.

Frau Beate begann sofort von ihrem Sohne zu sprechen.

»Ach, meine liebe Gina,« sagte sie, »ich bin viel glücklicher, als ich aussprechen kann. Gleich nach Empfang von Karl Arturs Brief bin ich von Hause aufgebrochen. Ich glaubte, er werde ganz verzweifelt sein, ja, er werde an Selbstmord denken, statt dessen aber hab' ich ihn vollkommen befriedigt, vollkommen glücklich gefunden. Ist das nicht bewunderungswürdig? Nach einem solchen Schlag ...«

»Ja, er hat sich schnell getröstet,« warf Frau Regina mit ihrer trockensten Stimme ein.

»Freilich, ich weiß das von der Verlobung mit dem Mädchen aus Dalarne. Eine kleine Laune ohne jede Bedeutung. Eine Pastille, die man in den Mund steckt, um einen schlechten Geschmack zu vertreiben. Wie sollte es ein Mann von Karl Arturs Gewohnheiten auf die Dauer mit einer solchen Person aushalten können?«

»Ich hab' sie gesehen,« sagte Frau Regina. »Und ich kann dir sagen, Beate, sie ist schön, ein richtig großartiges Frauenzimmer.«

Ein aschgrauer Schein fuhr über Frau Beates Gesicht, doch nur für einen Augenblick. »Ekenstedt und ich sind übereingekommen, diese Sache als Bagatelle zu behandeln. Wir werden ihm unsere Einwilligung nicht versagen. Er ist so abscheulich betrogen worden und war natürlich ganz unzurechnungsfähig vor lauter Kummer. Wenn man ihn nicht durch Widerspruch reizt, wird er dieses kleine Spielzeug rasch wieder vergessen.«

An diesem Morgen strickte die Frau Propst ausnahmsweise mit solchem Eifer, daß die Nadeln klirrten. Nur auf diese Weise konnte sie soviel Torheit gegenüber ihre Ruhe bewahren ...

»Meine liebe Freundin,« dachte sie, »man hält dich für eine außerordentlich kluge und begabte Frau. Und du begreifst nicht, welch ein Elend aus dieser Geschichte entstehen wird.«

Ihre Nasenflügel bebten, es arbeitete in den Runzeln ihres Gesichts; aber sie fühlte an diesem Morgen unbeschreibliches Mitleid mit Frau Beate, und deshalb unterdrückte sie ihre Lachlust.

»Ja, es ist gewiß jetzt immer so bei den Kindern; sie ertragen keinen Widerspruch mehr von ihren Eltern.«

»Wir haben in Beziehung auf Karl Artur früher schon verschiedene Mißgriffe getan,« sagte Frau Beate. »Als er Pfarrer werden wollte, haben wir uns dem widersetzt. Aber es nützte alles nichts; es entfremdete uns nur unsern Sohn. Diesmal wollen wir uns seiner Verlobung mit dem Mädchen aus Dalarne nicht widersetzen, wir wollen ihn nicht ganz verlieren.«

Die Frau Propst zog die Augenbrauen so hoch hinauf, daß sie fast den Haaransatz erreichten.

»Na, das muß ich sagen! Das ist sehr liebevoll, unbeschreiblich liebevoll!«

Nun vertraute Frau Beate ihrer lieben Freundin Frau Regina Forsius an, was sie zu tun beabsichtigte. Sie wollte Thea Sundler um Rat fragen. Deshalb hatte sie nach ihr geschickt. Sie sagte, sie halte Thea Sundler für eine kluge und dabei Karl Artur sehr ergebene Frau. Er setze das größte Vertrauen in ihr Urteil.

Frau Regina konnte kaum noch ruhig sitzenbleiben. Die Organistenfrau, diese kleine, unbedeutende Person, und Frau Oberst Ekenstedt, eine so hervorragende Dame trotz all ihrer Sonderbarkeiten! Sie wagte es nicht, selbst ein vernünftiges Wort mit ihrem Sohne zu reden. Das sollte jemand anderes tun – die Organistenfrau!

»Nun, das sind ja Finessen, um die sich kein Mensch kümmerte, als ich jung war,« sagte sie.

»Thea Sundler schrieb mir nach dem Bruch einen ausgezeichnet guten und beruhigenden Brief,« erklärte die Frau Oberst.

Als das Wort Brief ausgesprochen wurde, fuhr Frau Regina auf und schlug sich vor die Stirn.

