Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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3. Das Begerhaus

Die Trennung von meinem Bruder ward mir schwerer, als ich geglaubt hatte. Wäre er freilich nur verreist gewesen, etwa auf vierzehn Tage oder auch vier Wochen, so würde ich die zeitweilig gewonnene Ruhe dankbar genossen haben, denn er hatte einen neckischen Geist und übte vielen Schabernack; nun war er aber auf immer fortgegangen und gänzlich losgetrennt vom Hause, mir nur die kärgliche Aussicht hinterlassend, ihn ab und zu besuchsweise wiederzusehen wie einen Fremden.

Nach solchem Abschied lernen Geschwister es erst erkennen, was sie aneinander hatten, und wie der brüderliche Umgang durch nichts, auch nicht durch Freundschaft, zu ersetzen ist. Ich putzte nun des Morgens meine Stiefel allein, trank meine Milch allein und ging allein mit meiner Mappe in die Schule. Manch Brünnlein des Humors versiegte, und tausend kleine Erlebnisse, die außer dem verlorenen Bruder kein anderer so würdigen und belachen konnte, mußte ich fortan für mich behalten. Ich wußte nichts mehr anzufangen mit meinem eigenen Witz. Dazu kam freilich, daß ich mich unwohl fühlte. Schon im Winter hatte ich an bösartigen Beängstigungen gelitten, und die Mutter, welche die Ursache in zu anhaltender Beschäftigung mit der Elektrisiermaschine suchte, hatte diese weggeschlossen, ohne jedoch das Übel damit zu bessern. Jetzt wurde der Arzt gefragt. Er glaubte ein Nervenleiden zu erkennen und verordnete Landluft mit Faulenzerleben. Soviel als möglich sollte ich mich in freier Luft bewegen, graben, hacken und mich vergnügen – eine Kur, die ich, sobald der Weinberg bezogen werden konnte, Gelegenheit hatte, auf das gewissenhafteste durchzuführen.

Unsere neue Sommerwohnung war zwischen den Dörfern Loschwitz und Wachwitz auf der Höhe des damals von Poncetschen Weinbergs gelegen. Es war ein kleines zweistöckiges Haus, nach einem früheren Bewohner das Begerhaus genannt, mit hübschen, geräumigen Zimmern und an den Berg so gelehnt, daß man aus der oberen Etage geradeswegs auf eine Weinterrasse trat, die, von alten Walnußbäumen gegen die Mittagssonne geschützt, dennoch den Blick in die Ferne freigab. Die Lage war unvergleichlich. Etwa dreihundert Fuß hoch über der Elbe, gewährte sie weiten Einblick in ein buntes, traumartig schönes Land. Man übersah den Lauf des Stromes in einer Ausdehnung von wenigstens vier Meilen und darüber hinaus das weite Elbtal mit der fernen Hauptstadt und Hunderten von Dörfern, Kirchen und blinkenden Landsitzen, weithin bis an die Kämme des Erzgebirges und der böhmischen Berge.

In dieses liebliche Paradies zog der Vater mit uns hinaus, um hier eine Anzahl noch unvollendet gebliebener Berliner Bilder mit Muße auszuführen. Er malte Mäntel, Orden, Schals und ländliche Hintergründe, und die Mutter, welche trotz ihrer Kränklichkeit ein unverwüstliches Sprechorgan besaß, las ihm häufig dabei vor, Geistliches und Weltliches, und unter anderem auch die «Flegeljahre» von Jean Paul, die ihn in so hohem Grade amüsierten, daß er oft den Pinsel mußte ruhen lassen, um sich auszulachen.

Inzwischen erheiterte den rastlos Fleißigen auch noch ein anderer Umstand. Ich weiß zwar nicht, ob angenommen werden dürfe, daß mein Vater damals während seiner Arbeit ein Hühnereichen ausgebrütet habe; so viel aber ist gewiß, daß ihm eines Morgen ein kleines gelbes Kükchen mit krallen Augen aus dem Jabot hervorlugte und mit allgemeinem Jubel begrüßt ward. Er trug es fortan immer an sich wie eine Busennadel und versorgte es mit mütterlicher Zärtlichkeit. Beim Frühstück und nach dem Mittagessen ward es hervorgelangt und auf den Tisch gesetzt, wo es, die Brosämlein aufpickend, von einem zum andern spazierte. So wuchs es gedeihlich im Familienkreise auf und war bereits zur Ahnfrau eines künftigen Hühnerhofes ernannt, als es zum allgemeinen Schrecken zu krähen anfing. Es setzte Schwungfedern an und wurde ein so gewaltiger, menschenfeindlicher Hahn daraus, daß kein Auskommen mehr mit ihm war und er weggegeben werden mußte.

