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Die Postkutsche

1

Als Schagerström nach seiner zweiten Werbung um Charlotte Löwensköld die Propstei von Korskyrka verließ, war es ihm durchaus nicht zum Lachen zumute. Am Tage vorher war er in erhobener Stimmung von dort abgefahren, weil er glaubte, einem stolzen, uneigennützigen Charakter begegnet zu sein. Jetzt dagegen, wo Charlotte Löwensköld sich niedrig gesinnt und berechnend gezeigt hatte, fühlte er sich tief verstimmt.

Und diese seine Niedergeschlagenheit hatte einen ernsten Hintergrund insofern, als ihm allmählich klar wurde, daß das junge Mädchen einen stärkeren Eindruck auf ihn gemacht hatte, als ihm bisher bewußt gewesen war.

»Zum Kuckuck!« murmelte er. »Wenn sie nun die Probe bestanden hätte, ich fürchte beinahe, ich hätte mich in sie verliebt.«

Dies konnte indes jetzt, nachdem sie ihre wahre Sinnesart entschleiert hatte, gar nicht mehr in Frage kommen. Selbstverständlich mußte er sie heiraten, aber er kannte sich selbst, eine Frau, die intrigant, unzuverlässig und geldgierig war, würde er nie und nimmer lieben können.

An diesem Tage fuhr Schagerström in einer kleinen Kutsche, deren er sich auf weiten Reisen immer bediente. Jetzt ließ er plötzlich die ledernen Vorhänge vor den Wagenfenstern herab. Der ewige Sonnenschein und der Anblick der in reichem Erntesegen prangenden Felder war ihm zuwider.

Als er aber dann nichts anderes vor Augen hatte, bot sich ihm die ganze Zeit im Dunkel des Wagens ein entzückendes Bild dar. Er sah Charlotte, wie sie sich unter der Türöffnung vorbeugte und den jungen Ekenstedt betrachtete. Wenn jemals Liebe aus einem Antlitz herausgestrahlt hatte, dann hatte sie aus dem ihrigen herausgeleuchtet.

Aber sooft dieses Bild vor dem jungen Hüttenbesitzer auftauchte, fing sein Blut an zu kochen.

»Fahr' zur Hölle! Da standest du und hattest dich in einen Engel des Lichts verkleidet, und kaum zehn Minuten nachher gabst du dem reichen Schagerström dein Jawort.«

Seine Niedergeschlagenheit nahm immer mehr zu, je länger die Fahrt dauerte, und das ist leicht begreiflich. Wenn er daran dachte, wie schlecht er diese Angelegenheit geführt hatte, mußte er sich selbst in Grund und Boden verachten. Da war er in kecker Weise Bürge für einen Menschen geworden, und zwar nur um ein Paar schöner Augen willen. Eine solche Dummheit! Eine solche Leichtgläubigkeit! Die ganze Freierei war eine fast unverzeihliche Unbesonnenheit gewesen.

Hatte er denn den Verstand vollständig verloren gehabt? Sollten seine Eltern doch recht behalten? In dieser Sache hatte er sich jedenfalls tolpatschig und unbegabt genug gezeigt.

Es dauerte nicht lange, bis er sein Mißgeschick als eine Strafe betrachtete, weil er dem Andenken seiner verstorbenen Gattin untreu geworden war und sich wieder verheiraten wollte. Deshalb würde er nun an eine Frau gebunden sein, die er weder achten noch lieben konnte.

Bei diesen Gedanken erwachte überdies das alte schwere Leid wieder in seinem Herzen. Ja, in diesem Leid allein war er daheim, und in ihm lebte und webte er. Das Leben mit seinen Pflichten und seinen Verwicklungen widerstand ihm tatsächlich.

Schagerström hatte sich diesmal auf Reisen begeben, um seine Hüttenwerke und Eisenhämmer zu inspizieren. Er wollte die Abrechnungen seiner Verwalter durchgehen, wollte nachsehen, ob die schwarzen Schmiedewerkstätten mit ihren gähnenden Essen und ihren eisenbeschlagenen Hämmern in gutem Zustande wären, und zugleich bestimmen, wie viel Kohlen und Roheisen für den nächsten Winter eingekauft werden sollten.

Es war also eine wirkliche Geschäftsreise. Eine solche Reise war in jedem Sommer nötig, sie konnte nicht unterlassen werden.

Nach einer mehrstündigen Fahrt erreichte Schagerström Gammalhyttan, wo sein guter Freund Henrik Nyman jetzt Verwalter war. Man wird verstehen, daß Herr Nyman und auch seine Gattin, eine der liebenswürdigsten Fräulein Fröberg von Kronbäcken, den Hüttenbesitzer mit offenen Armen aufnahmen. Hier wurde er nicht als der gefürchtete Herr willkommen geheißen, sondern als ein guter Kamerad und treuer Jugendfreund.

