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Die Zuckerdose

Vor fünf Jahren, als Karl Artur Ekenstedt zuerst nach Korskyrka kam, war er ein furchtbar strenger Pietist. Charlotte Löwensköld hatte er als ein verlorenes Weltkind betrachtet, mit dem er kaum ein Wort wechseln wollte.

Das hatte Charlotte natürlich geärgert, und sie hatte in ihrem Herzen beschlossen, daß er recht bald Abbitte für seine Mißachtung tun solle.

Sehr bald hatte sie auch gemerkt, wie unerfahren er in allen den Dingen war, die ein Pfarrer durchaus wissen muß, und so hatte sie sich herbeigelassen, ihm zurechtzuhelfen. Im Anfang war er verlegen und abweisend, nach einiger Zeit aber zeigte er sich doch etwas dankbarer und nahm ihre Hilfe öfter in Anspruch, als sie eigentlich wünschte.

Karl Artur ging sehr oft weite Wege, um arme alte Männer und Frauen aufzusuchen, die weit draußen im Walde in ärmlichen Hütten wohnten, und er bat Charlotte immer um ihre Begleitung auf diesen Wanderungen. Er versicherte ihr, sie verstehe es bei weitem besser als er, wie man mit diesen Alten verkehren müsse, wie man sie aufmuntere und sie in ihren kleinen Sorgen trösten könne.

Auf diesen Gängen, die die beiden allein machten, hatte Charlotte Karl Artur lieben gelernt. Früher hatte sie immer davon geträumt, ein stattlicher, tapferer Offizier werde sie heimführen, jetzt aber war sie in den feinfühligen, bescheidenen jungen Pfarrer, der keiner Fliege etwas zuleide tat und über dessen Lippen niemals ein Fluch drang, rettungslos verliebt.

Nun ja, eine ganze Weile hatten die beiden ihre Spaziergänge und ihre Gespräche ungestört fortsetzen können, aber dann war im Juli Jacquette Ekenstedt, Karl Arturs Schwester, auf Besuch gekommen. Darin lag nichts Merkwürdiges. Frau Propst Forsius in Korskyrka war eine alte Freundin der Frau Oberst Ekenstedt, und so schien es die natürlichste Sache der Welt, daß Frau Forsius Karl Arturs Schwester auf ein paar Wochen nach Korskyrka einlud.

Jacquette Ekenstedt schlief im gleichen Zimmer mit Charlotte, und die beiden Mädchen befreundeten sich aufs innigste. Jacquette liebte Charlotte in dem Grad, daß man hätte meinen können, sie sei vielmehr wegen Charlotte als um ihres Bruders willen nach Korskyrka gekommen.

Nachdem dann Jacquette wieder nach Hause gereist war, traf ein Brief von Frau Beate Ekenstedt an Frau Forsius in Korskyrka ein, den Charlotte auch zu lesen bekam. Er enthielt eine Einladung für Charlotte, nach Karlstadt zu kommen, um Jacquette zu besuchen. Die Frau Oberst schrieb, Jacquette rede immerfort von dem entzückenden jungen Mädchen, das sie in der Propstei kennengelernt habe. Jacquette sehne sich geradezu nach Charlotte und habe sie so begeistert beschrieben, daß auch ihre liebe Mama ganz neugierig auf Jacquettes Freundin geworden sei.

Ferner schrieb die Frau Oberst, sie interessiere sich selbst ohnedies noch besonders für das junge Mädchen, weil es eine Löwensköld sei. Charlotte gehöre allerdings zu dem jüngeren Zweige der Familie, der nie in den Freiherrnstand erhoben wurde, aber ursprünglich stamme sie doch von dem alten General auf Hedeby ab, und sie seien also etwas miteinander verwandt.

Sobald Charlotte den Brief gelesen hatte, erklärte sie sofort, sie werde nicht nach Karlstadt reisen. Sie sei nicht so dumm, daß sie nicht verstünde, was es mit dieser Einladung auf sich habe. Jetzt, nachdem Jacquette der Frau Oberst über sie und Karl Artur Bericht erstattet habe, solle sie nach Karlstadt geschickt werden, damit die gnädige Frau selbst sehen und beurteilen könne, ob Charlotte Löwensköld eine passende Schwiegertochter abzugeben vermöge.