Was mich nun anlangt, so ging ich jeden Morgen auf ein paar Stunden bergabwärts nach dem nahen Loschwitz, um vom pastor loci geschult zu werden. Außerdem war ich ganz frei und konnte machen, was ich wollte. Vergnügen machte mir die Gärtnerei, die freilich wenig schulgerecht betrieben wurde. Ich legte für meine Schwester ein Labyrinth aus Bohnenstangen an, enge, kraus verschlungene Gänge, die sich mit Feuerbohnen bezogen und zum traulich verborgenen Bänkchen führten, das ich gezimmert hatte. Da saßen wir beide, uns der Einsamkeit erfreuend, und sprachen von Geheimnissen.

Auch Wanderungen wurden angetreten, die zum Teil sehr lieblichen Seitentäler des Bergzuges zu durchforschen oder auf den Höhen im Tannenwalde Pilze zu suchen, die dort in großen Nestern wuchsen und in der Küche stets willkommen waren. Bei Gelegenheit solcher Pilzjagd, die den Blick zur Erde zog, entdeckte ich ein eigentümliches Insekt, das ich anderwärts nie wieder angetroffen habe, den sogenannten Ameisenlöwen. Das sandgraue Tierchen ist von der Größe einer Buschwanze und bildet, indem es sich in den lockeren Sand wühlt, einen kleinen, sehr regelmäßigen, etwa zolltiefen Trichter, in dessen Tiefe es, unter Sand verborgen, unsichtbar lauert. Sobald sich nun eine Ameise am Rande des Trichters zeigt, so spritzt das Untier Sand auf, der den kleinen Wanderer ziemlich sicher hinab in die Tiefe reißt. Vergebens sucht er sich wieder herauszuarbeiten, neue Kartätschen erreichen ihn unausbleiblich, und immer rollt er wieder hinab in den Schlund, bis es dem Räuber gelingt, ihn mit seinen gespenstischen Fangarmen zu fassen und zu sich in die Unterwelt zu ziehen.

Um meiner Schwester dies zu zeigen, setzte ich eine Ameise an den Rand eines solchen Höllentrichters. Alsbald begann die Kanonade aus verborgener Batterie, und das arme Tierchen war seinem Schicksale verfallen. Die Schwester tadelte meine Grausamkeit. Wer konnte auch wissen, wie tief Ameisen empfinden und wie schmerzlich dergleichen Opfer von den Ihrigen vermißt werden mochten? Waren es nicht gar kluge kleine Tiere? Sahen wir nicht, mit welcher Sorgfalt sie ihre großen Eier an die Sonne trugen und wieder wegschleppten, wenn es regnen wollte? Bewunderten wir nicht die Riesenstärke dieser Zwerge, und wie sie in Staaten beieinander wohnen, da jeder sein Amt und seinen Beruf zu haben scheint? Da schleppten zwei gemeinschaftlich einen lebhaften Wurm hin, zehnmal größer als sie beide zusammen, andere trugen Tannennadeln zum Bau herbei oder räumten Sandkörner beiseite, und jeder schien zu wissen, was er tat und wollte.

Auf der großen Heerstraße, die zur Hauptstadt führte, entstand Tumult. Der Haufe der ab und zu laufenden Arbeiter trieb auseinander, und es bildete sich ein Kreis, in dessen Mitte zwei ritterliche Kämpen auf Leben und Tod turnierten. Es mußte dies ein Zweikampf sein, wahrscheinlich infolge mündlicher Beleidigung, denn Tatsächliches hatten wir nicht wahrgenommen. Da brach der eine Streiter tot zusammen, die Umstehenden eilten herbei, die Leiche wegzuräumen, und die Strömung auf der Chaussee nahm wieder ihren ordentlichen Verlauf, als wäre nichts gewesen.

