Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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2. Zelebritäten

Dem «Gottessegen» gerade gegenüber wohnte eine Familie, die meinen Eltern schon von Rußland her bekannt war. Herr Schönberg, ein geborener Dresdener, hatte in Petersburg reich geheiratet und als Kaufmann glückliche Geschäfte gemacht. Dann hatte er sich nach seiner Vaterstadt zurückgezogen, um hier zu privatisieren und seine Kinder zu erziehen. Die letzteren waren mit uns in gleichem Alter. Der älteste Sohn, August, ein braver Junge von robustem Körperbau und ehrlichem, geradem Wesen, war mein Spezial. Er war sogar gleich mir in Petersburg geboren, daher wir uns schon durch Landsmannschaft verbunden glaubten und treulich zueinander hielten. Ich erinnere mich nicht, daß ich mich je mit ihm veruneinigt hätte. Wir blieben Freunde bis ins Mannesalter und wären es heute noch, wenn ihn mir nicht der Tod entrissen hätte. Sein jüngerer Bruder Eduard, ein zarter, geistig sehr begabter Knabe, war wie der meinige ein Dresdener Kind. Wir nannten diese beiden Sächsers und sie uns Peters. Ein dritter Bruder endlich und ein Schwesterchen waren noch sehr klein, belebten aber unseren Kinderkreis auf ihre Weise.

In diesem reichen Hause verlebten wir sehr frohe Stunden. Es gab da alles, was das Herz sich wünscht: Schaukelpferde, sehr natürliche, mit Fell überzogen und glänzenden Geschirren, Federbälle, Brummkreisel, Kegelschub und Billard, und nicht das Schlechteste war der schöne Garten mit schattigen Alleen und blühenden Gesträuchern, mit Kinderbeeten, Schaukeln und vielem Raum zum Wildern und Stelzengehen. Es war ein Kinderhimmel, der sich auch noch dadurch empfahl, daß die weiche, bis zur Schwäche gütige Hausfrau unsere Spiele zwischendurch und häufig durch ein Tellerchen mit Obst, mit Kuchen oder anderen Delikatessen zu unterbrechen wußte.

Die Mutter pflegte uns aus Grundsatz wenig Leckereien und niemals außer der Zeit zu essen zu geben, wofür ich ihr noch heute danke. Dafür freilich vertrugen wir's in fremden Häusern desto besser, und namentlich bei Schönbergs, die sehr gut lebten. Herr Schönberg hielt persönlich was auf gute Küche. Er urteilte in Geschmackssachen weniger illusorisch als reell, und man sah Männer an seiner Tafel, die auf ein Butterbrot nicht einzuladen waren, selbst große Herren, wie den russischen Fürsten Putjatin, der seit langer Zeit in Dresden domizilierte.

Besagter Fürst war für uns Kinder im höchsten Grade bemerkenswert, da er jenen schätzbaren Originalen angehörte, über deren Aussterben neuerdings so viel geklagt wird, mit denen Dresden aber dazumal noch reichlich versehen war. Sie fanden sich in allen Klassen der Gesellschaft, und es steht wohl nichts im Wege, diese Blätter mit den Umrissen einiger der hervorragendsten Gestalten dieser Art zu illustrieren.

Wer Peter Groll war, wußte jedes Kind. Daß dieser Mann aber weder Peter hieß, noch auch Groll, und nur die Kinder ihm seiner grollenden Gemütsart wegen diesen Namen angelästert hatten, das wußten nur wenige. Früher war er Schirrmeister bei der Post gewesen, jetzt aber privatisierte er aus mir unbekannten Gründen, wahrscheinlich seiner Grobheit wegen.

Peter Groll war einer von denen, die Falstaff gespaltenen Rettichen vergleicht, ein kleiner Mensch mit übergroßem Kopf und kurzen Säbelbeinen. Dazu trug er ein Paar Kanonenstiefel mit Sporen, einen ungeheuren Stürmer und einen sauerkrautfarbenen Frack, der bis an die Fersen reichte. Die Frackschöße, in denen seine Fäuste steckten, standen weit ab vom Leibe, weil sie vollgepfropft mit Steinen waren. Nicht daß er Mineralog gewesen wäre; er war nur bewaffnet und hatte dies der Kinder wegen nötig, die ihm wie Krähen einem Käuzchen in hellen Haufen folgten, unablässig «Peter Groll» schreiend. Plötzlich drehte er sich denn um, fuhr mit allen Fäusten aus den Taschen, und die Kartätschen sausten unter die zerstiebende Brut, die ihm im nächsten Augenblicke wieder schreiend folgte. Er brauchte daher sehr viele Steine.

