Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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Unter solchen Reden war es ganz finster geworden, und die ab- und zugehende Frau hatte ein Blechlämpchen angezündet, das, an einer Drahtkette gerade über der schönen Stirn des Alten schwebend, sein Friedensangesicht ganz wundersam verklärte – ein Raffaelischer Kopf in Rembrandtscher Beleuchtung. Es war ein Bild, das anzusehen ich nicht ermüdet wäre und gern gemalt hätte, wenn das so ginge. Inzwischen ward für mich und Steffan eine Schwarzbrotsuppe serviert, die wir unter uns zweien mit Danksagung und ohne sündliche Überladung des Magens von töpfernen Tellern zu uns nahmen. Die Frau zog sich bescheiden zurück; ob sie sich für zu gering hielt, in meiner Gesellschaft zu speisen, oder mir vielleicht gar ihren eigenen Anteil abgetreten hatte, um selbst zu fasten, kann ich nicht sagen. Jedenfalls schien es mir nicht zuzukommen, sie auf ihre eigene Suppe einzuladen.

Nach Tische stellte sie sich jedoch ganz freundlich wieder ein, schob ihr Spinnrad aus der Ecke und blieb nun bei uns. Sie hatte auch die oberwähnte taubstumme Tochter mit hereingebracht, die mir grinsend die Hand reichte. Diese war eine auffallend häßliche Person, etwa von zwanzig Jahren, und trug ein Kind auf dem Arme, das sie unablässig herzte, bis Steffan es ihr abnahm. Ich fragte, ob sie verheiratet sei. Da schüttelte der arme Alte den Kopf und sagte bekümmert, dies Kind trüge keinen Vaternamen, sein Vater sei nicht zu ermitteln.

Also auch dies Entsetzliche hatten die armen Menschen über sich ergehen lassen müssen, und daß es empfunden wurde, kann man sich denken. Doch kam kein hartes Wort, kaum eine Klage über Steffans Lippen. Nicht wunderte er sich nach Art des Unglaubens, wie gerade ihn, den Unschuldigen, dergleichen Unheil treffe, vielmehr wunderte er sich der unverdienten Güte Gottes über ihn und war der Meinung, daß er, dem täglich so viel Gutes zuteil ward, nicht sauer sehen dürfe, wenn es ihm auch einmal nach Verdienst erginge. Es sah lieblich aus, wie der freundliche Alte das kleine Kind in seinen Armen hatte, das er so lange bei sich behielt, als die Ungeduld der Mutter es gestattete.

Unterdessen war die Gesellschaft zahlreicher geworden. Der Mann der älteren Tochter, auch ein Weber, namens Uhlich, nebst seiner Frau und außerdem noch verschiedene andere Personen geringen Standes hatten sich nach und nach zusammengefunden. Sie waren augenscheinlich auf mich eingeladen, wie ich vordem auf Goethe, wenigstens äußerten sie kein Befremden, mich vorzufinden. Wie jeder eintrat, reichte er mir und allen übrigen die Hand mit zutraulicher Freundlichkeit: dann wurde Platz genommen, wo man ihn fand, das leere Bett als Sofa benutzt. Einer saß sogar noch auf dem Tische.

Die Unterhaltung war sehr bald im Flusse. Es ist natürlich, daß Reisende aufgefordert werden zu erzählen, wie es bei ihnen zu Hause aussieht, und ich hatte von zahlreichen Gesinnungs- und Glaubensgenossen nicht Unerfreuliches zu berichten. Einige Verwunderung dagegen mochte man nicht bergen, da man erfuhr, daß ich, den man für einen angehenden Theologen gehalten, nur Maler werden wolle. Die Kunst wollte diesen einfachen Männern, wenn nicht als ein eitles, doch jedenfalls als ein überflüssiges Gewerbe erscheinen. Steffan nahm mich jedoch in Schutz. Jedes Geschäft, sagte er, sei eitel, wenn man es im Dienst der Eitelkeit betriebe, sogar das Predigen; ein Maler aber könne wohl zu gottgefälligen Zwecken malen. Er selbst habe einmal in einer Kirche ein Bild gesehen, das habe ihn mehr als die Predigt erbaut; auch habe er gehört, daß der selige Zinzendorf durch ein Bild erweckt worden sei.

So sprach man hin und wider, und Steffan gab das Beste; aber auch die anderen schienen sämtlich achtungswerte Leute, in deren Gesellschaft man sich wohl und heimisch fühlen konnte. Jeder Quartaner mochte sie an Gelehrsamkeit übertreffen, und von den konventionellen Formen der oberen Gesellschaft hatten sie auch nichts an sich; indessen gibt das Christentum an sich da, wo es wirklich Herzenssache wird, eine eigentümlich liebenswürdige Bildung, welche das Wesen auch des geringsten Arbeiters zu adeln vermag. Steffan las schließlich noch ein Kapitel aus der Heiligen Schrift vor und entließ dann seine Gäste.