In bessere Hände hätte Schagerström nicht kommen können; aber die Schwermut, die ihn während der Wagenfahrt überfallen hatte, wollte trotzdem nicht weichen. Gammalhyttan war auch tatsächlich der letzte Ort, wohin er sich als neuverlobter Bräutigam hätte begeben sollen. Jeder Pfad im Garten, jeder Baum in der Allee, jeder Sitz und jede Bank auf dem Hofplatz schien die Erinnerung an Worte der Liebe und Liebkosungen, die zwischen Schagerström und seiner Frau gewechselt worden waren, treulich bewahrt zu haben. Hier lebte sie noch, schön, jung und strahlend. Er konnte sie sehen, sie hören. Wie war es nur möglich, daß er ihr untreu geworden war? Gab es irgendeine Frau auf der Welt, die würdig wäre, ihren Platz in seinem Herzen einzunehmen?

Seinen Gastgebern, Herrn und Frau Nyman, entging natürlich Schagerströms Niedergeschlagenheit durchaus nicht. Sie fragten sich, was ihn denn so düster und niedergedrückt machen könnte? Da er sich aber ihnen nicht von selbst anvertraute, wollten sie auch mit Fragen nicht in ihn dringen.

Da indes Gammalhyttan nur einige Meilen von Korskyrka entfernt lag, mußte ja unter allen Umständen die Nachricht von Schagerströms Werbung und auch sonst von allem, was damit zusammenhing, nach Gammalhyttan dringen, ehe Schagerström wieder abreiste. Der Hüttenverwalter und seine Frau waren also schon nach ganz kurzer Zeit mit der Veranlassung seiner Schwermut bekannt geworden.

»Er bereut es,« sagten sie zueinander. »Aber das ist wirklich schade. Charlotte Löwensköld wäre eine ausgezeichnete Frau für ihn. Sie würde ihn aus dieser ewigen Schwermut und den beständigen Grübeleien herausreißen.«

»Sehr gerne würde ich über all dies mit ihm reden,« sagte Frau Nyman, »denn ich kenne Charlotte nun schon sehr lange. Alles, was man von ihrer Falschheit und Hinterlistigkeit erzählt, ist sicherlich nicht wahr. Sie ist die Ehrenhaftigkeit selbst.«

»Ich würde mich an deiner Stelle nicht in die Sache mischen,« riet Herr Nyman ab. »Schagerström hat jetzt wieder jenen starren Blick, der mir so sehr auffiel, als ich ihn vor sechs Jahren mit List von Stockholm hierherbrachte. Das kann gefährlich werden, weißt du.«

Die junge Frau richtete sich nach der Warnung ihres Mannes, und es gelang ihr wirklich, sich während des größten Teils der Zeit, die Schagerström bei ihnen zubrachte, aller Einmischung zu enthalten. Am Freitagabend jedoch, als die Revision zu Ende gekommen war und der Gast am folgenden Morgen Gammalhyttan wieder verlassen wollte, konnte sie ihr gutes, hilfreiches Herz nicht mehr bemeistern.

»Es ist unbarmherzig, ihn so betrübt und reuevoll abreisen zu lassen,« dachte sie. »Warum soll er sich so unglücklich fühlen, wenn es doch gar nicht nötig ist?«

Und auf die feinste Weise, nur wie ganz zufällig, brachte sie während der Abendmahlzeit das Gespräch auf Charlotte Löwensköld. Sie erzählte mehrere von den Anekdoten, die über das junge Mädchen im Umlauf waren. Sie berichtete von dem Nasenstüber und dem aufsehenerregenden Vorkommnis, als Charlotte in der Kirche aus der Bank herausgefallen war. Sie erzählte auch von der Zuckerschale, von dem Wettfahren mit den Pferden des Propstes und noch vieles andere. Im ganzen versuchte sie Schagerström den Eindruck von einem stolzen, fröhlichen, verwegenen und dabei doch besonders klugen und getreuen Menschenkinde beizubringen. Von seiner eigenen Freierei um Charlotte schien sie keine Ahnung zu haben.

Aber gerade, als Frau Britta Nyman ihre wärmste Beredsamkeit zur Verteidigung ihrer Freundin entwickelte, stand Schagerström auf, stieß den Stuhl, auf dem er gesessen hatte, weit zurück und sagte:

»Es ist sehr gut von dir gemeint, Britta, ich verstehe, du willst mich trösten, willst das Elend vergolden. Ich aber will lieber der Wahrheit gerade in die Augen sehen. Und wenn ich so herzlos gewesen bin, an eine zweite Heirat zu denken, dann ist es nicht mehr als recht und billig, wenn ich als Frau eine falsche, intrigante Person bekomme, gerade das Schlimmste von allem, was ich kenne.«

Nachdem Schagerström diese Worte herausgestoßen hatte, verließ er in aller Eile das Zimmer. Die erschrockenen Gastgeber hörten, wie er die Flurtür aufriß und ins Freie hinausstürmte.