Man hätte denken sollen, daß solche Lebensart unangenehm gewesen wäre; doch mußte Groll es anders ansehen, denn wenn er zufällig einmal ungeschoren blieb, schien ihm doch etwas zu fehlen. Mein Bruder war einmal Zeuge, daß er in den Taschen rasselnd stehen blieb, sich rund umsah und wie Goliath gegen die Philister ausrief: «Will denn alleweile kener kummen? Wo sein denn heite alle Ludersch?»

Der schon genannte Hofrat von Zezschwitz pflegte es gern zu erzählen, wie auch er die Bekanntschaft jenes Mannes gemacht hatte. Von einem Ausflug in die Oberlausitz, wo er begütert war, heimkehrend, lag Zezschwitz am heißen Nachmittag schlummernd in der Wagenecke, während der Postillion an einer Waldschenke, der Schenkhübel geheißen, die Pferde verschnaufen ließ. Da ward der Schlag aufgerissen, und ein Unbekannter schwang sich ein. Zezschwitz rieb sich die Augen. Er habe nicht das Vergnügen, sagte er, den Herrn zu kennen, und müsse bitten, ihm seinen Wagen allein zu überlassen. Jener aber legte seine Frackschöße auf den Knien zusammen und erwiderte: «Ich will Se was sagen, heren Se, das kennen Se sich überlegen: das dahier is Bostgescherre, und meine Berson is Scherrmeister bei der Bost gewest. So wäre ich wohl ooch noch dermit fahren kennen, so gut wie ener, heren Se!»

«Lieber Schwager!» redete Zezschwitz jetzt den herantretenden Postillion an, «vielleicht kannst du den Herrn Schirrmeister hier überreden, daß er sich lieber auf den Bock verfügt.» Aber der Schwager hatte seinen Mann schon bei den Stiefeln.

«Luder!» schrie Peter Groll. Doch damit lag er auch schon unten, und dahin rollte der Wagen, von einem Steinhagel verfolgt. Herr von Zezschwitz wunderte sich am meisten darüber, daß der Postillion über den ganzen Vorfall auch kein einziges Wort verlor.

So entsinne ich mich auch, daß mein Bruder bei Gelegenheit einer Fahrt nach Loschwitz sehr entzückt aufschrie: «Schnell, Mutter! da geht Peter Groll!» – Die Mutter, die von diesem wohl gehört, ihn aber nie gesehen hatte, bog sich aus dem Wagen und fuhr sogleich entsetzt zurück. Ihr Blick war in nächster Nähe einer blutroten, weit ausgestreckten Zunge begegnet – von der Größe einer Rindszunge, wie sie behauptete –, welche sich ihr aus dem weiten Rachen eines kirschroten Nußknackergesichtes entgegenschwang. Dies kleine Erlebnis war ihr trotz ihres gerechten Schreckens so lächerlich gewesen, daß sie sich in späteren Jahren daran zu erheitern pflegte.

Nicht minder berühmte Figuren waren die alte Marlise und der Buchhändler Helmert. Erstere, die mit Meerschweinchen, Kaninchen und Kanarienvögeln auf offenem Markte hökerte, lag ebenfalls in ewiger Fehde mit der Jugend und überdem mit jeder Art von Straßenhunden, die eine unwiderstehliche Neigung zeigten, ihre Hinterbeine an den Meerschweinbauern aufzuheben. Die Kinder dagegen machten unablässige Versuche, ohne Geld zu kaufen, bloß um sich an dem entsetzlichen Schelten der Alten zu ergötzen und bei dieser Gelegenheit manchen erquicklichen Hieb davonzutragen, dergleichen das erboste Weib, ohne sich zu erheben, mit ihrer langen Angelrute austeilte, einerlei, wo's hinkam, über Kopf und Bäuche.