»Ei, da hätte ich fast etwas Wichtiges vergessen,« rief sie. »Willst du mir nicht sagen, was Charlotte über diese traurige Veränderung an dich geschrieben hat?«

»Du sollst den Brief lesen,« antwortete Frau Beate. »Ich hab' ihn hier in meinem Beutel.«

Sie reichte der Frau Propst einen zusammengefaltenen Brief, und Frau Regina machte ihn auf. Der ganze Inhalt bestand nur aus wenigen Worten: »Möchte meine gnädige Schwiegermutter nicht allzuschlecht von mir denken!«

Frau Regina gab den Brief mit verblüffter Miene zurück. »Das macht mich nicht klüger, als ich schon vorher war,« sagte sie.

»Auf mich macht er einen ganz überzeugenden Eindruck,« versetzte Frau Beate mit nachdrücklicher Betonung.

Da fiel es der Frau Propst plötzlich ein, daß ihr Gast die ganze Zeit über mit ungewöhnlich lauter Stimme gesprochen hatte. Das sah ihr zwar nicht ähnlich; aber sie war eben aufgeregt und nicht ganz in ihrer gewohnten Verfassung, daher kam es wohl. Zugleich mußte Frau Regina auch an Charlotte denken, die noch immer in der Anrichte mit dem Zuschneiden der Stoffstreifen beschäftigt war und natürlich jedes Wort gehört haben mußte. Die Luke in der Wand, durch die die Speisen ins Eßzimmer hereingereicht wurden, schloß durchaus nicht dicht. Frau Regina hatte sich oft darüber beklagt, daß man das mindeste Geräusch von der Anrichte her im Eßzimmer höre.

»Was sagt denn Charlotte selbst?« fragte jetzt die Frau Oberst.

»Sie sagt gar nichts. Forsius hatte es übernommen, sie zur Rede zu stellen, aber nun behauptet er, es sei unnötig. Ich weiß gar nichts.«

»Höchst sonderbar,« versetzte die Frau Oberst. »Höchst sonderbar!«

Nun fragte die Frau Propst ihren Gast, ob sie nicht Lust habe, mit ihr in den oberen Stock zu gehen. Es sei ein großes Versäumnis von ihr, daß sie nicht schon längst daran gedacht habe. Ein so vornehmer Gast dürfe doch nicht wie an einem gewöhnlichen Werktag im Eßzimmer sitzenbleiben.

Aber die Frau Oberst wollte sich unter keiner Bedingung in ein Zimmer des oberen Stockwerks einsperren lassen, die ohne Zweifel viel hübscher waren als die, in denen man sich täglich aufhielt. Sie wollte lieber im Eßzimmer bleiben und redete mit ebenso lauter Stimme wie vorher weiter über Charlotte. Was sie tue, wo sie sich mit ihrer Arbeit aufhalte, ob es aussehe, als freue sie sich über den Gedanken, sich mit Schagerström zu verheiraten?

Doch plötzlich klang es wie unterdrücktes Weinen durch die Stimme der Frau Oberst.

»Ich habe sie wirklich sehr liebgehabt!« rief sie. »Alles hätte ich von ihr erwartet, nur das nicht, alles, nur das nicht!«

Die Frau Propst hörte, wie drinnen in der Anrichte eine Schere klirrend zu Boden fiel.

»Jetzt kann sie gewiß nicht noch länger da drinnen sitzenbleiben und das alles mit anhören,« dachte sie. »Nun kommt sie wohl hereingestürmt, um sich zu verteidigen.«

Aber es wurde nichts mehr gehört; Charlotte erschien nicht.

Endlich wurde der qualvollen Lage ein Ende gemacht. Karl Artur kehrte in Gesellschaft von Thea Sundler aus dem Kirchdorfe zurück. Darauf ging Frau Beate mit Frau Sundler und ihrem Sohne sofort in den Garten, und die Frau Propst eilte in die Küche, um Zucker klein zu schlagen, kleine Kuchen aufzulegen und Kaffee zu mahlen. All dies hätte sie vielleicht nicht selbst zu tun brauchen, aber sie dachte, sie werde sich dabei beruhigen.