Dagegen zeigte mir die Schwester denn auch, was sie entdeckte, ein Rotkehlchennest zum Beispiel in der Weinbergsmauer. Niemand durfte es außer uns wissen als die Eltern und die Köchin, und sonst war niemand da. Wir sahen die Alten brüten, dann füttern und freuten uns an dem Familienleben der kleinen Wesen. Dergleichen Beobachtungen können Kinder auf dem Lande täglich machen und etwas dabei lernen und gewinnen, nämlich ein respektvolleres Erkennen des lebendigen Lebens in der Natur, welche Städtern leichtlich nur als gemalte Kulisse erscheint. Was aber in Form und Gestaltung erfreut, ist doch immer nur das Leben, das sich in ihnen ausprägt.

Die Nachkommen des Pontius Pilatus

Die Eltern hatten das Begerhaus auf einige Wochen verlassen. Sie waren mit dem Schwesterchen ins Bad gezogen, hatten mich jedoch nicht mitgenommen, damit der Unterricht beim Pastor nicht gleich wieder ins Wasser fiele. Ich blieb in Kost und Wohnung bei den Besitzern des Weinbergs, zwei steinalten Fräuleins von Poncet, die mit einem greisen Bedienten und einer ebenfalls alternden Pflegetochter Winter und Sommer auf ihrer ländlichen Besitzung hausten.

Alle vier zusammen mochten diese würdigen Menschen etwa dreihundert Jahre alt sein; aber auch in heraldischer Beziehung gehörte die Familie zu den ältesten. Die Poncets stammten angeblich aus altrömisch konsularischem Geschlecht, führten einen Legionsadler im Wappen und ihren Stammbaum zurück bis auf Pontius Pilatus. Gewiß schien, daß sie seit unvordenklichen Zeiten in der Gegend von Marseille, dem traditionellen Verbannungsorte ihres berühmten Ahnherrn, ansässig gewesen. Später ihres Kalvinismus wegen landesflüchtig, hatten sie sich nach Genf gewandt, und von dort war schließlich der Vater meiner lieben alten Fräuleins als Uhrmacher und Juwelier in Dresden eingewandert. Er muß ein ausgezeichneter Mann gewesen sein, wenigstens wußte er die Aufmerksamkeit des Hofes in so hohem Grade auf sich zu ziehen, daß der damalige Kurfürst und König von Polen, August III., ihm nicht nur die Aufsicht über das Grüne Gewölbe anvertraute, sondern ihn auch zum Geheimrat machte und mit einem adligen Gut in Polen belehnte.

So war Herr von Poncet zu Ansehen und Reichtum gelangt; aber das Glück hielt ihm nicht stand. Unfälle verschiedener Art, die polnischen Kriege, vor allem die Krankheit jener Zeit, das trügerische Forschen nach dem Stein der Weisen, dem er mit Leidenschaft oblag, hatten ihn nachgerade so heruntergebracht, daß er als armer Mann gestorben war. Der sehr verschuldete Weinberg, auf welchem jetzt die letzten Reste der Familie ihrem Ende entgegenwelkten, war alles, was er den Seinigen hinterlassen hatte.

Das Haus, das meine Pflegemütter bewohnten, lag etwa vierhundert Schritte abwärts vom Begerhäuschen. Es war von dem alten Geheimrat für die Bedürfnisse einer zahlreichen und vornehmen Familie hergestellt und fand sich noch jetzt mit einer Fülle altmodischer und kostbarer Möbel ausgestattet. Die Ahnenbilder an den Wänden in verschnörkelten Goldrahmen, die Schränke und Tische von Nußbaum mit zierlich eingelegter Arbeit, die großen venezianischen Spiegel, in facettiertes Glas gefaßt, und anderer kostbarer Hausrat gaben Zeugnis von dem ehemaligen Wohlstand der Familie.

Mir gefiel es gar wohl unter diesen alten Sachen und Menschen, die mir keinerlei Zwang antaten. Ich durchstöberte nach Belieben Keller und Bodenräume, besorgte die Kirschbäume nach Herzenslust und verschmierte Küche und Geschirr mit Kleister, Kohle, Salpeter, Schwefel und Schießpulver, um Feuerwerke zu bereiten, mit denen ich die Hausgenossen erfreuen wollte. Noch heute begreife ich die Herablassung der alten Damen nicht, mit der sie mir eines Abends in Mänteln und Kapuzen vor die Haustüre folgten, um die mageren Funken zu bewundern, die ich sprühen ließ.