Helmert dagegen war der große Liebling aller Kinder. Die Tradition berichtete, daß er vorzeiten eine eigene Verlagshandlung besessen habe; da er aber vermöge seiner großen Gutmütigkeit den Vorteil seiner Kunden mehr als seinen eigenen im Auge hatte, so war er nachgerade so heruntergekommen, daß sein ganzes Vermögen sich endlich auf den Haufen alter Bücher beschränkte, mit denen er zu meiner Zeit am Neumarkt an einem offenen Tische marktete.

Als ich auf meinem Wege nach der Haanschen Schule das erstemal an ihm vorüberkam, wich ich ihm seines Aussehens halber aus. Ein schwarzes Tuch turbanartig um den kleinen greisen Kopf gewunden, die übrige Mumie aber mit einem langen feuerroten und talarartigen Schlafrock bekleidet, glich er einem Hexenmeister, der durch ein Wunder dem Brandpfahle entsprungen ist. Da ich ihn indessen bei öfterem Vorübergehen im freundlichsten Verkehr mit Kindern fand, faßte ich Zutrauen. Ich kaufte einiges bei ihm und ward Zeuge, wie er armen Knaben, die blaß und hungrig aussahen, die abgenutzten Schulbücher, um die sie handelten, ganz unentgeltlich überließ. Daß er nur ein einziges Geschirr besäße und auch aus diesem speise, erzählte sich die Jugend im Vertrauen.

Dergleichen vorurteilslose Leute gab es außerdem noch mehrere. Unter allen aber der merkwürdigste war ohne Zweifel jener russische Fürst Putjatin, den ich zwar täglich auf der Straße sah, der mir aber im Schönbergschen Hause als im Verkehr mit anderen Menschen doppelt interessant war. Der Fürst gehörte der vornehmsten Gesellschaft an, er war ein gebildeter, geistvoller und sehr kenntnisreicher Herr, doch aber etwas ganz Apartes und seine Erscheinung so auffällig, daß ich nicht weiß, wem es mehr zur Ehre gereichte, ihm oder der Straßenjugend, wenn diese ihn nicht nur ungehudelt ließ, sondern ihm sogar mit Achtung auswich.

Meine Dresdner Zeitgenossen werden sich erinnern, daß ihnen je zuweilen bei Regenwetter ein wandelndes Schilderhaus oder ein Pavillon von schwarzem Taffet begegnet ist. Das war der Fürst. Sich bei Exponierung des ganzen übrigen Körpers nur allein den Kopf zu schützen, hielt er nicht für zuträglich und erfand daher diese Veranstaltung, welche, mit kleinen Glasfenstern versehen, die ganze Gestalt bis an die Knöchel bedeckte.

Bei schönem Wetter war etwas mehr zu sehen. Der Fürst trug alsdann eine zweckmäßige, sehr großschirmige Mütze, blaue Brillen, das breite schwarze Halstuch übers Kinn gezogen und einen langen, bis an die Füße reichenden, fest zugeknöpften Überrock. Rechts von der Brust herab hing an einem silbernen Haken das ansehnliche Paket jenes kompendiösen Schirmes, links aber eine elegante Hundepeitsche und eine große Flöte oder Schalmei. Vor ihm her bewegten sich ein paar Möpse, welche taub zu sein schienen, denn sie kehrten sich ebensowenig an die starken Signale, die der Fürst ihnen von Zeit zu Zeit auf seiner Schalmei gab, als er sich an ihren Ungehorsam. Er begnügte sich, ihnen seinen Willen kundzutun, es ihnen überlassend, ob sie sich fügen wollten oder nicht. Ohne seine Hunde aber sah man ihn nie. Er liebte und bewunderte sie wie ihr ganzes Geschlecht und pflegte zu behaupten, die Hunde seien die eigentlichen Menschen, die Menschen eigentlich Hunde.

