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Der Brief

Charlotte Löwensköld saß auf ihrem Zimmer und schrieb an ihre Schwiegermutter, oder, besser gesagt, an sie, die Charlotte bis zu diesem Tag als ihre Schwiegermutter betrachtet hatte, nämlich an die Frau Oberst Beate Ekenstedt.

Sie schrieb emsig und füllte Seite um Seite. Ach, sie schrieb ja an den einzigen Menschen auf der Welt, der sie bisher immer verstanden hatte, um ihm zu erklären, was sie zu tun beabsichtige.

Zuerst berichtete sie von der Werbung des Hüttenbesitzers Schagerström und von allem, was seither vorgefallen war. Sie schilderte jenes Gespräch im Garten und machte sich dabei nicht besser, als sie war. Auch gab sie zu, daß sie über Karl Artur böse gewesen sei und ihn gereizt habe, aber sie beteuerte zugleich, niemals sei ihr auch nur der Gedanke gekommen, mit ihm brechen zu wollen.

Weiter schilderte sie das Zwiegespräch beim Morgenkaffee und Karl Arturs sonderbares Bekenntnis, daß er sich mit einem Mädchen aus Dalarne verlobt habe.

Sie erzählte, wie sie versucht habe, ihn zurückzugewinnen, und wie es ihr beinahe geglückt wäre; aber durch die unglückselige Ankunft des Blumenstraußes sei alles wieder verloren gewesen.

Ferner schrieb sie von dem unsinnigen Brief, den Karl Artur ihr geschickt und welchen Beschluß sie selbst aus dieser Veranlassung gefaßt habe, und sie fügte hinzu, sie hoffe, ihre Schwiegermutter werde sie verstehen, wie sie sie ja von dem ersten Tage ihres Zusammentreffens an immer verstanden habe.

Es bleibe ihr jetzt keine andere Wahl. Irgend jemand, wer es sei, wisse sie zwar noch nicht, aber sie nehme an, es werde eine der Frauen im Kirchdorfe sein, habe sie verleumdet und sie als eine falsche und hinterlistige und geldgierige Person hingestellt. Aber das solle dieser Person nicht ungerügt hingehen.

Und da sie ein armes Mädchen sei, das bei andern ihr Brot esse, da sie weder Vater noch Mutter habe, die sich ihrer Sache annehmen könnten, müsse sie sich selbst Gerechtigkeit verschaffen.

Aber sie sei ja auch selbst imstande, diese Sache zu erforschen und in Ordnung zu bringen. Sie sei nicht eines der gewöhnlichen bescheidenen Frauenzimmer, die sich auf nichts anderes verstünden als auf Nadel und Kehrbesen. Sie könne eine Flinte laden und sie auch abschießen, und bei der letzten Herbstjagd habe sie den größten Elenhirsch erlegt.

An Mut gebreche es ihr am wenigsten von allem. Sie sei es gewesen, die einmal auf dem Jahrmarkt einem Vagabunden, als er ein Pferd mißhandelte, eine Ohrfeige versetzt habe. Sie hatte erwartet, er werde das Messer ziehen und ihr in die Brust stoßen, aber dann hätte sie ihm doch jedenfalls einen Schlag versetzt gehabt.

Die Frau Oberst werde sich wohl noch daran erinnern, wie sie einmal ihre ganze Stellung aufs Spiel gesetzt habe, als sie, ohne zu fragen, des Propstes vielgeliebte Pferde aus dem Stall geholt, nur um mit den Bauernburschen am zweiten Weihnachtsfeiertage um die Wette zu fahren. Es werde wohl nicht viele geben, die sich auf ein solches Abenteuer einlassen würden.

