Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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Sechster Teil

1. Täuschungen

Mein Vater wurde durch gehäufte Arbeit in Berlin so festgehalten, daß er für seine Person von der Ballenstedter Reise abstehen mußte; er hatte jedoch die Mutter autorisiert, sich mit uns Übrigen allein auf den Weg zu machen und wegen des Gymnasiums eine Wahl für mich zu treffen. Ich war daher von Lausa mit der angenehmen Erwartung heimgekehrt, sofort eine schöne Frühjahrsreise anzutreten, und sehr unangenehm überrascht, statt dessen als Patient ins Bett wandern zu müssen.

In Dresden grassierte das Scharlachfieber, und da sämtliche Hausgenossen meine Stimme verändert, rauh und übeltönend fanden, ich auch nicht leugnen konnte, daß mir der Kopf ein wenig eingenommen sei, so schien die Vorsicht meiner Mutter nicht ganz grundlos. Der Arzt war leider über Land, aber was er anordnen würde, glaubte man zu wissen, nämlich Bettwärme und Fliedertee. Beides ward auf der Stelle angewandt, ich schwitzte wie ein Braten, und gegen Abend war nicht allein der Puls beschleunigt, sondern es schien auch, als röte sich die Haut. Ich fühlte mich sehr unbehaglich, und mit Teilnahme wünschten mir die Mädchen gute Nacht, während die besorgte Mutter sich im anstoßenden Alkoven zur Ruhe legte.

Ich kann nicht leugnen, daß ich wie ein Sack schlief. Als mich am anderen Morgen die Sperlinge mit ihrem Morgenliede wachschrien, war ich vorerst ganz angenehm überrascht, mich nicht in Rollers Kammer, sondern in einer Umgebung zu finden, an der die süßesten Erinnerungen meines Lebens hafteten, im Wohnzimmer der Mutter. Dann fiel mir ein, daß ich das Scharlachfieber habe. Ich besah Brust und Arme; aber da war keine Spur von Ausschlag. Ich fühlte mich so gesund wie die Spatzen in den Linden, sprang aus dem Bett und öffnete das Fenster, die frische Luft in vollen Zügen einzuatmen. Ein glänzender Morgen! Drüben aus dem Schönbergschen Hause stieg der von der Sonne durchleuchtete Rauch wie eine Lichtgestalt auf, Marktleute zogen durch die Straßen, und über die Elbe her riefen die katholischen Glocken zur Frühmesse. Es war herrlich. Ich gedachte des Wiedersehens mit meinem Bruder, dem nun nichts mehr im Wege stand, und fühlte mich sehr selig.

Mittlerweile war auch die Mutter aufgestanden und ins Zimmer getreten. Als sie den Patienten fast unbekleidet am offenen Fenster sah, mochte sie glauben, das Delirium sei schon in voller Blüte, und rief mich erschrocken beim Namen. Ich wandte mich um; ich wollte sagen, daß ich wieder ganz gesund sei – aber da ich zu sprechen begann, befremdete es mich selber, wie Bässe, Gurgellaute und Diskante durcheinanderpfiffen. Ich war in der Tat sehr heiser und wurde ohne Kommiseration wieder ins Bett gesteckt. Jedenfalls sollte ich liegen bleiben, bis der Doktor entschieden haben würde. Der kam auch endlich, besah und examinierte mich genau. Dann sagte er schmunzelnd, ich sei nicht kränker als ein junges Hähnchen, das zu krähen beginne; die Stimme bräche sich, und das sei alles.

So war ich denn nun offiziell für gesund erklärt, und der Reise stand nichts mehr im Wege. Der unbequeme Wagen des Lohnkutschers Hempel war hoch ausgepackt worden, die Mutter, Marianne, Marie, meine Schwester und ein Dienstmädchen nahmen Platz im inneren, und ich schwang mich zum Kutscher auf den Bock mit meiner Pfeife.

«Rauchst du denn?» fragte meine Mutter.

«Nur mäßig!» rief ich zurück, «ich habe es vom Pastor Roller gelernt.»