Unterdessen grübelte sie über den Wisch nach, den Charlotte ihrer Schwiegermutter geschickt hatte. Warum hatte sie sich so kurz gefaßt? Sie erinnerte sich, daß Charlotte eines Tages mit tintenbeschmutzten Fingern beim Frühstück erschienen war. Um diese einzige Zeile an die Frau Oberst zu schreiben, hätte sie sich wohl nicht in dem Grad mit Tinte beklecksen brauchen. Sie mußte also noch einen zweiten Brief geschrieben haben. Und war es nicht am Dienstag gewesen? Am Tage nach Schagerströms erstem Heiratsantrag. Hier war etwas, das Frau Regina ergründen mußte.

Immerhin befahl sie dem Hausmädchen, den Kaffeetisch in der großen Fliederlaube zu decken. Um elf Uhr sollte des vornehmen Gastes wegen Kaffee angeboten werden.

»Charlotte muß einen langen Brief geschrieben haben,« dachte Frau Regina. »Was hat sie damit gemacht? Hat sie ihn abgeschickt? Oder hat sie ihn zerrissen?«

Während man Kaffee trank, war sie noch immer mit diesen Gedanken beschäftigt, und sie verhielt sich deshalb gegen ihre Gewohnheit ziemlich still. Frau Sundler saß mit am Kaffeetisch, und sie verhielt sich im Gegenteil gar nicht still, sondern schwatzte in einem fort. Die Frau Propst dachte, Thea Sundler sehe aus wie die aufgeblasene Kröte in der Fabel, so hochmütig und eingebildet war sie geworden, weil die vornehmen Leute Hilfe bei ihr suchten. Vorher hatte die alte Dame Frau Sundler nur lächerlich gefunden, jetzt begann sie ihr widerwärtig zu werden. »Sie brüstet sich und ist froh, weil wir andern bekümmert und unglücklich sind,« dachte sie. »Nein, sie ist kein guter Mensch.«

Aber natürlich bot sie ihr auch noch eine zweite Tasse Kaffee an, knickste, war aufmerksam und nötigte ihr die besten Kuchen auf. Die Gesetze der Gastfreundschaft mußten befolgt werden, selbst wenn es der ärgste Feind war, den man unter seinem Dache beherbergte.

Nach dem Kaffee zog sich die Frau Propst wieder in die Küche zurück. Frau Beate wollte um zwei Uhr abreisen, und vorher mußte noch zu Mittag gegessen werden. Das war eine wichtige Sache, und die Frau Propst wollte die Zubereitung selbst überwachen.

Als es ein Uhr war, kam Frau Sundler in die Küche, um sich zu verabschieden. Die andern saßen noch in der Laube, aber sie wollte nach Hause gehen, um ihrem Manne das Mittagessen zu kochen.

Frau Forsius stand eben über den Fleischbrühkessel gebeugt, aber sie legte gleich den Schaumlöffel weg und begleitete Frau Sundler in den Flur. Hier verneigte sie sich und trug ihr Grüße an den Organisten auf.

Sie meinte, Thea Sundler müsse verstehen, wie eilig sie es hatte; aber Frau Thea blieb noch eine ganze Ewigkeit stehen, hielt Frau Reginas Hand fest und redete drauflos, wie leid ihr die Frau Oberst wegen dieser neuen Verlobung tue.

Jawohl, darin stimmte ihr die Frau Propst bei.

Da drückte Frau Sundler die Hand der Frau Propst noch fester und sagte, sie könne nicht fortgehen, ohne sich erkundigt zu haben, wie es denn mit Charlotte gehen werde.

»Ich will dir etwas sagen,« versetzte die Frau Propst. »Sie sitzt da drin und schneidet Teppichstreifen zurecht, geh hinein und frage sie selbst!«

Die beiden standen dicht vor der Anrichte. Mit einem raschen Entschluß öffnete die Frau Propst die Tür und schob Frau Sundler über die Schwelle hinein.

»Das war's doch, was sie wünschte, ich hab' es gut verstanden,« dachte sie. »Charlotte ist ja ihr gegenüber immer sehr zurückhaltend gewesen, nun will Thea sie in ihrer Erniedrigung sehen. Eine solche Kröte! Ich hoffe nur, Charlotte empfängt sie, wie sie es verdient.«

»Ha, ha, ha!« lachte sie. »Ich möchte wohl Zeuge dieses Zusammentreffens sein.«

Darauf schlich sie so leise wie möglich an eine andere Tür, die ins Eßzimmer führte. Sie öffnete diese Tür lautlos, und eine Sekunde später stand sie an der Luke der Anrichte.