*

Schagerström lief aufs Geratewohl in dem großen ostwärts von Gammalhyttan gelegenen Walde umher. Er war schon ein paar Stunden gelaufen und wußte nun nicht genau, wo er sich befand.

Während dieser Wanderung waren die seit sechs Jahren in Vergessenheit versenkten Ideen allmählich wieder aufgewacht. Diesen ganzen Reichtum, mit dem er sich herumschlug und der ihm nichts als Qual und Verdruß bereitete, warum sollte er ihn nicht von sich werfen?

Wenn er darüber nachdachte, hatte Britta Nyman bis zu einem gewissen Grade recht. Charlotte war nicht schlechter als eine andere. Aber eine Versuchung war an sie herangetreten, die zu groß für sie gewesen war.

Warum sollte er umherfahren und die Menschen in Versuchung führen? Warum nicht die Besitztümer hergeben? Er war von einem unerhörten Glück verfolgt worden, schon seit er das Erbe angetreten hatte. Sein Reichtum hatte sich fast verdoppelt. Das aber war nur noch ein weiterer Grund, die drückende Last abzuwerfen.

Und dann noch eins! Auf diese Weise würde er vielleicht der neuen Heirat entgehen. Fräulein Charlotte Löwensköld wollte sicherlich nicht mit einem armen Manne in den Ehestand treten.

Er stolperte in der Dunkelheit weiter, fiel mehrmals zu Boden, stand eine Weile still, und es wurde ihm ebenso schwer, sich in dem öden Walde durch Gestrüpp und Gebüsch hindurchzuarbeiten, wie in seinem eigenen Innern einen Weg zu finden.

Schließlich gelangte er auf eine breite, mit Kies beworfene Straße, und jetzt wußte er wieder, wo er war. Das war die große Landstraße nach Stockholm, die auf der Ostseite von Gammalhyttan vorüberführte.

Auf dieser Straße ging er weiter. War das nicht ein Wink aus der Höhe? Lag nicht ein besonderer Sinn darin, daß er in demselben Augenblick die Straße nach Stockholm erreichte, wo er sich entschlossen hatte, seine Besitztümer zu verschenken?

Immer schneller wanderte er dahin. Er wollte nicht nach Gammalhyttan zurückkehren, sich nicht auf neue Erklärungen einlassen. Genügend Geld hatte er bei sich, im nächsten Gasthaus konnte er sich Pferde und Wagen verschaffen.

Während er einen steilen Hügel hinaufkeuchte, hörte er hinter sich Räderrollen. Er schaute sich um und unterschied einen großen, von drei Pferden gezogenen Wagen.

Die Stockholmer Postkutsche! Das war der zweite Wink! Mit der Post konnte er Stockholm am schnellsten erreichen. Ehe hier in der Gegend irgend jemand das allergeringste auch nur davon ahnte, würde er die vor sechs Jahren abgebrochene Sitzung wieder einberufen und die Schenkungsurkunden ausfertigen lassen.

Er blieb stehen und wartete auf die Postkutsche. Als diese gerade vor ihm war, rief er:

»Halt! Halt! Ist noch Platz im Wagen?«

»Jawohl, Platz genug!« antwortete der Postillon mit lauter Stimme; »aber nicht für Landstreicher!«

Die Postkutsche fuhr ruhig weiter, erst oben auf dem Hügel hielt sie an. Als Schagerström auch oben ankam, zog der Postillon die Mütze und sagte:

»Der Kutscher behauptet, er habe den Herrn Hüttenbesitzer Schagerström an der Stimme erkannt.«

»Jawohl, der bin ich.«

»Bitte, steigen Sie ein und nehmen Sie Platz! Es sind nur zwei Damen im Wagen.«

 

2

Wie unangenehm es für betagte Menschen, die auf ihre Ehre und Würde bedacht sind, sein muß, ein Bekenntnis darüber ablegen zu müssen, daß sie durch die Eßzimmerluke spioniert und im Ofen nach weggeworfenen Briefen gesucht hätten, das wird wohl jedermann, der nur einen Funken von Verstand hat, leicht beurteilen können. Man darf sich deshalb auch nicht darüber verwundern, daß Propstens von Korskyrka zu Charlotte nichts von ihrer Entdeckung sagten.