Übrigens war es nur wenigen bekannt, daß man unter dem langen Überrocke des Fürsten vergebens nach Beinkleidern gesucht haben würde. Putjatin nannte besagtes Kleidungsstück die unlautere Ursache vielfacher Unlust. Es wäre ihm nicht unwahrscheinlich, sagte er, daß sowohl Römer als auch Bergschotten ihre bekannte Mannhaftigkeit nur der Sansculotterie zu danken hätten, und Rücksichten, die man sich selber schulde, seien Grund, sie abzulegen.

Auch ging Se. Durchlaucht hierin allen mit gutem Beispiel vor, indem er sich begnügte, beide Beine von oben bis unten gleich Wickelkindern mit Leinwandstreifen zu umwinden. Diese Art von Toilette, die er sich herbeiließ, eines Abends bei Schönbergs vorzuweisen, glich einem geschienten Knochenbruche und flößte uns Kindern Entsetzen ein.

Überhaupt hatte der Fürst so seine eigenen Sanitätsmaximen. Zum Beispiel genoß er niemals Brot im primären Zustande, wie es der Bäcker liefert, sondern nur geröstet, in welcher Form er es auch in fremde Häuser mit sich führte, sogar an den Hof. Er hatte nämlich ermittelt, daß im rohen Brote, wie er es nannte, wenn auch nicht chemisch nachzuweisen, doch ein verzweifelt scharfer Giftstoff stecke, welcher die Not der Skrofeln erzeuge und nur durch Rösten zu paralysieren sei. Auch hörte man ihn dartun, der offenbare Grund sehr vieler Übel sei der, daß man die Haut unausgesetzt durch Kleidung oder Betten den Einwirkungen der Luft entzöge. Nun sei es leider nicht tunlich, durchgehende nackt zu gehen wie die Kaffern, doch wolle er Herrn Schönberg hiermit allen Ernstes tägliche Luftbäder angeraten haben. Daß Se. Durchlaucht diese selbst brauchte, war sehr bekannt. In seinem Empfangszimmer hatte er sich ein Entresol oder Zwischendeck erbaut, auf welchem er, unsichtbar für die Besucher, die er im unteren Raume annahm, sich mit ihnen bestens unterhaltend, in puris naturalibus umherzuwandeln pflegte. Auf diese Weise glaubte er, die verlorene Zeit der Visiten am zweckmäßigsten auszunutzen.

Man mag aus alledem entnehmen, daß es dem Fürsten nicht an Ideen fehlte: er triefte vielmehr von Erfindung. Wenn er zur Winterszeit nach Hofe fuhr, so sah man Dampf aus seinem Wagen gehen, weil er ihn heizbar gemacht hatte. Bei schönem Sommerwetter dagegen zeigte er sich in zurückgeschlagener Kalesche – wie weiland König Richard III. zwischen den beiden Bischöfen – zwischen zwei ansehnlichen Blasbälgen, welche, durch die Bewegung der Wagenräder in Tätigkeit gesetzt, ihm Kühlung spendeten, und zwar so energisch, daß er sich genötigt sah, den Hut zu halten. Für seine zweckmäßigste Erfindung aber hielt der geistreiche Herr eine gewisse Zuckersägemaschine, welche er eines Abends im Schönbergschen Hause arbeiten ließ.

Wir Kinder wurden gerufen und staunten die neue Maschine bescheiden an. Auf dem Tische stand ein kleiner Sägebock von poliertem Buchsbaum, zusammengesetzt aus einer niedrigeren und einer höheren Gabel, auf denen der Zuckerhut waagerecht zu liegen kam, den zwei Livreebediente mittels einer gewöhnlichen Säge in zollstarke Scheiben zerteilten. Es war ihnen jedoch keineswegs gestattet, schlechtweg zu sägen, wie man Holz sägt, sondern es mußte dies in einem vorgeschriebenen Takt geschehen, den ich nicht anders zu bezeichnen wüßte als mit drei Viertelnoten und einer Viertelpause. Davon hing alles ab, sagte der Fürst. Endlich wurden die abgeteilten Scheiben nach demselben Takte mit Messer und Hammer in gleichmäßige Würfel zerschlagen.

Worin der Vorteil dieser Maschine läge? flüsterte mir August zu. Ich wußte es aber nicht.