Aber die Frau Propst Forsius und vor allem Karl Artur hatten Charlotte schließlich doch zu der Reise überredet. Karl Artur und Charlotte waren zu der Zeit schon im stillen verlobt, und er sagte, er würde ihr ewig dankbar sein, wenn sie den Wunsch seiner Mutter erfülle. Er sei ja gegen den Willen seiner Eltern Pfarrer geworden, und obgleich eine Auflösung ihrer Verlobung durchaus nicht in Frage käme, was auch seine Eltern immer darüber denken würden, so möchte er ihnen doch nicht gerne neuen Kummer bereiten. Und das wisse er gewiß, sobald seine Eltern Charlotte nur sähen, würden sie ganz entzückt von ihr sein. Er habe noch nie ein junges Mädchen kennengelernt, das so gut wie Charlotte mit älteren Leuten umzugehen verstehe. Und er habe sich auch zuerst nur deshalb zu ihr hingezogen gefühlt, weil er gesehen, wie gut sie gegen das alte Ehepaar in der Propstei, sowie auch gegen alle andern betagten Menschen gewesen sei.

Wie nun Karl Artur in dieser Weise auf Charlotte einredete und sie so herzlich bat, hatte sie ihm schließlich versprochen, die Einladung anzunehmen.

Es war eine ganze Tagereise nach Karlstadt, und da Charlotte unmöglich allein reisen durfte, hatte die Frau Propst Forsius ihr einen Platz in dem Wagen des Hüttenbesitzers Moberger verschafft. Herr und Frau Moberger fuhren ohnedies zu einer Hochzeit in die Stadt. Mit unzähligen guten Ratschlägen und Ermahnungen hatte die alte Dame Charlotte abreisen lassen, und diese hatte versprochen, recht vernünftig zu sein.

Aber einen ganzen langen Tag hindurch in einem geschlossenen Wagen auf dem schmalen Rücksitz ausharren und Herrn und Frau Moberger ins Gesicht starren zu müssen, die, jedes in seiner Ecke, die Zeit verschliefen, war für Charlotte vielleicht nicht die beste Vorbereitung für den Besuch in Karlstadt.

Frau Moberger fürchtete sich vor dem Zug im Wagen und wollte unter keiner Bedingung auf mehr als einer Seite das Fenster öffnen lassen, ja, bisweilen nicht einmal das. Je wärmer und qualmiger es in dem Reisewagen wurde, desto besser schlief Frau Moberger. Zuerst hatte Charlotte versucht, mit den Reisegenossen eine Unterhaltung in Gang zu bringen, aber Herr und Frau Moberger hatten vor der Abreise besonders viel zu tun gehabt, und so wollten sie jetzt ausruhen.

Charlottes kleine Füße hämmerten und hämmerten auf den Wagenboden, ohne daß sie sich dessen bewußt gewesen wäre. Doch plötzlich erwachte Frau Moberger und fragte Charlotte, ob sie nicht so gut sein wolle, sich etwas ruhig zu verhalten.

Beim Gasthaus angelangt, holten Mobergers ihren Mundvorrat heraus und aßen mit gutem Appetit, auch vergaßen sie durchaus nicht, Charlotte davon anzubieten. Sie waren während der ganzen Reise sehr freundlich gegen Charlotte; aber jedenfalls war es ein Wunder, daß sie schließlich mit dem jungen Mädchen richtig in Karlstadt eintrafen.

Je länger Charlotte stillsitzen mußte, je mehr sie unter der Hitze litt, desto verdrießlicher wurde sie über diese ganze Reise. Sie machte sie freilich Karl Artur zuliebe; aber plötzlich war ihr, als sei ihre ganze Liebe verschwunden, und sie konnte gar nicht mehr begreifen, warum sie eigentlich nach Karlstadt fahren und sich da beschauen lassen solle. Sehr oft überlegte sie, ob sie nicht besser täte, die Wagentür aufzureißen und nach Hause zurückzulaufen. Sie blieb aber dann doch wieder ruhig sitzen, weil sie so matt und verärgert war, daß sie kein Glied rühren mochte.

Als sie den Ekenstedtschen Hof erreicht hatte, war sie durchaus nicht in der Laune, sich vernünftig und anständig aufzuführen. Am liebsten hätte sie laut hinausgeschrien, oder im Kreis herumgetanzt, oder etwas entzweigeschlagen. Das hätte ihre Gesundheit und gute Laune wiederhergestellt.