Ganz leise schob sie die Luke ein bißchen zurück; dadurch gewann sie einen ziemlich guten Überblick über den kleinen Raum, worin Charlotte saß, umgeben von den Kleidern der verschiedensten Zeiten, nicht allein aus der Zeit der Frau Propst Forsius, sondern aus denen anderer früherer Propstgattinnen. Charlotte hatte allen grünen Stoff besonders gelegt, allen blauen auch besonders und alles, was grell und bunt war, auch besonders. Auf dem Boden lagen verschiedene Haufen von schmalen, gleichmäßig geschnittenen Streifen, und in einer Kiste daneben sah man große Knäuel aus Streifen, die schon zusammengenäht und aufgewickelt waren. Offenbar hatte Charlotte nicht auf der faulen Haut gelegen.

Charlotte saß so, daß sie Thea Sundler, die ziemlich unentschlossen an der Tür stehengeblieben war, den Rücken kehrte.

»Aha, sie ist noch nicht weitergekommen,« dachte die Frau Propst. »Das geht ja gut. Es wartet ihrer gewiß ein angenehmer Augenblick.«

Nun sah sie, wie Thea Sundler sich mit einem Ausdruck niedersetzte, der teilnehmend und aufmunternd zugleich war, und sie hörte Frau Sundler sanft und mitleidig reden, so, wie man einen Kranken oder Gefangenen oder Armenhäusler anredet.

»Guten Tag, Charlotte!«

Charlotte gab keine Antwort. Sie hielt die Schere in der Hand, hatte aber aufgehört, weiterzuschneiden.

Ein spöttisches Lächeln flog über Thea Sundlers Gesicht. Sie zeigte ihre spitzigen Zähne, zwar nur für einen Augenblick, aber das genügte. Jetzt wußte Frau Propst Forsius, warum sie gekommen war.

Thea Sundler war sofort wieder Mitleid und Sanftmut zugleich. Sie trat einen Schritt tiefer ins Zimmer und sagte dann, so freundlich und wohlwollend, wie man zu reden pflegt, wenn man mit einem unwissenden Dienstboten oder einem störrischen Kinde spricht:

»Guten Tag, Charlotte!«

Aber Charlotte rührte sich nicht.

Da beugte sich Thea Sundler über sie vor, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Sie dachte vielleicht, Charlotte weine darüber, daß Karl Arturs Mutter nicht mit ihr zusammentreffen wolle. Aber dadurch berührten ein paar von Frau Sundlers Locken Charlottes nackte Schulter, denn das Tuch, das Charlotte sonst um den Hals gebunden hatte, war bei der Arbeit heruntergeglitten.

Doch in demselben Augenblick, wo die Locken Charlottes Schulter berührten, wurde Charlotte lebendig. So rasch wie ein Raubvogel erfaßte sie ein gut Teil der wohlgepflegten Locken, hob die Schere auf, die sie offen in der Hand hielt, und schnitt die Locken ab.

Es war keine überlegte Tat. Sobald sie vollbracht war, stand Charlotte auf, und sie sah über das, was sie angerichtet hatte, etwas verblüfft aus. Die andere aber schrie vor Zorn und Entsetzen zetermordio. Die Locken waren ihr ganzer Stolz. Es war das einzige Schöne, was sie besaß. Ehe sie wieder gewachsen waren, konnte sie sich nicht vor den Menschen sehen lassen. Noch einmal stieß sie einen angstvollen, wahnsinnigen Schrei aus.

In der dicht neben der Anrichte liegenden Küche ging es indes durch kochende Kessel, knisterndes Brennholz und schwere Mörserschläge sehr laut her, und so hörte man da nichts von Frau Theas Klagegeschrei. Die Frau Oberst und ihr Sohn saßen draußen im Garten und hatten wohl auch nichts gehört. Niemand kam Frau Sundler zu Hilfe.

»Ja, was hattest du überhaupt hier verloren?« fragte Charlotte. »Ich schweige ja Karl Arturs wegen, aber du wirst doch wohl nicht glauben, daß ich nicht wüßte, wer dies alles angezettelt hat.«

Damit trat Charlotte an die Tür und riß sie auf. »Geh jetzt!« befahl sie.

Zugleich machte sie mit der Schere einen Griff in die Luft, und mehr brauchte es nicht, um Thea Sundler eiligst die Flucht ergreifen zu lassen.