Gemüts- und Fußbewegung

Nach diesen Abschweifungen wende ich mich nun wieder dem Schönbergschen Hause zu und dem Anteile, den es an meiner Menschenbildung hatte. Zu jener Zeit nämlich, als wir das Haansche Institut verließen, hatten Schönbergs meinen Eltern das freundnachbarliche Anerbieten gemacht, uns Kinder an dem häuslichen Unterrichte der ihrigen Anteil nehmen zu lassen – ein Vorschlag, der dankbar angenommen wurde. Namentlich war ich sehr einverstanden mit diesem Arrangement, da mir der Lehrer, Herr Magister Schulz, wegen seines freundlich sanften Wesens schon früher wohlgefallen hatte. Ich war ihm gut und lernte daher auch gut bei ihm.

Zum ersten Male fand ich jetzt Vergnügen am Lateinischen, und selbst die Rechenstunde war zu ertragen. Wir rechneten um Pfeffernüsse; wer's zuerst hatte, steckte seine Nuß ein. Und wie sehr interessierte mich die mathematische Geographie! zu hören, wie die Erde sich am unsichtbaren Faden um die Sonne schwinge, wie Tag und Nacht entstehen und die verschiedenen Jahreszeiten! Auch in der Logik machten wir einen Anfang zur Regulierung der Begriffe; Geschichte und Naturgeschichte waren angenehme Promenaden durch die Wunder Gottes im Menschengeiste und in der Natur.

Vor allem aber zogen mich die Religionsstunden an, die ersten in meinem Leben, vielleicht weil sie weniger regelrechtem Unterrichte als vielmehr Erbauungsstunden glichen, bei denen man sich ganz passiv verhalten konnte. Der Lehrer wirkte ausschließlich aufs Gefühl, ohne uns mit Memorieren oder Schreibereien zu belästigen. Er las uns zu dem Ende einen Abschnitt aus dem Evangelium vor und sprach darüber oft so rührend, daß ich mich entsinne, wie wir bisweilen alle miteinander, nicht nur wir Kinder, sondern auch der Herr Magister selbst mit seinem tiefbewegten, pockennarbigen Gesicht, in Tränen der Rührung zerflossen.

Schulz war Rationalist; er konnte uns deshalb nichts Positives geben und ließ uns in der Tat ganz unwissend in allen wesentlichen Elementen des Christenglaubens. Was er indessen selber hatte, das gab er uns. Er erwärmte unsere Herzen für die Schönheit der Tugend Christi und suchte uns zur Nachfolge anzureizen. Auch sprachen seine gemütlichen Vorträge mich in so hohem Grade an, daß sie mich zum wiederkäuenden Tiere machten. Was ich behalten, schrieb ich nachher zu Hause aus eigenem Antrieb nieder, mich noch einmal daran erbauend.

Mit diesen Stunden hoher Weihe kontrastierten andere, welche zunächst nicht die Rührung des Herzens, sondern die der Füße bezweckten. Die Schönbergschen Kinder waren nämlich auch mit Tanzunterricht behaftet, an dem wir gleichfalls teilnehmen durften. Zu dem Ende erschien zweimal in der Woche ein entsprungener russischer Leibeigener, namens Fededoff, der in Dresden als Tanzmeister blühte, und stülpte unsere Füße von den Hacken auf die Spitzen.

Ich gestehe frei, daß diese Sache anfänglich nicht ohne Bedenken für mich war, weniger wegen des Zwanges, den ich dabei zu erleiden hatte, als vielmehr wegen der vier kleinen Mädchen aus der Schönbergschen Verwandtschaft, die sich mit weißen Handschuhen und netten Kleidern dazu einzufinden pflegten. Nicht daß sie so fürchterlich gewesen wären, auch ging Freund August zutraulich genug mit ihnen um, aber ich konnte ihm das nicht nachtun. Die kleinen bunten Wesen waren mir zu fremd, sie genierten mich, und ich dachte, daß ich in ihren Augen ein Einfaltspinsel wäre.