Jacquette Ekenstedt kam ihr freundlich und vergnügt entgegen; aber sobald Charlotte sie erblickte, hatte sie das Gefühl, selbst furchtbar geschmacklos und unmodern angezogen zu sein, und vor allem, daß mit ihren Schuhen irgend etwas nicht in Ordnung sei. Die Schuhe waren zwar funkelnagelneu, und der Dorfschuhmacher hatte sich alle Mühe damit gegeben, aber sie klatschten beim Gehen auf und rochen nach Leder.

Jacquette führte Charlotte durch mehrere schöne Gemächer in das Zimmer ihrer Mutter, und als Charlotte so durch die Wohnung schritt und den Parkettboden, die großen Spiegel und die Gemälde über den Türen sah, gab sie alles verloren. Nein, in diesem Hause konnte sie nicht als passende Schwiegertochter aufgenommen werden, das begriff sie jetzt wohl. Diese Reise hierher war die allergrößte Dummheit von ihr.

Als Charlotte zu der Frau Oberst hineinkam, wurde ihr Eindruck, einen ganz verkehrten Weg eingeschlagen zu haben, auch nicht vermindert. Frau Beate Ekenstedt saß in einem Schaukelstuhl am Fenster und las in einem französischen Buche. Als sie Charlotte erblickte, äußerte sie ein paar französische Worte, und sie merkte das wohl nicht einmal, so sehr war sie in ihr Buch vertieft gewesen. Charlotte verstand auch, was Frau Ekenstedt sagte, aber es ärgerte sie, daß die vornehme Dame ihre Sprachkenntnisse hervorzuheben versuchte, und deshalb antwortete sie selbst in ihrem allergewöhnlichsten värmländischen Dialekt. Sie benützte nicht die värmländische Umgangssprache, die auch die gebildeten Leute redeten und die ganz leichtverständlich war, sondern sie benützte das Värmländische des Gesindes und der Bauern, und das war etwas ganz anderes.

Die vornehme Dame runzelte ein wenig die Stirn, sah aber dabei ganz belustigt aus, und Charlotte legte tapfer los und zeigte eine verblüffende värmländische Beredsamkeit. Wenn sie nicht laut hinausschreien oder tanzen oder etwas in Scherben schlagen konnte, so war ihr die värmländische Ausdrucksweise ein gewisser Trost. Das Spiel hier war ja nun doch verloren; aber dann wollte sie wenigstens diesen vornehmen Leuten hier zeigen, daß sie sich keineswegs besser machen wollte, als sie war, um sich bei ihnen einzuschmeicheln.

Charlotte war sehr spät in Karlstadt angekommen, und bei Obersts hatte man deshalb schon zu Abend gegessen. Nach einer kleinen Weile sagte Frau Beate zu Jacquette, nun solle sie ihre Freundin ins Eßzimmer führen, damit sie noch etwas Abendbrot zu sich nehmen könne.

Und damit war der Tag zu Ende.

Der nächste Tag war ein Sonntag, und sobald das Frühstück vorüber war, ging man in die Kirche und hörte den Dompropst Sjöberg predigen. Der Gottesdienst dauerte seine zweieinhalb Stunden, und als er zu Ende war, ging der Oberst mit seiner Frau und Jacquette und Charlotte eine gute Weile auf dem Karlstadter Marktplatz spazieren. Sie trafen da eine Menge Bekannte, und einige Herren kamen auch herbei, die sich ihnen anschlossen. Aber sie drängten sich nur alle um die Frau Oberst und unterhielten sich nur mit ihr; für Jacquette oder Charlotte hatten sie dagegen weder ein Wort noch einen Blick übrig.

Nach dem Spaziergang ging Charlotte mit den andern in das Ekenstedtsche Haus zurück. Es war mittlerweile Zeit zum Mittagessen geworden. Zu diesem waren noch mehrere Gäste geladen: Dompropsts und Bürgermeisters und die Brüder Stake sowie Eva Ekenstedt mit ihrem Leutnant.

Während der Mahlzeit führte die Frau Oberst mit dem Dompropst und dem Bürgermeister eine feine gebildete Unterhaltung. Eva und Jacquette sprachen nicht ein Wort, und Charlotte schwieg ebenfalls, nachdem sie begriffen hatte, daß die Sitte des Hauses hier der Jugend Schweigen gebot. Aber während des ganzen Essens wünschte sie sich weit, weit weg. Sie lag sozusagen auf der Lauer nach einer Gelegenheit, Karl Arturs Eltern zeigen zu können, daß sie selbst einsehe, wie wenig sie zu ihrer Schwiegertochter passe. Eines war ihr schon klar geworden, der värmländische Dialekt genügte durchaus noch nicht, sie mußte zu etwas viel Kräftigerem und Entscheidenderem greifen.