Ebenso sei sie es gewesen, die sich aus dem bösen Hauptmann Hammerberg einen Todfeind gemacht habe, weil sie sich geweigert, bei einer Mittagsgesellschaft als seine Tischdame neben ihm zu sitzen. Sie hätte es aber nicht über sich gewinnen können, sich während einer langen Mahlzeit mit einem Manne zu unterhalten, der kurz vorher einen guten Freund beim Kartenspiel ruiniert und ihn dadurch zum Selbstmord getrieben hatte. Wenn sie aber für eine Sache, die sie gar nichts anging, so viel gewagt habe, dann würde sie sicherlich auch nicht zögern, wenn es sich um sie selbst handle.

Sie habe immer das Gefühl, daß die Person, die sie bei Karl Artur verleumdet, von recht gemeiner Gesinnung sein müsse, eine Person, die die Luft verpeste, die sie einatme, und die überall, wo sie auch immer hinkomme, Unheil anrichten werde. Allein ihre Rede anhören zu müssen, sei wie der Biß einer giftigen Schlange. Man könnte der Menschheit keinen größeren Dienst leisten, als sie von einem solchen Ungeheuer zu befreien.

Sobald sie das Billett von Karl Artur gelesen und begriffen, habe sie schon gewußt, was sie tun müsse. Sie habe gleich auf ihr Zimmer eilen und die Flinte holen wollen. Diese sei geladen gewesen. Sie hätte sie nur von der Wand herunterzunehmen und über die Schulter zu werfen brauchen. In der ganzen Propstei hätte sie niemand am Fortgehen gehindert. Sie hätte ihren Hund herbeigelockt und wäre mit ihm an den See hinuntergegangen, wie wenn sie sehen wollte, ob die jungen Erpel gewachsen seien. Und wenn man sie dann von der Propstei aus nicht mehr hätte sehen können, wäre sie nach dem Kirchdorfe abgebogen, denn dort befinde sich natürlich die Person, die Karl Artur Gift in die Ohren geträufelt habe.

Sie denke sich, sie wäre vor dem Hause, wo die »Person« wohne, stehengeblieben und hätte sie auf die Straße herausgerufen. Und sobald sie zum Vorschein gekommen wäre, hätte sie gerade auf ihr Herz gezielt.

Wenn sie nur gewußt hätte, welche von allen den Frauen, die im Kirchdorfe wohnen, die Schuldige wäre, dann wäre diese Bestrafung schon ausgeführt; aber bei näherer Überlegung habe sie eingesehen, daß sie warten müsse, bis sie ihrer Sache vollkommen sicher sei. Einen Augenblick habe sie auch gedacht, sie wolle es so machen wie Karl Artur und ganz einfach im Vertrauen auf Gott, daß er ihr die Schuldige in den Weg führe, mit der Flinte auf die Landstraße hinausgehen, aber das habe sie wieder aufgegeben; die wirklich Schuldige hätte ja frei ausgehen können, und das gönne sie ihr nicht.

Es hätte auch gar keinen Wert, wenn sie in den Seitenflügel hinüberginge und Karl Artur fragte, wer es sei, mit dem er am vorigen Abend gesprochen habe. O nein, so klug sei er doch, daß er ihr auf diese Frage keine Antwort geben würde.

Statt dessen sei sie nun entschlossen, mit List vorzugehen. Sie wolle sich ruhig, ganz ruhig und unbefangen zeigen. Auf diese Weise werde sie das Geheimnis schon bald aus ihm herauslocken.

Sie habe auch gleich versucht, sich selbst im Zaume zu halten. In ihrer Verwirrung habe sie die Blumen von Schagerström zerpflückt, doch nachher habe sie die Rosenblätter zusammengelesen und in den Kehrichteimer geworfen. Sie habe sogar auch den Verlobungsring gesucht, den Karl Artur ihr zurückgeschickt und der weit über den Boden hingerollt sei. Dann sei sie auf ihr Zimmer gegangen und, als sie gesehen, daß es erst halb acht war, also noch Zeit genug, bis sie beim Gabelfrühstück wieder mit Karl Artur zusammentreffe, habe sie sich hingesetzt, um an ihre geliebte Schwiegermutter zu schreiben.