Den Beschluß des Vergnügens sollte das Abbrennen einer großen Pulverschlange machen. Da aber die Masse, die schon einige Zeit auf der feuchten Erde gelegen, nicht gleich Feuer fangen wollte, so ließ ich aus meinem Pulverhorn noch etwas trockenes Pulver auf den glimmenden Zunder laufen. Ein bedeutender Knall! Ich ward von unsichtbaren Händen mit solcher Vehemenz zu Boden geschleudert, daß mir Hören und Sehen verging.

Die erschrockenen Zuschauer waren herbeigeeilt, mich toten Leichnam aufzuheben; aber siehe da, ich atmete, die Besinnung kehrte bald zurück, und kein Finger tat mir weh. Die Festigkeit des aus einer Kokosnuß bestehenden Pulverhornes hatte mich gerettet, es war nicht gesprungen, nur der aufgeleimte Abguß war abgeflogen. Anderen Tages fand ich beide Teile unversehrt im Weinberg wieder, und zwar zu meiner großen Befriedigung, da besagte Pulvernuß als eigene Arbeit des Harmschen Großvaters sehr wertgehalten wurde. Mein Vater hatte sie mir nebst einer alten Sattelpistole hinterlassen, um die Sperlinge damit aus den Kirschen zu schrecken; aber damit war's nun aus, wie auch mit allem Feuerwerkern, da das Pulver natürlich bis auf das letzte Korn verpufft war.

Die guten alten Fräuleins ließen mich den Schreck, den ich ihnen verursacht hatte, in keiner Art entgelten. Sie sagten mir kein böses Wort, bedauerten mich vielmehr nur wegen meines Un- und Umfalles, wie denn eine ganz ungemeine Herzensgüte der hervorstechendste Zug in den Charakteren der sonst sehr verschiedenen Schwestern war. Die älteste, Fräulein Fritze, trug, obgleich tief in den Achtzigern, immer noch die Spuren großer Schönheit. Außerdem war sie ziemlich stark, ziemlich nachlässig in Anzug und Manieren, ziemlich hinfällig und sehr pflegebedürftig. Gewöhnlich saß sie still in ihrem Lehnstuhl, den Klemmer auf der Nase, las Ritterromane oder schlief. Gelegentlich konnte sie freilich auch recht gesprächig werden; dann duzte sie jedermann wie ein Lateiner oder Tiroler und war überraschend derb. Ihre Gäste forderte sie zum Fressen und zum Saufen auf, nannte den sehr förmlichen Herrn Pastor «lieber Junge!» und die fünfzigjährige Pflegetochter «Wettermädel!» Von sich selbst pflegte sie, eine Prise nehmend, nicht ungern zu bekennen, daß sie in ihrem ganzen Leben nicht das geringste gelernt habe und doch nicht dümmer sei als andere Schafsköpfe auch.

Als ganz besonderer Liebling ihrer schwachen Eltern war das gute Mädchen möglichst mit dem verschont geblieben, was man Erziehung nennt. Man hatte sie tun lassen, was ihr beliebte, und es beliebte ihr, den Kopf nicht anzustrengen. Anstatt ihren Lehrern standzuhalten, hatte Fräulein Fritze es stets vorgezogen, sich in Küch' und Keller umzutreiben, hatte die Betten gemacht, am Waschtroge gestanden und den Mägden scheuern geholfen. Mit besonderer Passion aber hatte sie sich vergnügt, des Morgens in der Frühe, wenn alles noch schlief, die Gasse vor der Haustüre zu kehren, bei welcher Beschäftigung sie von einem in der Nähe wohnenden königlichen Pagen, dem jungen Grafen Marcolini, bemerkt worden war. Diesem hatte das wunderhübsche Mädchen wohlgefallen, er hatte sich zu ihr gesellt, hatte ihr den Kehricht weggeräumt, mit ihr gelacht, sich von ihr schelten lassen und schließlich damit geendet, ihr einen Kuß zu rauben, wofür sie ihm ihrerseits eine schallende Ohrfeige versetzte, die ihr noch in ihrem hohen Alter wohltat.