Andererseits aber, obgleich sie nichts von ihrer Spioniererei an den Tag kommen lassen wollten, konnte es ihnen nicht einfallen, das junge Mädchen noch länger in der Anrichte bei ihrer so sehr beschwerlichen Arbeit sitzen zu lassen. Der Wagen der Frau Oberst Ekenstedt war kaum zum Hof hinausgefahren, als Frau Regina auch schon den Kopf zu Charlotte hineinsteckte.

»Weißt du was, mein Herzenskind,« sagte sie, wobei ihr ganzes Gesicht vor Wohlwollen strahlte. »Als ich die Frau Oberst davonfahren sah, kam mir ein guter Gedanke. Wäre es nicht ein Vergnügen, wenn wir bei dem schönen Wetter eine kleine Reise machten? Meine Schwester in Örebro ist sehr alt, und ich habe sie nun seit Jahr und Tag nicht mehr gesehen. Sie würde sich gewiß sehr freuen, wenn wir ihr einen Besuch machten.«

Charlotte sah im ersten Augenblick etwas verdutzt aus; aber eben vorhin hatten ja die weichen Hände ihrer Schwiegermutter liebkosend ihre Wange gestreichelt, und an ihr Ohr waren deren rasche Flüsterworte gedrungen. Dadurch hatte die Welt leichtbegreiflicherweise ein ganz anderes Aussehen für Charlotte bekommen. Und eine Reise, wohin sie auch gehen mochte, war für Charlotte gerade das allerwillkommenste.

Daß sie von Propstens wieder zu Gnaden angenommen war, das war auch nicht das wenigst angenehme! Den ganzen Nachmittag war sie übersprudelnd vergnügt; sie plauderte und trällerte vor sich hin. Sie schien weder an verschmähte Liebe noch an die verhaßte Verleumdung zu denken.

In aller Eile wurden die Reisevorbereitungen getroffen, und am Abend punkt zehn Uhr stand man an der Gartenecke und erwartete die Stockholmer Postkutsche, die da vorüberkam. Als der schwere gelbe Wagen, von einem frischen Dreigespann gezogen, am Kirchdorfe auftauchte, als man das fröhliche Räderrollen, das Klirren des Pferdegeschirrs, das Knallen der Peitsche und die frohen Töne aus dem Horn des Postillons hörte, da mußte die Reiselust in jedem Menschen erwachen. Charlotte war außer sich vor Freude.

»Reisen! Reisen dürfen! Ich möchte Tag und Nacht um die ganze Welt herum reisen!«

»Ach, das würde dir bald überdrüssig werden, mein Kind!« entgegnete die Frau Propst. »Aber wer weiß! Dieser Wunsch kann dir früher als man denkt in Erfüllung gehen.«

Die Plätze waren im Gasthaus zum voraus bestellt worden, und die Postkutsche hielt an, um die Reisenden einsteigen zu lassen. Der Postillon, der die Zügel nicht loszulassen wagte, blieb auf dem Bock sitzen und rief den beiden Damen nur einen freundlichen Gruß zu.

»Guten Abend, Frau Propst und Fräulein Löwensköld! Bitte, steigen Sie ein! Es ist Platz genug da. Ich habe nicht einen einzigen Reisenden drin.«

»Ach so!« erwiderte die lustige alte Dame. »Und damit sollen wir zufrieden sein? O nein, wir hätten lieber ein paar schöne junge Kavaliere im Wagen gehabt, mit denen wir ein wenig Kurzweil hätten treiben können.«

Der Postillon, der Kutscher und, mit Ausnahme von Karl Artur, alle sonstigen Bewohner der Propstei, die herausgekommen waren, um Zeugen der Abfahrt zu sein, brachen bei den Worten der guten Frau Forsius in helles Gelächter aus. Danach machte es sich die alte Dame höchstvergnügt in der rechten Wagenecke bequem. Charlotte ließ sich neben ihr nieder, der Postillon blies ein neues Signal, und fort ging es!

Die Frau Propst und Charlotte plauderten und scherzten noch eine gute Weile miteinander, doch bald trat etwas Verhängnisvolles ein. Die alte Dame wurde vom Schlaf übermannt. Charlotte, die höchst redselig gestimmt war, versuchte sie zwar wieder munter zu machen, aber es war unmöglich.

»Na ja, sie hat einen anstrengenden Tag gehabt,« dachte das junge Mädchen. »Es ist nicht verwunderlich, wenn sie müde ist. Aber es ist recht schade. Wir hätten es so gemütlich haben können. Ich selbst könnte mich die ganze Nacht hindurch unterhalten.«

Tatsächlich hatte sie ein wenig Angst davor, mit ihren Gedanken allein zu sein. Es wurde allmählich Nacht, der Weg führte durch dichte Wälder. Mutlosigkeit und Zweifel lagen auf der Lauer, ganz bereit, im nächsten Augenblick über sie herzufallen.