Die Frau Propst schob vorsichtig die Luke wieder zu. Darauf schlug sie die Hände zusammen und brach in lautes Lachen aus.

»Herr, du mein Gott!« rief sie, »daß ich das gesehen habe! Jetzt soll mein guter Alter auch etwas zum Lachen bekommen!«

Aber plötzlich wurde sie wieder ernst.

»Das verflixte Kind!« murmelte sie. »Da hat sie uns nun alle miteinander das Schlechteste von sich denken lassen. Nein, nein, dem müssen wir nun ein Ende machen.«

Im nächsten Augenblick war die Frau Propst auf dem Wege in das obere Stockwerk. Leise und vorsichtig wie ein Dieb glitt sie durch die Räume bis zu Charlottes Zimmer, das ganz draußen im östlichen Giebel lag.

Sie sah sich kaum darin um, ging aber geradeswegs an den Ofen. Da fand sie einige entzweigerissene, zusammengeknüllte Papierbogen.

»Gott möge mir dies verzeihen!« sagte sie. »Er weiß, es ist zum erstenmal in meinem Leben, daß ich unerlaubt anderer Leute Briefe lese.«

Sie nahm die vollgekritzelten Seiten mit in ihre Schlafstube, suchte ihre Brille hervor und las.

»Aha, jaja,« sagte sie, als sie mit dem Brief fertig war. »Dies ist der rechte Brief. Das hätte ich mir doch denken können.«

Darauf ging sie mit dem Briefe in der Hand die Treppe hinunter, um ihn Frau Beate vorzulegen. Aber als sie ins Freie trat, sah sie ihren Gast neben ihrem Sohn auf einer Bank vor dem Seitenflügel sitzen. Wie zärtlich sie sich an ihn lehnte! Welche Hingebung, ja Verehrung lag in ihrem Blick, womit sie zu ihm aufsah!

Da hemmte Frau Propst Forsius ihre Schritte.

»Ach du lieber Gott, wie soll ich ihr denn nur das vorlesen!« dachte sie.

Und statt nach der Bank zu gehen, wendete sie sich wieder um und ging zu ihrem Propst auf sein Zimmer.

»Hier bekommst du etwas Angenehmes zu lesen,« sagte sie, indem sie den Brief vor ihm ausbreitete. »Ich hab' es in Charlottes Ofen gefunden. Sie hat es zum Verbrennen hineingeworfen, aber das verflixte Mädchen hat vergessen, es anzuzünden. Lies nur! Das wird dir nichts schaden.«

Der alte Herr sah, daß seine Frau ein ganz anderes Aussehen hatte als während der letzten traurigen Tage. Und da dachte er wohl, es könne ihm auch nichts schaden, wenn er den Brief ebenfalls läse.

»Ja gewiß,« sagte er, als er zu Ende gelesen hatte, »so ist es zugegangen. Aber warum hat sie denn diesen Brief nicht abgeschickt?«

»Ja, wer das wüßte!« versetzte seine Frau. »Jedenfalls aber hab' ich den Brief an mich genommen, um ihn Beate zu zeigen; aber weißt du, als ich auf die Veranda hinaustrat und sah, wie sie ihren Sohn mit den Augen anbetete, da dachte ich, ich wolle den Brief lieber vorher dir zeigen.«

Der Propst stand auf und warf durchs Fenster einen Blick auf Frau Beate Ekenstedt.

»Ja, so ist es,« sagte er seiner Frau zunickend. »Siehst du, Gina, mein lieber Schatz, Charlotte konnte einer solchen Mutter diesen Brief nicht schicken. Deshalb hat sie ihn in den Ofen geworfen. Sie konnte sich nicht verteidigen. Und auch wir können nichts in der Sache tun. Nein, auch wir nicht.«

Beide seufzten, weil sie keine Möglichkeit sahen, Charlotte in den Augen der Welt sofort rein zu waschen; aber in ihren Herzen fühlten sie sich doch ungeheuer erleichtert, und als sie beim Mittagessen mit ihrem Gaste wieder zusammentrafen, waren sie in ihrer allerbesten Laune.

Merkwürdigerweise schien auch mit der Frau Oberst eine ähnliche Veränderung vorgegangen zu sein. In ihrer Liebenswürdigkeit lag jetzt nichts Erzwungenes mehr wie vorher beim Frühstück. Sie sah aus, wie jemand, der neues Leben bekommen hat.