Inzwischen beruhigte dies den Grafen nicht, und da er sein Mädchen des Morgens nicht mehr auf der Straße fand, so wußte er sich im Hause einzuführen, wo er endlich förmlich um sie anhielt. War er auch mittellos zurzeit, so konnte ja noch alles aus ihm werden, was er zu seinen Gunsten anzuführen nicht verfehlte. Aber trotz dieser bestechenden Aussichten hatte der Geheimrat von Poncet doch nichts anderes zu erwidern, als daß es ihm ganz gleich sei, ob er seine Tochter in die Elbe würfe oder an den Hals eines Habenichts von Pagen, und wenig fehlte, daß er dem unzeitigen Bewerber zur Treppe hinuntergeleuchtet hätte.

Dieser war dermaßen beleidigt, daß er von nun an nicht allein das Poncetsche Haus mit keinem Fuße mehr betrat, sondern nicht einmal mehr zum Fenster hinaussah, wenn Fräulein Fritze vorbeiging. Er wuchs aber rasch in der Gunst des Königs, stieg von einer Würde zur anderen, bis er endlich allmächtiger Minister war und König und Land beherrschte. In gleichem Verhältnis sank Poncets Stern immer tiefer durch Dämmerung zur Nacht, und zwar, wie die Familie vielleicht mit Unrecht annahm, nicht ohne feindliches Bemühen des zurückgewiesenen Freiers. Es kam so weit, daß Fräulein Fritze es für ein Glück erachten mußte, an einen Landgeistlichen mit Namen Scholz verheiratet zu werden. Sie hätte somit füglich Frau Pastorin heißen mögen; aber schon so lange war sie Witwe, daß man sich ihres Mannes gar nicht mehr erinnerte. So passierte sie dennoch immer noch als Fräulein Poncet und nahm's nicht übel, wenn man sie so nannte, ebensowenig als dies die Pflegetochter Fräulein Male tat, welche auf den Familiennamen wahrscheinlich gar keinen Anspruch hatte.

Von ganz verschiedenem Gepräge war die etwas jüngere, noch in den Siebzigern stehende Schwester, Fräulein Lore. Sie hatte eine leichte, zierliche Gestalt, ein feines Benehmen und war die personifizierte Sauberkeit in Kleidung, Worten und Werken. Immer heiter, fleißig und geschäftig, führte sie das Hauswesen, teilte sich mit Male in den Dienst der oft sehr wunderlichen Schwester und bediente sogar den uralten Bedienten, der als väterliches Erbteil in Ehren gehalten wurde, aber niemanden mehr bedienen konnte. Fräulein Lore hatte den Unterricht im väterlichen Hause besser benutzt als ihre ältere Schwester. Sie war mehrerer Sprachen mächtig und wohlbewandert in verschiedenen Wissenschaften. Durch Selbststudium wie durch häufigen Verkehr mit Ärzten, die sie vor anderen Gelehrten schätzte und, wo sie ihrer habhaft werden konnte, nach Kräften auszubeuten pflegte, hatte sie sich schon als junges Mädchen eine Menge medizinischer Kenntnisse erworben, die sie bis ins hohe Alter zu erweitern strebte. Aus Kräutern, die sie selbst sammelte, bereitete sie Salben, Latwergen, Tränkchen und Essenzen und gab sich mit warmer Menschenliebe einer ausgebreiteten und völlig uneigennützigen Praxis hin, zu welcher sie sich durch das Vertrauen der armen Winzerbevölkerung, in der sie lebte, berechtigt und berufen fühlte. Quacksalbern würde man es heute nennen und ohne weitere Rücksicht auf den Ausfall vielleicht verbieten. Fräulein Lore blieb indessen unangefochten und hatte so treffliche Erfolge, daß die in schweren Fällen von ihr selbst herbeigerufenen Ärzte ihr das kluge Verfahren dankten, mit dem sie in der Regel schon vorgearbeitet hatte. Aber nicht nur bei leiblichen Unfällen – sie wurde überall zu Rate gezogen, wo Rat und Hilfe not taten; sie war die gute alte Fee der ganzen Gegend, unendlich verehrt von allen, die sie kannten, und schwerlich gab es einen Menschen in den Loschwitzer Bergen, der das gute Fräulein Poncet nicht gekannt hätte.


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