Was mich aber anbelangte, so sollte ich nicht entlassen werden. Der herzliche Alte sowohl als seine Frau drangen in mich, die Nacht bei ihnen zu bleiben; und sie mußten es mir angetan haben – ich blieb sehr gern. Frau Steffan überzog für mich das andere Bett, wahrscheinlich ihr eigenes, mit frischen Laken und entfernte sich dann mit ihrer Tochter, um Gott weiß wo zu bleiben.

Als ich zur Ruhe war, blies der Alte sein Lämpchen aus und fing an zu beten. Er betete mit lauter Stimme in seiner einfachen Weise auch für mich, und zwar so glaubensfroh und zuversichtlich, daß meine Seele emporgetragen ward in den stillen Frieden einer besseren Welt, da es keine Zweifel, keine Sünde und keinen Tod mehr gibt. Es war mir, als fühlte ich die Gegenwart der Engel, die das Bett meines lieben Gastfreundes umstehen mochten, bis allgemach der Vorhang sich niedersenkte, der Schlaf und Wachen voneinander scheidet.

Was war doch dieser arme Steffan für ein Reicher! Ein Philosoph der alten Welt würde sich an seiner Stelle ohne weiteres entleibt haben, während er, ein gequälter, halb zertretener Wurm, der er war, nicht allein für seine Person heiter und dankbar lebte, sondern von seinem Überflusse auch noch andere stärkte und auferbaute. Das sind die Wunder des Christenglaubens. Wenn dieser denn auch wirklich eine Täuschung wäre, wie die klugen Leute fabeln, so fragt sich's, ob solche Täuschung nicht jeder Wahrheit vorzuziehen sei, die uns in Not und Sünden stecken läßt. Aber es ist nicht so: ein Steffansglaube wächst nicht auf dem Stamm der Lüge.

Ich hatte fest geschlafen bis zum hellen Morgen, als mich der Ton einer Geige weckte. Im ersten Augenblicke war ich erstaunt, mich in so fremdartiger Umgebung zu finden, Bett an Bett mit einem alten Greise, der mit heller Stimme wie eine Lerche zu seiner Geige sang. Steffan war seiner Gewohnheit gefolgt, den anbrechenden Tag mit einem Dankliede zu begrüßen.

Ich war bald auf den Beinen und horchte noch ein Stündchen den Gesprächen des merkwürdigen Mannes, bis Uhlich mit noch zwei anderen von der gestrigen Gesellschaft erschien, mir das Geleit zu geben. Da schied ich von dem teueren Alten, nachdem er seine Hände auf mein Haupt gebreitet und mich gesegnet hatte.

Die Reiseabenteuer gehen zu Ende

Die weitere Rückreise war bequem genug. Die Hohensteiner Freunde ließen es sich nicht nehmen, mein Gepäck zu tragen, und begleiteten mich drei oder vier Wegstunden weit, bis nahe an die Tore der Fabrikstadt Chemnitz. Sie wurden nicht müde, von ihrem geistlichen Vater und Propheten, dem alten Steffan, zu erzählen, von seiner Glaubensstärke, seiner Demut und Liebe, wie auch von dem Spott und der Verachtung, welche er, wie sie selber, von ihren aufgeklärten Mitbürgern zu erleiden hatten. Doch schienen sie damit ganz zufrieden und fanden es selbstverständlich, daß sie als Knechte Christi an der Schmach ihres Herrn und Meisters Anteil hätten.

Zum besseren Fortkommen auf dem Wege zur Seligkeit schenkten mir die Freunde, ehe wir schieden, noch einen gedruckten, in Bunyans Geschmacke abgefaßten Reisepaß, anscheinend vom Herrn des Himmels selber ausgestellt. Darinnen war in wohlgemeinten, wenn auch etwas ungeschickten Versen die Signatur eines richtigen Christen vielleicht ganz richtig angegeben; wenn aber das Wörtlein Paß von passen kommt, so mußte ich mir gestehen, daß diese Beschreibung wenigstens auf mich nicht paßte und jeder gewissenhafte Gendarm mich darauf hätte festnehmen müssen. So hätte ich Sorge tragen müssen, die angegebenen Kennzeichen in mir wahrzunehmen; aber es fehlte mir die Einfalt, mich an solchen religiösen Spielereien ernsthaft zu erbauen.

Der alte Steffan hatte es mir zur Pflicht gemacht, in Chemnitz Schuberts Schwester aufzusuchen, die an den dortigen Bürgermeister Wirth verheiratet sei, was ich nicht wußte. Ich wollte nur im Vorübergehen grüßen, aber die liebenswürdigen Menschen schienen ihren wirtlichen Namen mit der Tat bewähren zu wollen. Ich mußte an meine Eltern schreiben, daß ich hier einige Tage rasten würde, und nun alles sehen, was Chemnitz und seine Umgegend an Herrlichkeiten aufzuweisen hatte. Dergleichen vergißt sich wieder, aber die wohltuende Herzlichkeit meiner lieben Wirte ist mir in lebendiger und dankbarer Erinnerung geblieben.