Frau Propst Forsius fragte sich, ob diese Veränderung wohl Thea Sundler zuzuschreiben sei. Und so war es auch, wenn auch nicht gerade auf die Weise, die Frau Regina annahm.

Frau Beate Ekenstedt hatte mit Karl Artur auf der Bank vor dem Seitenflügel gesessen, als Frau Sundler aus dem großen Gebäude herausgestürzt kam und wie eine Taube, die sich eben noch in den Klauen des Habichts befunden hat, davonflatterte.

»Was hat denn deine Freundin Thea?« fragte Frau Beate. »Sieh, wie sie davonläuft, und sie drückt die eine Hand an die Wange! Schnell, Karl Artur, eile ihr nach, damit du sie am Hoftor einholst. Vielleicht ist sie von einem Bienenschwarm angefallen worden. Frag' sie, ob du ihr nicht beistehen kannst!«

Karl Artur beeilte sich, dem Wunsche seiner Mutter nachzukommen, und obgleich ihn Frau Sundler voller Verzweiflung zurückwinkte, erreichte er sie doch am Hoftor.

Als er zu seiner Mutter zurückkam, sah er höchst empört aus.

»Nun hat Charlotte wiederum Böses angestiftet. Sie ist wirklich zu rücksichtslos. Denk' dir, Frau Sundler ist zu ihr hineingegangen, um zu fragen, wie es ihr gehe; da hat Charlotte einen günstigen Augenblick benützt und hat ihr mehrere Locken an dem einen Ohr abgeschnitten.«

»Was sagst du?« rief Frau Beate, während ein mutwilliges Lächeln ihr Gesicht erhellte. »Frau Sundlers schöne Locken! Sie muß ja schrecklich ausgesehen haben!«

»Es war eine Rache, Mama,« sagte Karl Artur. »Frau Sundler weiß, wie Charlotte eigentlich ist. Sie war es, die mir die Augen geöffnet hat.«

»Ich verstehe,« erwiderte Frau Beate.

Sie blieb ein paar Sekunden lang sehr nachdenklich ganz ruhig sitzen. Dann wendete sie sich an ihren Sohn und sagte:

»Wir wollen jetzt weder von Charlotte noch von Thea Sundler reden, denn wir haben nur noch wenige Minuten für uns, ehe ich reise. Laß uns dafür lieber von dir und deinen Plänen, wie du uns armen Menschen helfen willst, reden!« – – -

Beim Mittagessen war dann also die Frau Oberst geradeso vergnügt und fröhlich, wie sie sonst immer zu sein pflegte. Frau Regina und sie wetteiferten miteinander, Witze zu machen und lustige Geschichten zu erzählen.

Ab und zu warf Frau Beate einen Blick auf die Luke in der Wand. Sie fragte sich wohl, wie es Charlotte in ihrer Einsamkeit gehe. Ja, sie fragte sich wohl, ob sich das junge Mädchen, das ihr stets eine so hingebende Liebe dargebracht hatte, nicht nach ihr sehne.

Nach dem Essen, als der Reisewagen schon vor der Tür stand, war Frau Beate zufällig einen Augenblick allein im Eßzimmer. In demselben Augenblick stand sie auch schon an der Luke und stieß sie auf. Vor sich hatte sie nun Charlotte, Charlotte, die sich den ganzen Tag fast krank gesehnt hatte, nur einen einzigen Blick aus den lieben Augen ihrer Schwiegermutter auffangen zu können.

Blitzschnell umschlang Frau Beate Charlottes Gesicht mit ihren weichen Händen, zog sie an sich und küßte sie einmal ums andere. Und zwischen den Küssen flüsterte sie ihr ein paar abgerissene Sätze zu.

»Mein Liebling, kannst du es aushalten, noch ein paar Tage, ein paar Wochen zu schweigen? Es wird noch alles gut werden. Hab' ich dich zu sehr gequält? Aber ehe du die Locken abgeschnitten hattest, wußte ich ja nicht, was ich von dir glauben sollte. Ekenstedt und ich werden nun die Sache in die Hand nehmen. Kannst du Karl Arturs wegen und auch um meinetwillen noch etwas aushalten? Du sollst ihn wiederhaben, mein Kind, du sollst ihn wiederbekommen.«

Jemand faßte nach der Stubentür. Die Luke schloß sich in aller Eile, und gleich nachher saß die Frau Oberst Ekenstedt in ihrem Reisewagen.


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