Nachdem sie ein paar Stunden gefahren waren, hörte Charlotte, wie die Postkutsche von einem Wanderer angerufen wurde. Nach ein paar Augenblicken hielt der Wagen, ein neuer Reisender stieg ein und ließ sich auf dem Rücksitze, Charlotte gerade gegenüber, nieder.

Im Wagen war eine kleine Weile nichts anderes vernehmlich als die ruhigen Atemzüge zweier schlafender Menschen. Charlotte war einer raschen Eingebung gefolgt und tat, als ob sie schliefe, um nicht mit Schagerström reden zu müssen. Als sich indes die erste Verblüffung gelegt hatte, erwachte allmählich die Spitzbubenlaune in ihr. Eine solch ausgezeichnete Gelegenheit! Nein, die durfte man sich nicht entgleiten lassen. Ja, sie könnte vielleicht auf schlaue Weise Schagerström dazu bringen, von seinen Ehestandsplänen abzustehen. Und wenn sie ihn zugleich ein wenig foppte, so konnte das sicher nichts schaden.

Schagerström, der noch immer tief schwermütig war, fuhr zusammen, als ihn plötzlich aus der entgegengesetzten Wagenecke eine Stimme anredete. Von der Person, die ihm gegenübersaß, konnte er eigentlich nichts unterscheiden als nur eben das helle Oval eines Gesichts.

»Entschuldigen Sie, aber mir war, als sage der Postillon den Namen Schagerström. Ist es möglich, daß Sie der Herr Hüttenbesitzer Schagerström auf Groß-Sjötorp sind, von dem ich soviel reden gehört habe?«

Schagerström fühlte sich etwas unangenehm berührt, weil er erkannt worden war; aber er konnte eben die Tatsache nicht leugnen. So zog er denn den Hut und murmelte ein paar Worte, die man deuten konnte, wie man wollte.

Die Stimme aus der Dunkelheit ließ sich von neuem vernehmen.

»Ich möchte wohl wissen, wie man sich fühlt, wenn man so reich ist,« sagte sie. »Noch niemals bin ich mit jemand zusammen gewesen, der eine Million besaß, und ich weiß nicht, ob es richtig ist, wenn ich auf dem Vordersitz sitzen bleibe und den Herrn Hüttenbesitzer rückwärts fahren lasse. Ich tausche gerne mit Ihnen, Herr Hüttenbesitzer.«

Die Reisegenossin sprach mit demütiger, salbungsvoller Stimme, und sie lispelte auch ein wenig, wodurch sie im Sprechen etwas gehemmt war.

Wenn Schagerström mit den Leuten im Korskyrkaer Kirchdorfe im Verkehr gestanden hätte, würde er sofort gewußt haben, wen er vor sich hatte, nämlich die Frau des Organisten, Frau Thea Sundler. Aber da er diese nicht kannte, konnte er nur feststellen, daß er fast noch nie eine so aufreizende und weniger vertrauenerweckende Stimme gehört hatte.

»Durchaus nicht, durchaus nicht! Bleiben Sie ruhig sitzen,« wehrte er ab.

»Ach sehen Sie, ich bin ja daran gewöhnt, es mühselig und schwer zu haben, jawohl,« sagte die Stimme. »Mir macht es nichts aus, auf einem verachteten Platz zu sitzen. Aber der Herr Hüttenbesitzer ist doch sicher daran gewöhnt, einen vergoldeten Stuhl einzunehmen und von goldenen Tellern mit einer goldenen Gabel zu essen.«

»Ich will Ihnen etwas sagen, meine Gnädige,« versetzte Schagerström, der sich allmählich etwas gereizt fühlte, »einen guten Teil meines Lebens hab ich auf Stroh geschlafen und mit einem Holzlöffel aus Zinnschüsseln gegessen. Ich hatte einen Herrn, der mir, wenn er böse auf mich war, so viel Haar ausriß, daß ich es sammelte und mir ein Kissen daraus machte. Und das war das einzige weiche Bettstück, das mir gewährt wurde.«

»Ach wie romantisch! Ach wie romantisch!« rief die demütige Stimme. »Wie schön und romantisch!«

»Verzeihen Sie, meine Gnädige,« versetzte Schagerström. »Es war durchaus nicht romantisch, aber es war nützlich. Es hinderte mich daran, ein solcher Narr zu werden, für den Sie mich halten.«

»Ach, was sagen Sie da, Herr Hüttenbesitzer! Ein Narr! Sollte eine Person in meiner Stellung wohl jemals einen Millionär für einen Narren halten können? Aber es ist so sehr interessant für mich, zu erfahren, wie eine so hochstehende Persönlichkeit denkt und fühlt. Was haben Sie gefühlt, als sich Ihnen das Glück endlich zuwandte? War es nicht ... Wie soll ich nur sagen? War es Ihnen nicht, als seien Sie in den siebten Himmel gekommen?«