Da mußte ich wieder absteigen und die Pfeife dem Hausmann in Verwahrung geben. Es sei dasjenige von dem bei Roller Erlernten, sagte die Mutter, was ich vergessen müsse, bis der Vater darüber entschieden haben würde.

Am dritten Tage gegen Abend langten wir in Merseburg an. Als der Reisepaß am Tore vorgezeigt worden, bemerkte der wachthabende Unteroffizier, er habe Befehl, eine Dame dieses Namens anzuhalten und mit ihrer Begleitung aufs Schloß zu führen.

Meine Mutter protestierte und berief sich auf den Regierungspräsidenten von Schönberg, der sie kenne und für sie bürgen werde. Aber jener ließ sich auf Erklärungen nicht ein; er täte nur seine Schuldigkeit, sagte er, und bäte, ihm das nicht übelzunehmen. Ich ward nun zu den übrigen in den Wagen verpackt, ein Kriegsknecht nahm an meiner Stelle Platz auf dem Bocke, und so karrten wir langsam als Gefangene durch die Straßen. Meine liebe Mutter war sehr verwundert, sich in dieser Lage zu sehen, und Marianne seufzte über die Rücksichtslosigkeit in Preußen, während es uns Kindern ganz gelegen kam, zur Abwechslung einmal etwas Kerkerluft zu riechen, zumal der mächtige Herr von Schönberg uns ja bald befreien mußte.

Endlich rasselten wir in den weiten Schloßhof ein und hielten am Portale; ein Diener riß den Schlag auf, und lachend über seinen gelungenen Anschlag trat uns Herr von Schönberg entgegen, der, was wir nicht ahnten, seine Amtswohnung hier hatte. Er entschuldigte die Gewalttat, welche er sich gegen uns erlaubt, damit, daß ihm in der Eile ein anderes Mittel, sein Haus eines erwünschten Besuches zu versichern, nicht eingefallen sei, und führte uns hinauf zu seiner Gemahlin. Diese war eine Schwester der Gräfin Dohna, durch welche sie erst tags zuvor von der Reise meiner Mutter unterrichtet worden, und wie denn der hervorragendste Zug ihres Charakters eine ungemeine Herzensgüte war, so mochte sie den Wunsch haben, den Reisenden bei dieser Gelegenheit so viel Gutes zu erweisen, als in ihren Kräften stand. Meine Mutter hatte diese treffliche Frau in Hermsdorf kennengelernt, war auch in Dresden, wo Herr von Schönberg während des preußischen Guberniums eine einflußreiche Stellung innehatte, in einiger, die Armenpflege betreffender Geschäftsberührung mit ihr gewesen und liebte sie so sehr, daß sie ihr keinesfalls vorbeigereist wäre. Ein Besuch im Schönbergschen Hause lag allerdings im Reiseplan, und wenn auch nicht im allerentferntesten daran gedacht worden, dort zu herbergen, so erlagen wir doch jetzt recht gerne der Gewalt. Es ward beschlossen, einen Tag in Merseburg zu rasten.

Schönbergs hatten ein einziges Töchterchen, namens Auguste, ein feines kleines Mädchen mit klugen Augen und langen blonden Locken. Diese nahm sogleich meine Schwester und Marien in Beschlag, während die Großen sich zurückzogen und ich mir selbst überlassen blieb. Verlegen klemmte ich mich in einer Fensternische umher, den Blick bald auswärts auf die Gegend, bald einwärts auf die Mädchen werfend, bis ich daselbst ein derbes altes Buch entdeckte, eine Chronik von Merseburg, und bald war ich in diese Lektüre so vertieft, daß ich nichts mehr von Verlassenheit wußte. Es waren wunderliche Geschichten, für deren Wahrheit ich nicht einstehen möchte, dazumal aber glaubte ich alles, weil das Buch so ernst und fromm war. Unter anderem stand da schwarz auf weiß mit Angabe aller Namen und Data die folgende Begebenheit verzeichnet:

«In der heiligen Osterzeit, des Morgens früh, da es noch dunkelt, wackelt der alte Küster des Domstiftes mit seinem Laternchen über den Schloßhof, um zur Frühmette zu läuten. Da, beim Eingang in die Kirche, huscht etwas an ihm vorüber; er blickt auf und sieht sich umgeben von schattenartigen Gestalten, unter denen er mehrere erst jüngst begrabene Personen erkennt. Entsetzt läßt er sein Laternchen fallen und entwischt zurück ins Kämmerlein. Beim Anbruch des Tages aber wird er zum Bischof entboten, der ihn hart anläßt, seiner Erzählung keinen Glauben beimißt und ihn mit schwerer Strafe bedroht, wenn er je das Läuten wieder verträumen sollte.

In der zweiten Nacht geht der beängstete Küster denselben Weg, sieht weder rechts noch links, obgleich ihm manches verdächtig ist, und tritt, an allen Gliedern zitternd, in den Dom. Hier blickt er auf und findet das Schiff der Kirche angefüllt von einer gespenstischen Gemeinde; auf der Kanzel aber steht im weißen Predigerhemdchen ein schlotterndes Gerippe, das dem Eindringlinge seine dünnen Knochenbände entgegenschwenkt.

Die Domherren hören abermals kein Läuten, und der ergrimmte Bischof läßt beim Anbruche der dritten Nacht den Geisterseher samt seinem Bette in die Sakristei sperren, damit er's ja nicht wieder verschliefe; und sollte es auch zum drittenmal nicht läuten, so würde er's mit seinem Kopfe büßen, wird ihm versichert. Aber es hat dennoch nicht geläutet, und der Küster war verschwunden. Keine Spur war von ihm übrig, nur vor dem Hochaltare fand sich ein Häufchen Asche.»

Der Dom

Unterdessen mochte unsere gütige Wirtin sich meiner doch erinnert haben, denn kaum hatte ich die obige Geschichte beendet, als sie zu mir trat und mir einen Schlüssel überreichte. Wenn es mir Vergnügen mache, sagte sie, die Kirche zu besehen, so ginge der Weg durch jene Türe und immer weiter; die letzte Türe öffne der Schlüssel.

Das hieß meinen Geschmack ins Schwarze treffen. Ohne Verzug machte ich mich auf den Weg, und daß ich so allein war, war das beste, denn bei Besuchen, die man der Vorzeit abstattet, braucht man keine Zeugen. Ich konnte fühlen, denken und träumen, was ich wollte, erinnere mich auch, daß ich dachte, wie die alten Regenten des Domstiftes ohne Zweifel mit demselben Schlüssel denselben Weg gewandert seien, wie ehrwürdig sie etwa dabei ausgesehen haben könnten mit ihren Krummstäben, hohen Mützen und goldenen Gewändern, und wie schade es sei, daß sie sich jetzt in bloße Regierungspräsidenten verwandelt hätten.

Unter dergleichen elegischen Betrachtungen durchwanderte ich eine Reihe von Gemächern und Gängen, bis ich an die verschlossene Türe gelangte, die richtig meinem Schlüssel wich und mir den Eintritt in einen kleinen, weißgekalkten Durchgang voll sonderbarer Schildereien gestattete. Das war denn etwas ganz Verwunderliches! In alten, wurmstichigen Rahmen hing hier Bild an Bild, neben-, unter- und übereinander, daß die Wände davon bedeckt waren. Es waren lauter Stilleben; nicht aber, was die Maler so zu nennen pflegen, gerupftes Geflügel, tote Hasen und dergleichen – nein, es waren vielmehr die toten Herren Bischöfe des Stiftes selbst. In Lebensgröße, mit eingesunkenen Augen und hippokratischen Gesichtern, an denen die Verwesung bereits genascht zu haben schien, waren sie da in ihren Särgen liegend abgebildet, einer beim andern. Ich hatte keine Liebhaberei für Leichen, und dennoch war ich hier wie festgebannt. Ich las die Namen, besah die Wappen und empfand ein tiefes Mitleid mit diesen abgefallenen welken Blättern und mit mir selber, der ich ja auch dereinst ein solches werden sollte.