Wenn dieser Brief in Karlstadt eintreffe, werde alles vorbei sein. Ihr Entschluß stehe so fest wie je. Aber sie sei froh über die Verzögerung. Dadurch habe sie die Sache der Einzigen erklären können, an deren Urteil ihr etwas gelegen sei, und sie habe aussprechen können, wie ihr Herz immer und allezeit an ihrer bewunderungswürdigen, ihrer über alles geliebten Freundin und Mutter hänge.

*

So weit hatte Charlotte geschrieben. Der Brief war fertig, und sie begann nun ihn durchzulesen. Ja, er war klar und deutlich geschrieben. Sie hoffte, Frau Beate werde verstehen, daß sie ohne Schuld war, daß man sie ungerecht angeklagt und sie im vollen Recht sei, wenn sie sich räche.

Aber als Charlotte nun den Brief durchlas, drängte sich ihr ein anderer Gedanke auf. In ihrem Verlangen, ihre eigene Unschuld festzustellen, hatte sie eine unvorteilhafte Schilderung von Karl Artur gemacht.

Sie las und las, und der Kopf wurde ihr heiß vor lauter Aufregung. Lieber Gott, wenn sie so schrieb, dann wurden ja der Oberst und seine Frau auf Karl Artur böse!

Heute morgen erst hatte sie Karl Artur vor dem Zorn seiner Eltern gewarnt, und jetzt saß sie selbst da und hetzte sie gegen den Sohn auf!

Auf Karl Arturs Kosten rühmte sie sich selbst. Sie selbst war edelmütig und vernünftig gewesen, von ihm aber hatte sie gesprochen, wie wenn er ganz und gar verrückt wäre.

Und diesen Brief hatte sie seiner Mutter schicken wollen, seiner Mutter, die ihn liebte! Ach, sie selbst war ja wohl ganz und gar verrückt, sie auch!

Hatte sie der geliebten Schwiegermutter einen so großen Schmerz bereiten wollen? Hatte sie gar nicht mehr an alle die Nachsicht gedacht, die ihr von dieser Schwiegermutter von dem ersten Zusammentreffen an und auch seither immer bewiesen worden war? Hatte Charlotte denn alle Barmherzigkeit vergessen?

Sie zerriß den langen Brief in zwei Stücke und setzte sich hin, um einen neuen zu schreiben. Jetzt wollte sie die Schuld auf sich nehmen. Sie wollte Karl Artur reinwaschen.

Es war ja nur recht, wenn sie das tat. Karl Artur war dazu bestimmt, etwas Großes in dieser Welt zu leisten, und sie, Charlotte, war befriedigt, wenn sie alles Böse von ihm fernhalten konnte.

Er hatte sich von ihr getrennt, aber sie hatte ihn darum doch noch lieb, und sie wollte ihn beschützen und ihm helfen, heute ebenso wie bisher immer.

Wieder begann sie an Frau Beate Ekenstedt zu schreiben:

»Möchte meine gnädige Schwiegermutter nicht allzu schlecht von mir denken -«

Doch nun wußte sie nicht weiter. Was sollte sie sagen? Lügen hatte sie nie gekonnt, und die Wahrheit konnte nicht leicht abgeschwächt werden.

Ehe sie richtig überlegt hatte, was sie weiter anführen solle, wurde zum Gabelfrühstück geläutet. Nun hatte sie keine Zeit mehr zum Überlegen.

Da setzte sie ganz einfach ihren Namen unter die einzige geschriebene Zeile, faltete rasch den Brief zusammen und versiegelte ihn. Sie nahm ihn mit in das untere Stockwerk, legte ihn da in die Posttasche und begab sich dann ins Eßzimmer.

Plötzlich fiel ihr ein, daß sie nun nicht nachzuforschen brauchte, wer die »Person« sei. Wenn sie wollte, daß Frau Beate ihr glaubte, und wenn sie wirklich die Schuld auf sich nehmen wollte, dann konnte sie auch niemand anders bestrafen.


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