»In den siebten Himmel!« wiederholte Schagerström. »Wenn man mir nur meinen Willen gelassen hätte, würde ich alles verschenkt haben.«

Schagerström meinte, die Person da drüben in der Ecke müsse nun begriffen haben, daß ihm ihre Reden höchst unangenehm seien, er sich auch gekränkt davon fühle und sie deshalb das Gespräch fallen lassen solle, aber die ölige und demütige Stimme fuhr unverdrossen fort. »Wie schön ist es, daß der Reichtum nicht einem Unwürdigen zuteil geworden ist! Wie schön ist der Gedanke, daß die Tugend belohnt wurde!«

Schagerström schwieg. Auf andere Weise konnte er diesen Auslassungen über sich und seine Reichtümer nicht entgehen.

Nun verstand die Dame in der Wagenecke vielleicht, daß sie zu weit gegangen war. Aber sie schwieg nicht, sie wechselte nur den Gesprächsstoff.

»Und wie merkwürdig! Jetzt haben Sie, Herr Hüttenbesitzer, im Sinn, die hochnäsige Charlotte Löwensköld zu heiraten!«

»Was sagen Sie?« rief Schagerström.

»Ach, entschuldigen Sie,« sagte die Stimme, noch demütiger und noch einschmeichelnder. »Ich gehöre zu den Geringen auf dieser Welt und bin nicht gewohnt, mit vornehmen Leuten umzugehen. Wahrscheinlich drücke ich mich nicht so aus, wie ich sollte und wollte, und ich kann nichts dafür, daß mir das Wort hochnäsig immer auf die Zunge kommt, wenn ich von Charlotte Löwensköld reden muß. Aber ich will es nicht mehr anwenden, wenn es Ihnen, Herr Hüttenbesitzer, im geringsten mißfällt.«

Schagerström ließ eine Art Stöhnen hören. Die Person in der Ecke mochte es für eine Antwort ansehen, falls sie Lust dazu hatte.

»Ja, ich weiß wohl, Sie, Herr Hüttenbesitzer, haben Ihre Wahl nach reiflicher Überlegung getroffen,« fuhr die Stimme unentwegt fort. »Ich habe sagen hören, alles, was der Herr Hüttenbesitzer tue, sei sehr wohl ausgedacht und sehr gut überlegt, und so ist es selbstverständlich auch mit der Werbung um Charlotte Löwensköld gewesen. Im übrigen aber hätte ich wohl sehr gerne gewußt, ob der Herr Hüttenbesitzer wirklich weiß, wie sie – diese hochnäsi... nein, verzeihen Sie, verzeihen Sie, diese schöne, entzückende Charlotte Löwensköld – eigentlich ist. Es heißt ja, der Herr Hüttenbesitzer habe, als er Charlotte seinen Antrag machte, noch kein einziges Wort mit ihr gewechselt gehabt; aber der Herr Hüttenbesitzer hat sich natürlich auf andere Weise davon überzeugt, ob sie geeignet sei, die gnädige Frau auf Groß-Sjötorp zu werden.«

»Sie sind ja sehr gut unterrichtet,« erwiderte Schagerström. »Gehören Sie vielleicht zu Fräulein Löwenskölds näheren Bekannten?«

»Ich genieße die Ehre, Karl Arturs Vertraute zu sein, Herr Hüttenbesitzer.«

»Aha!« warf Schagerström ein.

»Aber um wieder auf Charlotte zu kommen! Verzeihen Sie, wenn ich es sage, aber der Herr Hüttenbesitzer scheint nicht glücklich zu sein. Ich höre Sie seufzen und stöhnen. Wäre es möglich, daß der Herr Hüttenbesitzer das versprochene Aufgebot und die Heirat mit diesem ... ich sage ... unberechenbaren jungen Mädchen bereute? Ich hoffe, dieses Wort ist Ihnen nicht unangenehm? Unberechenbar kann ja alles mögliche bedeuten. Natürlich kann ein Herr Schagerström sein einmal gegebenes Wort nicht zurücknehmen, das weiß ich, aber der Propst und seine Frau sind rechtlich denkende Menschen. Sie dürften sich ja nur überlegen, was sie selbst alles von dieser Charlotte ausgestanden haben.«

»Der Propst und seine Frau sind von ihrem Schützling sehr eingenommen.«

»Sagen Sie lieber, sie seien wunderbar nachsichtig, Herr Hüttenbesitzer. Das ist das richtige Wort. Denken Sie nur, die Frau Propst hatte einmal eine ganz ausgezeichnete Haushälterin, aber Charlotte konnte sie nicht leiden. Eines Tages, mitten in den strengsten Weihnachtsvorbereitungen, versetzte sie der Haushälterin einen Nasenstüber. Die arme Person war tief gekränkt, sie ging auf und davon, und nachher mußte die arme Tante Gina, die überdies krank war, alle Weihnachtsvorbereitungen selbst übernehmen.«

Schagerström hatte diese Geschichte vor kurzem auf ganz andere Weise erzählen hören, aber er hielt es nicht für der Mühe wert, irgendeinen Widerspruch laut werden zu lassen.