Nach einer solchen Reise, einer solchen Predigt, einem solchen Spaziergang und so einem Mittagessen war es für sie durchaus nötig, den Menschen hier zu verstehen zu geben, daß sie nicht länger dableiben wolle.

Eine der hübschen, wohlerzogenen Dienerinnen, die bei Tisch aufwarteten, bot jetzt eine Schale Himbeeren herum, und Charlotte nahm davon, wie alle andern auch. Danach streckte sie die Hand nach der in ihrer Nähe stehenden Zuckerschale aus und begann ihre Beeren mit Zucker zu überstreuen.

Charlotte hatte keine Ahnung, daß sie mehr Zucker nahm, als angezeigt war, als ihr Jacquette ganz hastig ins Ohr flüsterte:

»Nimm nicht so viel Zucker! Das kann Mama nicht leiden!«

Freilich, Charlotte wußte eins recht gut: viele alte Leute betrachteten es als eine sündhafte Verschwendung, wenn man noch Zucker auf die Speisen streute. Daheim in Korskyrka durfte man einen Streuzuckerlöffel nur anrühren, gleich bekam man eine Ermahnung von dem Herrn Propst selbst. Deshalb verwunderte sich Charlotte auch gar nicht über Jacquettes Warnung. Zugleich aber sah sie jetzt einen Ausweg, dem Aufruhr, der in ihr gegärt hatte, seit sie von daheim abgefahren war, Luft zu verschaffen. Sie grub mit dem Streulöffel tief in die Zuckerschale hinein und streute so viel Zucker auf ihren Teller, bis er wie eine Schneewehe aussah.

Rings um den Tisch wurde es merkwürdig still. Nein, das ging nicht an, darüber waren sich alle klar. Und es dauerte auch nicht lange, bis die Frau Oberst eine kleine Bemerkung machte.

»In Korskyrka sind die Himbeeren offenbar recht sauer. Hier bei uns ist es nicht so gefährlich. Ich glaube kaum, daß sie noch mehr gezuckert werden brauchen.«

Aber Charlotte streute immer noch mehr Zucker auf ihre Himbeeren. Zu gleicher Zeit sagte sie zu sich selbst:

»Wenn ich jetzt noch mehr Zucker auf meinen Teller streue, bekomme ich Karl Artur nicht und werde ewig unglücklich sein, aber ich muß trotzdem weiterzuckern.«

Die Frau Oberst zuckte die Achseln ein wenig und wandte sich dann dem Dompropst zu, um das unterbrochene Gespräch fortzusetzen. Offenbar wollte sie nicht allzu hart zugreifen.

Aber jetzt suchte der Oberst seiner Frau zu Hilfe zu kommen.

»Sie verderben sich ja den Himbeergeschmack vollständig, liebes Fräulein Charlotte.«

Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, als Charlotte den Streulöffel weglegte. Statt dessen ergriff sie die Zuckerschale mit beiden Händen und schüttete den ganzen Inhalt auf ihren Teller.

Darauf stellte sie die Zuckerschale wieder auf ihren Platz und legte den Streulöffel hinein. Dann setzte sie sich auf ihrem Stuhl zurecht und sah die ganze Tischgesellschaft mit festem Blick an, vollständig bereit, den Sturm über sich ergehen zu lassen.

»Jacquette,« sagte der Oberst, »sei so gut und nimm deine Freundin mit dir auf dein Zimmer.«

Doch nun hob die Frau Oberst abwehrend die Hand auf.

»Nein, nein, nein, durchaus nicht! Nicht auf diese Weise,« sagte sie.

Danach schwieg sie einen Augenblick, wie um zu überlegen, was sie nun sagen solle. Und plötzlich trat ein fröhliches Leuchten in ihre lieben Augen, und sie begann aufs neue zu reden. Aber sie wendete sich nicht an Charlotte, sondern an den Dompropst.