Mühsam riß ich mich los und gelangte mittelst einer kleinen gewundenen Steintreppe hinab in eine altersgraue Sakristei, wo mir sogleich ein Gegenstand ins Auge fiel, der mich versteinerte. Dem Treppchen gegenüber war mit Eisenklammern ein hohes Kreuz an die Wand geheftet, und daran hing unter Staub und Spinnweben ein lebensgroßer, aus Holz geschnittener Leichnam, angestrichen mit der Farblosigkeit des Todes, voll Blut und Schwielen. Wirkliche Dornen umflochten das natürliche Haar, das über den vorgebeugten Kopf herabfiel und das Gesicht bedeckte. Der tote Christus schien leibhaftig dazuhängen – aber dergleichen Leibhaftigkeit erweckt mehr Schauder als Erbauung. Ich mußte des Küsters denken, der hier schlafen sollte und dessen Bett vielleicht gerade unter jenem Bilde stand. Da war's natürlich, daß nichts übrig bleiben konnte als ein Häufchen Asche.

Wie aus einem Grabe trat ich gedankenvoll und wohlvorbereitet aus der Sakristei hinaus in die Hallen des altehrwürdigen Domes. Ich durchschritt den weiten, geheimnisvollen Bau nach allen Richtungen, durchforschte die Seitenschiffe und Kapellen, faltete meine Hände am Hochaltare, besah die Bilder, Schnitzwerke, Fahnen und Wappen an den Pfeilern und wich, nachdem ich mich etwa eine Stunde umhergetrieben, erschrocken zurück vor einem zweiten lebensgroßen Kruzifix, das mir aus einer dunkeln Ecke unerwartet entgegenstarrte.

Der sinkende Abend wob bereits seine Schleier um die Gewölbe, und es begann mir etwas unheimlich zu werden; doch tritt ein Knabe zur Abwechslung recht gern einmal heraus aus der gewohnten Lebenszuversicht, und ich genoß das Gruseln wie eine Kalteschale zur Sommerszeit, besonders vor einem gewissen hohen, reichverzierten Eisengitter, hinter welchem schwarze Nacht war. Als mein Auge sich jedoch gewöhnte, unterschied ich die Umrisse mehrerer hochaufgebauter Laden, wahrscheinlich die Särge der Bischöfe, die vor alters hier in Merseburg ihr Wesen hatten. Da lagen sie nun weggepackt wie alte abgelegte Mäntel in engen Koffern, vielleicht – wie denn manche Grüfte wohl konservieren – noch mit denselben Gesichtern, die ich eben gesehen. Über das alles hatte ich meine Gedanken, und die Totenpredigt der Chronik fiel mir auch wieder ein. Dunkel genug war's dazu schon, wie es mir schien, und so gut wie vor 400 Jahren konnte der gespenstische Prädikant auch heute seine Knochenhände schwingen, wenn er wollte. Ein kalter Grabeshauch ging durch die Eisenstäbe, und ein Geräusch ließ sich vernehmen wie das Knarren eines Kastendeckels, den man mit Vorsicht öffnet. Rüsteten sie sich vielleicht da drinnen schon, die Predigt anzuhören?

Jetzt wurde meine Kalteschale mir zu frisch, und ich trat den Rückzug an, wiewohl bedächtig und gemessenen Schrittes, denn ich wagte nicht zu eilen, um das Entsetzen nicht zu wecken und zu reizen, das sich hinter mir zu erheben drohte wie ein bissiger Hund. Das schlimmste war die Passage durch die dunkle Sakristei mit ihrem Bildwerk; aber man muß nur bei solchen Gelegenheiten den Kopf nicht wenden und sich nicht umsehen. Ich kam glücklich durch, wie auch durch die Leichengalerie, die Tür fiel ins Schloß, und bald befand ich mich wieder in bewohnten Räumen. Inzwischen sollte meine Mannhaftigkeit noch auf eine härtere Probe gestellt werden.


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