Mit Butterbrot und kalter Küche ausgestattet, schied ich am dritten Tage und richtete meine Schritte zunächst auf das romantisch gelegene Augustusburg, in dessen Nähe mich ein einsamer Musterreiter einholte. Der grüßte höflich und knüpfte ein Gespräch an. Da er des Reitens müde war, wie ich des Gehens, so bot er mir einen Tausch an, infolgedessen ich mich auf den Rücken seines Pferdes und er sich meinen Ranzen auf den eigenen schwang. Ob er sich seiner Sicherheit wegen dieser Ranzenunbequemlichkeit unterzogen hatte oder nur sein Pferd erleichtern wollte, das schon einen tüchtigen Mantelsack trug, weiß ich nicht; das aber weiß ich, daß ich so glücklich wie ein König hoch zu Rosse saß und mit des anderen Benehmen außerordentlich zufrieden war.

Aus dem allem erfolgte übrigens weiter nichts, als daß wir ein paar Stunden lang in großem Frieden nebeneinander herzogen, bis wir nach dem Städtlein Öderan gelangten, wo wir auf den Vorschlag meines Begleiters in einer ziemlich ordinären Kneipe, der sogenannten Garküche, einkehrten. Der Wirt, ein behäbiger Mann in Hemdärmeln und gestrickter Zipfelmütze, empfing uns vor der Haustüre und führte uns ins große Gastzimmer. Es war gerade Zeit zum Abendessen, und wir speisten mit der Wirtsfamilie Nierenbraten mit geschmorten Pflaumen, Butterbrot und Käse, und dazu ward noch zum Überflusse Flöhaer Bier geschenkt, was damals hochberühmt war. Ich war sehr guter Dinge und erzählte von meinen Reisebegebenheiten, namentlich vom alten Steffan, dessen Wesen in mir den tiefsten Eindruck hinterlassen hatte. Die ganze Gesellschaft hörte mit sichtlicher Erbauung zu, selbst die Kinder des Wirtes hingen mit runden Augen an meinem Munde, und immer mehr wollte man hören von dem kranken Leineweber, der trotz seiner Schmerzen und seiner Bettelarmut doch so vergnügt in seinem Gott war.

Um neun Uhr brachte der Wirt mich auf mein Zimmer, ein hübsches, weißgekalktes Kämmerchen mit weißgescheuertem Tisch und Stühlen von Tannenholz und einem appetitlichen Bett, in dem sich's prächtig schlief. Am anderen Morgen erhielt ich in aller Frühe einen guten Kaffee mit frischem Weißbrot. Es war mir gut ergangen in der Garküche; jetzt aber, wo die Reihe ans Liquidieren kam, beschlich mich einige Sorge. Ich hatte ungefragt gut leben müssen und hatte doch in meinem Beutel nur noch sechzehn Groschen, bis Dresden aber wenigstens noch acht Meilen. Ich griff indessen in die Tasche wie ein Reicher und fragte nach meiner Rechnung.

«Zwei Groschen und acht Pfennige», sagte der Wirt, «wenn es dem jungen Herrn nicht zu viel ist.»

Das war es nicht. Vielmehr war dies die wohlfeilste Zeche, die ich je zu zahlen hatte, und fast muß ich glauben, daß der wohlwollende Wirt mich aus irgendeiner Ursache begünstigt habe, vielleicht der guten Unterhaltung wegen am vergangenen Abend. Wir schieden mit herzlichem Händedruck als gute Freunde, ich dankte für liberale Bewirtung und ließ den Musterreiter grüßen, der hier zurückblieb und noch schlief.

Bei guter Zeit langte ich in Freiberg an und trat bei dem früher schon erwähnten Freunde unseres Hauses, Herrn von Prtzschtnowski, genannt Prestano, ab, der hier für einige Zeit domizilierte. Er war eben im Begriff, mit einem eigenen Fuhrwerk nach Dresden abzugehen, und nahm mich mit. Der Weg ging über Tharandt und Potschappel, an welchem letzteren Orte mein Begleiter mir die Freude machte, mit mir in eine alte verlassene Kohlengrube einzufahren, um mir den Reichtum an Kristallen zu zeigen, welche die Höhlungen der Gänge an manchen Stellen ganz bedeckten und beim Schein der Grubenlichter ein phantastisches Geflimmer machten.

So hatte ich denn Gelegenheit gehabt, auf dieser Reise die Welt von innen und außen anzusehen, und kehrte wohlbehalten zu den Meinigen zurück. Da gab es viel zu erzählen. Die Mutter interessierte sich besonders für meinen Besuch in Hohenstein, von welchem sie Veranlassung nahm, an Steffan zu schreiben. Er antwortete durch seinen Schwiegersohn, den getreuen Uhlich, welcher die Dresdner Jahrmärkte regelmäßig zu besuchen pflegte und Briefe, Segenswünsche und kleine Geschenke hin und her trug, bis er etwa nach Jahresfrist die Todesbotschaft brachte. Der alte Steffan war zu seiner rechten Heimat eingegangen.


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