Dennoch geschah das Wunder, daß gerade sie es waren, oder vielmehr war es eine von ihnen, die mich mit der Tanzstunde versöhnte. Die kleine Hexe hieß nach ihrer Tante Schönberg Katharina, wurde auch Kathinka oder Käthchen genannt, wie's gerade kam, und war ein feines Kind. Mir fiel zuerst die Grazie ihrer Bewegungen auf, dann ihr eigentümlich zartes Aussehen, das ich der Blüte des Sauerklees vergleichen möchte. Je öfter ich sie sah, desto besser gefiel sie mir, sie stahl sich immer tiefer in mein Herz, und ich hatte bald nur Augen für sie allein. Dennoch wagte ich es nicht, ihr zu nahen, ja, so erhaben schien sie mir in ihrer Anmut, daß, als wir endlich von den ersten Vorübungen, den Verbeugungen, Knicksen und einzeln einstudierten Pas zum eigentlichen Tanzen übergingen, mir der Mut fehlte, gerade sie aufzufordern.

In der Tat, wenn die Mädchen nicht aggressiver wären als wir, so achte ich dafür, es sei unmöglich, daß jemals ein Paar zustande käme. Käthchen fing selbst an. Sie war es, die mir eines Morgens mit großer Freundlichkeit das erste Tänzchen proponierte. Oh, da ging's prächtig! Der Meister Fededoff rief «Bravo!», und Käthchen flüsterte mir zu, sie hätte mich recht lieb, und ich sollte sie bald wieder holen. Hatte mich doch vordem schon der bloße Anblick ihres Hütchens oder Schleiers bewegt, wenn ich diese Dinge im Vorzimmer liegen sah, und nun gar hielt ich das kleine Wesen selbst in den Händen, flog mit ihr durch den Saal hin, und nahm mir's gar nicht übel, wenn ich ihr sagte, daß ich mit ihr am allerliebsten tanze.

Zu weiteren Erklärungen zwischen uns kam's nicht, und sie wären auch unnütz gewesen, da sie nur Wiederholungen der ersten sein konnten. Aber Katharina war fortan meine Kaiserin. Ich lebte ihr zu Dienst, ich sah ihr alles an den Augen ab, und vor dem Hause, da sie wohnte, ging ich mit gezogener Mütze vorüber, obgleich ich wußte, daß ihre Zimmer nach dem Garten lagen. Mein einziger Vertrauter in dieser Sache aber ward mein Bruder, und zwar bei folgender Gelegenheit.

Der Hofrat Zezschwitz hatte einen wahren Engel von kleinem Töchterchen, mit Namen Salli, nach welcher auch die vor den Franzosen gerettete Puppe meiner Schwester benannt war. Bei ihrem zarten Alter aber – sie zählte erst drei Jahre – war sie von uns Knaben nicht eben sonderlich beachtet worden. Nun traf es sich, daß jener liebe väterliche Freund uns beide Brüder eines Abends in froher Laune gemeinschaftlich umfing, versichernd, einer von uns müsse sein Schwiegersohn werden, er habe es auch dem Fräulein schon gesagt, und sie sei einverstanden. Mein Vater sagte augenblicklich ja dazu, so solle es sein, und ich als der ältere solle mich zuerst entscheiden.

In großer Aufregung zerrte ich den Bruder ins dunkle Nebenzimmer, und indem ich ihm hier die Vorteile dieser Verbindung auseinandersetzte, bestürmte ich ihn mit dem Verlangen, daß er sich melden sollte.

Ich sei aber doch der ältere, sagte der Kleine, ich müsse anfangen, und ich meinerseits versicherte, daß ich das auch wolle, aber nicht mit Salli, auf welche ich zu lange warten müsse. Darauf ließ ich mir die heiligste Verschwiegenheit geloben, und von der Dunkelheit begünstigt, entdeckte ich meinem Bruder, daß ich schon eine andere liebe, nämlich Käthchen.

Eine Weile war er still, dann sagte er ganz trocken: «Die liebe ich aber auch.»

Das war entsetzlich! «Lieber Dicker!» sagte ich, «ich habe dir immer viel zu Gefallen getan, nun tu mir nur das und nimm die Salli. Dann kannst du machen, was du willst, du kannst auch mit meinen Sachen spielen und mit meinem Farbenkasten malen.»

Da reichte der Edle mir die Hand und sagte fest: «Ich will sie heiraten.»


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