»Und denken Sie sich, Herr Hüttenbesitzer, der Propst, der seine Pferde über alle Maßen liebt ...«

»Ja, ich weiß, sie hat eine Wettfahrt mit ihnen gemacht,« warf Schagerström ein.

»Und Sie halten das nicht für ganz schrecklich, Herr Hüttenbesitzer?«

»Man hat mir gesagt, die Pferde seien aus Mangel an Bewegung beinahe draufgegangen.«

»Wissen Sie dann auch, wie Charlotte Löwensköld ihre Schwiegermutter behandelt hat?«

»Damals, als sie die Zuckerschale ausleerte?« fragte Schagerström.

»Ja, gewiß, damals, als sie die Zuckerschale – ausleerte. Die Person, die auf Groß-Sjötorp die gnädige Frau werden soll, müßte sich doch wenigstens bei Tische ordentlich benehmen können.«

»Vollkommen richtig, meine Gnädige.«

»Sie wollten doch wohl keine Frau haben, die sich weigert, Ihre Gäste zu empfangen?«

»Natürlich nicht.«

»Aber das riskieren Sie, Herr Hüttenbesitzer, wenn Sie Charlotte heiraten. Bedenken Sie nur, wie sie sich auf Holma bei dem Kammerherrn Dunker aufführte. Hauptmann Hammarberg sollte bei einer großen Mittagsgesellschaft ihr Tischherr sein, aber sie erklärte, darauf gehe sie nicht ein, lieber wolle sie wieder fortgehen. Nun ja, wie Sie vielleicht gehört haben, hat Hauptmann Hammarberg nicht gerade den besten Ruf, aber er hat doch auch viele gute Seiten. Wie ich jetzt mit Ihnen, Herr Hüttenbesitzer Schagerström, rede, so hab' ich auch mit Hauptmann Hammarberg im Vertrauen geredet, und ich weiß, wie unglücklich er im Grunde seines Herzens ist, weil er niemand findet, der ihn versteht und an ihn glaubt. Und es mag nun sein, wie es will, jedenfalls aber ist Charlotte nicht zum Richter über ihn bestimmt, wenn also der Kammerherr Dunker mit ihm verkehrt, dann brauchte sie wohl nicht ihr Mißfallen kundzugeben.«

»Nun, was das betrifft,« erwiderte Schagerström, »so habe ich nicht im Sinn, Hauptmann Hammarberg einzuladen.«

»Ach so, ja, ja, das ist ja Ihre Sache,« sagte die Stimme. »Das ist etwas anderes. Ich merke, daß der Herr Hüttenbesitzer größere Sympathie für Charlotte hegt, als ich vermutete. Das ist sehr schön und ritterlich von Ihnen. Sie verteidigen sicherlich jeden Menschen, der irgendwie verleumdet wurde. Aber im Grunde meines Herzens glaube ich doch, daß Sie auf meiner Seite stehen, Herr Hüttenbesitzer. Sie wissen ja, daß eine Heirat zwischen einem Manne in Ihrer Stellung und einer so unberechenbaren Person wie Charlotte Löwensköld eine reine Unmöglichkeit ist.«

»Sie meinen also, meine Gnädige,« sagte Schagerström, »ich könnte mit Hilfe des Propstes und seiner Gattin ... aber nein, das ist unmöglich.«

»Das, was unmöglich ist,« sagte die fette, ölige Stimme mit ihrem allersanftesten Tonfall, »das ist eine Heirat mit so einer unverschämten Person.«

»Unverschämt?«

»Entschuldigen Sie, aber Sie wissen eben nicht alles. Sie sind gar so gutmütig. Karl Artur Ekenstedt hat mir erzählt, wie Sie, Herr Hüttenbesitzer, sich für Charlotte eingesetzt haben. Und obgleich Sie erfahren mußten, daß die Anklage gegen sie auf Wahrheit beruhte, nehmen Sie sie doch immer noch in Schutz. Aber andere Menschen sind nicht so wie Sie, Herr Hüttenbesitzer. Die Frau Oberst Ekenstedt ist gestern und heute in der Propstei zu Besuch gewesen. Sie weigerte sich, Charlotte zu sehen, ja, sie wollte nicht einmal unter einem Dache mit ihr schlafen.«

»Wirklich?« rief Schagerström.