»Haben Sie, Cousin, einmal gehört, wie es zuging, als meine Tante Klementine den Grafen Platen heiratete? Die beiden Väter hatten sich in Stockholm beim Reichstag getroffen und die Heirat der Kinder untereinander ausgemacht; als aber alles klipp und klar zwischen ihnen war, sagte der junge Graf, er wolle seine Zukünftige doch wenigstens sehen, ehe er auf die Verabredung eingehe. Tante Klementine aber saß daheim auf Hedeby, und da es Aufsehen erregt hätte, wenn sie nun in aller Eile nach Stockholm geholt worden wäre, wurde beschlossen, daß der Graf nach dem Dorfe Bro fahren und die künftige Braut in der Kirche sehen solle. Nun, Cousin, meine Tante Klementine hatte zwar nichts gegen eine Heirat mit einem jungen, schönen Grafen einzuwenden, aber sie hatte erfahren, daß er erst in die Kirche kommen wolle, um sie anzusehen, und ein solches Auf-die-Brautschau-Fahren gefiel ihr ganz und gar nicht. Am liebsten wäre sie an dem Sonntag gar nicht in die Kirche gegangen; aber zu jener Zeit war es nicht Sitte, daß sich die Kinder gegen das auflehnten, was die Eltern beschlossen hatten. Sie mußte sich also so schön wie nur je anziehen und sich in den Löwensköldschen Kirchenstuhl setzen, damit Graf Platen mit noch einem seiner Freunde sie nach Belieben mustern konnte. Aber wissen Sie, was sie tat, Cousin? Als der Kantor das Lied anstimmte, fing sie mit lauter Stimme zu singen an, aber sie sang vollkommen falsch! Und dabei blieb sie. Lied um Lied wurde von ihr falsch gesungen, bis der Gottesdienst zu Ende war. Als sie dann zur Kirche heraustrat, stand Graf Platen vor ihr und machte eine tiefe Verbeugung. »Ich muß Sie um Verzeihung bitten,« sagte er. »Ein Fräulein Löwensköld kann sich nicht wie ein Pferd auf dem Jahrmarkt betrachten lassen, das verstehe ich jetzt!« Damit entfernte er sich für diesmal; aber er kam wieder und machte die Bekanntschaft des jungen Mädchens in ihrem Heim auf Hedeby, und sie heirateten und wurden wohl auch glücklich miteinander. Doch Sie haben vielleicht diese Geschichte schon früher gehört, Cousin?«

»Allerdings, aber nicht so gut erzählt,« antwortete der Dompropst, der von allem nichts begriff.

Wer aber begriff, das war Charlotte. Da saß sie auf ihrem Stuhle, das Herz voller Erwartung, und verschlang die Erzählerin mit den Augen. Die Frau Oberst sah sie an, lächelte ein wenig und wendete sich dann nochmals an den Dompropst.

»Wie Sie wissen, sitzt heute ein junges Mädchen mit uns zu Tisch. Sie ist hierhergekommen, weil ich und mein Mann sie mustern und entscheiden wollten, ob sie eine passende Gattin für Karl Artur sei. Aber das junge Mädchen, Cousin, ist eine Löwensköld vom echten Schlage, der es durchaus nicht gefällt, zum Anschauen ausgestellt zu werden. Und ich versichere Ihnen, Cousin, seit sie gestern abend hier angekommen ist, hat sie sich alle Mühe gegeben, ebenso falsch zu singen wie meine Tante Klementine. Jetzt aber mache ich es wie Graf Platen, ich bitte um gnädige Verzeihung und sage, ich verstehe, daß ein Fräulein Löwensköld sich nicht wie ein Pferd auf dem Jahrmarkt mustern lassen will.«

Zugleich stand Frau Beate Ekenstedt auf und breitete die Arme aus. Charlotte flog ihr um den Hals, küßte sie und weinte vor Glück und Bewunderung und Dankbarkeit.

Von diesem Augenblick an liebte Charlotte ihre Schwiegermutter fast noch mehr als Karl Artur. Ihretwegen, damit deren Träume in Erfüllung gehen könnten, hatte sie Karl Artur dazu gebracht, wieder nach Uppsala zurückzugehen und seine Studien zu vollenden. Ja, um ihrer Schwiegermutter willen hatte Charlotte Karl Artur in diesem Sommer zum Lektor machen wollen, damit er eine Stellung in der Welt einnähme und etwas mehr als ein armer Landpfarrer würde.

Und um ihrer Schwiegermutter willen hatte sie sich auch an diesem Morgen im Zaum gehalten und sich vor ihm gedemütigt.


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