»Jawohl,« sagte die Stimme. »Es ist vollkommen wahr. Und wissen Sie auch noch weiter? Einige von den Herren im Kirchdorf waren so empört über Charlottes Aufführung, daß sie beschlossen, Charlotte eine Katzenmusik zu bringen, wie das in Upsala Sitte ist, wenn die Studenten mit einem Professor unzufrieden sind.«

»So?«

»Die jungen Männer waren schon vor der Propstei angekommen und fingen eben an Spektakel zu machen, wurden aber an der Fortsetzung verhindert. Karl Artur tat ihnen Einhalt. Er sagte, seine Mutter übernachte in der Propstei, und sie würde einen solchen Lärm nicht aushalten können.«

»Aber sonst hätte natürlich der junge Ekenstedt der Sache ihren Lauf gelassen?« fragte Schagerström.

»Darüber wage ich mich nicht zu äußern. Aber im Interesse der Gerechtigkeit hoffe ich doch, daß die jungen Leute in einer andern Nacht wiederkommen. Und ich hoffe auch, daß Blinda Kall noch lange umherläuft und ihr Schmähgedicht über Charlotte singt. Hauptmann Hammarberg hat es gedichtet, es ist sehr komisch und geht nach der Melodie: ›Wenn der Mond am Himmel schwebt!‹ Wenn Sie, Herr Hüttenbesitzer, dieses Gedicht gehört haben, werden Sie überzeugt sein, daß Sie Charlotte Löwensköld nicht heiraten können.«

Die Sprechende brach jäh ab. Schagerström hatte an die Wand der Postkutsche geklopft. Wahrscheinlich um dem Kutscher das Zeichen zum Halten zu geben.

»Aber was in aller Welt, Herr Hüttenbesitzer, wollen Sie denn schon aussteigen?«

»Ja, meine Gnädige,« versetzte Schagerström, und er schien jetzt ebenso wütend zu sein wie am Abend vorher, wo Britta Nyman es versucht hatte, Gutes über Charlotte zu sagen. »Ich sehe keinen andern Ausweg, um nicht noch mehr Lästerreden über eine Persönlichkeit, die ich hochachte und zu meiner Gattin zu machen gedenke, anhören zu müssen.«

»Aber ich bitte Sie! So war es ja gar nicht gemeint!«

In diesem Augenblick hielt der Wagen. Schagerström riß die Tür auf und stieg aus.

»Ja, ich verstehe wohl, daß es nicht so gemeint war,« sagte er mit seiner lautesten Stimme, und damit schlug er die Tür eiligst und heftig zu.

Er trat zu dem Postillon, um für die Fahrt zu bezahlen.

»Wollen Sie uns denn schon wieder verlassen, Herr Hüttenbesitzer? Da werden die Damen nicht erfreut sein. Die Frau Propst hat mir schon beim Einsteigen Vorwürfe gemacht, weil nicht ein paar Kavaliere im Wagen saßen.«

»Die Frau Propst?« fragte Schagerström. »Welche Frau Propst?«

»Nun, die Frau Propst von Korskyrka. Haben Sie nicht so viel mit Ihren Reisegefährten gesprochen, Herr Hüttenbesitzer, um zu erfahren, daß die Frau Propst und Fräulein Löwensköld mit Ihnen im Wagen saßen?«

Damit zog er die Mütze, knallte mit der Peitsche, und die Postkutsche rollte davon. Schagerström aber stand noch lange auf dem gleichen Fleck und sah ihr nach.

»Charlotte Löwensköld!« wiederholte er. »Ist das Charlotte Löwensköld gewesen?« – – – -

Mitternacht war längst vorüber, als Schagerström wieder auf Gammalhyttan eintraf. Nyman und seine Frau waren noch nicht schlafen gegangen. Mit großer Angst hatten sie Schagerströms Rückkehr erwartet, und sie hatten sich schon gefragt, ob man nicht am Ende Leute ausschicken sollte, um ihn zu suchen. Beide wanderten in der Allee auf und ab, als er endlich sichtbar wurde.

Sie sahen die kräftige, etwas untersetzte Gestalt sich vom Nachthimmel abheben und erkannten Schagerström sofort, aber es fiel ihnen schwer, zu glauben, daß er es wirklich war. Der Mann, der ihnen entgegenkam, trällerte ja einen alten Gassenhauer vor sich hin. Als Schagerström die beiden erreicht hatte, fing er an zu lachen.

»Ach, macht, daß ihr zu Bett kommt!« sagte er. »Morgen sollt ihr alles erfahren. Aber daß ich es nicht vergesse, du, Nyman, mußt dich fertigmachen, damit du dich morgen an meiner Stelle auf diese Inspektionsreise begeben kannst. Ich muß gleich morgen früh nach Korskyrka zurück.«


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