Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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2. Warum es wieder nach Lausa geht

Ich habe jetzt in meiner Erzählung um einige Monate zurückzugreifen, da mich ein anderer Verlust betroffen, der weher tat als der von Rock und Haaren. Die fortwährend kränkelnde Mutter hatte den Wunsch gehabt, zu ihrer Hilfe ein junges Mädchen ins Haus zu nehmen, und in dieser Beziehung an eine rheinische Verwandte, die sechzehnjährige Helene X., gedacht, für welche sie sich, als für ihr Patenkindchen, sehr lebhaft interessierte. Helenes Eltern hatten eingewilligt, und im Spätherbst des Jahres 1818 konnten wir der Ankunft dieser uns allen bis dahin völlig unbekannten Cousine entgegensehen. Sie wurde von jung und alt mit einiger Spannung erwartet, zumeist vielleicht von mir, da ihr der Ruf von Liebenswürdigkeit und Schönheit vorauslief, ich aber gerade in dem Alter war, wo einem die Augen für dergleichen Vorzüge aufzugehen pflegen. Aber so günstig meine Vorstellung auch sein mochte, so wurde sie doch noch übertroffen, als die Ersehnte endlich anlangte und, aus ihren winterlichen Hüllen ausgeschält, so frisch und lieblich wie ein Maienmorgen vor mir stand.

Ein gleich schönes Äußere hätte mich bei einer Fremden vielleicht verschüchtert und entfernt gehalten; aber Helene war nichts weniger als fremd. Sie war eine nahe Verwandte, mit der man gleich von vornherein auf du und du stand, die einem zur Begrüßung um den Hals flog und sich so zutraulich bezeigte wie eine Schwester. Den Umgang einer Cousine hatte ich noch nie gekostet: ich fand ihn allerliebst und freute mich, daß er so leicht vonstatten ging. Wir waren gleich die allerbesten Freunde, gingen Arm in Arm spazieren, sangen miteinander und konnten ohne Ende miteinander kosen. Helene war ein frisches, heiteres Mädchen, das man gern sprechen hörte, und wenn sie heimische Schnurren in niedlichster Mundart erzählte und selber dazu lachte wie ein Glöckchen, dann tanzte mir das Herz im Leibe vor Vergnügen. Am liebsten hätte ich die ganze Person gleich aufgegessen.

Die Eltern hatten freilich nicht beabsichtigt, durch die Anwesenheit eines so reizenden Wesens Kohlen an ein Pulverfaß zu legen; geschehen aber war es so. Sie mochten ihrem ältesten Sohne kälteres Blut zugetraut haben, als er besaß, denn ich war allerdings bis dahin so erfüllt von meinen Gipsköpfen gewesen, daß ich die lebendigen Köpfe kaum angesehen hatte und an den teilweise sehr hübschen jungen Mädchen unserer Dresdener Bekanntschaft ganz teilnahmslos vorübergepilgert war. An Helene aber war nicht so vorbeizukommen: sie saß ja immer da, und wo ich hinsah, war sie, und ich ward nicht müde, sie anzusehen. Auch redete ich mir natürlich ein, daß das arme Mädchen bei der Unreife und Schulbelastung der Geschwister mit ihren Ansprüchen an Geselligkeit ganz vorzugsweise auf mich angewiesen sei; daher ich alle meine freie Zeit mit ihr verbrachte, sie zu erfreuen suchte, wo ich konnte, und dabei wie ein trunkener Nachtfalter der Flamme, die ich umschwärmte, immer näher kam. Von Liebe war dabei zwar nie die Rede, es schien alles Freundschaft und Verwandtschaft, doch hatte mich der kleine Knabe Amor schon beim Schopfe, und immer tiefer ward ich in die Netze der allgewaltigsten Leidenschaft verstrickt, deren verborgenen Stachel ich noch nicht kannte. Ich fühlte mich anfangs nur beseligt und sah die ganze Welt in einem Rosenschimmer, so glanzvoll und so farbig, als sei sie noch der schöne Garten Eden, da unsere ersten Eltern sich umarmten.

Leider aber ist unsere arme Welt kein Paradies mehr, und die Kränze, die sie noch bietet, sind unter Umständen der bedenklichsten Verwandlung fähig. Mein unerfahrenes Herz war allgemach auf jene schiefe Ebene geraten, da es keine Haltepunkte der Ruhe mehr gibt, wo sonst beglückende kleine Konzessionen nicht mehr befriedigen und die heitere Illumination des Herzens in zehrende Glut umschlägt. Ich erschrak jetzt vor mir selber, denn je unverdorbener ich wirklich war, je heißer kochte mein Blut auf, und wie ein Verrückter hatte ich bald nur noch einen einzigen Gedanken – der hieß: Helene. Sie war das einzige Element, in dem ich leben konnte, und außerdem war nichts mehr da und alle Interessen fort an Natur und Kunst, an Eltern und Geschwistern und Freunden. Ich war zur Marionette in eines Mädchen Hand geworden.

So war es, und daß es nicht so bleiben durfte, war mir klar, nicht aber, wie es anders werden sollte. Weder wollte es gelingen, den Herzpfeil wieder auszureißen, noch konnte ich ihn stecken lassen, am allerwenigsten aber an Heirat denken, welche der nahen Verwandtschaft wegen mit der überdies katholischen Helene ganz unmöglich schien. Zwar kämpfte ich nach besten Kräften, wie ich glaube, versuchte zu meiden, was ich liebte, schloß mich meinem Bruder mehr als vordem an, besuchte meine Freunde und führte über mein Verhalten ein Journal; aber alles war vergebens, und die Folgen meiner Anstrengungen waren nur Verdrossenheit und üble Laune. Ich ward ungerecht und kränkend sogar gegen diejenige, die ich am liebsten auf Händen durchs ganze Leben getragen hätte, und während sie weinte, rannte ich mit scheußlichem Gewissen einsam bei Nacht und Nebel durch die Heide wie ein alberner Werther.

Als ich nun eines Abends, nachdem die anderen längst gegessen hatten, abgejagt und müde nach Hause kam und stracks zu Bette gehen wollte, trat mein Vater mit besorgter Miene bei mir ein. Er legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: «Du hast was auf dem Herzen!» Ja freilich hatte ich das. Ich flog ihm um den Hals und bat um eine Unterredung.

Der Vater nahm mich mit sich auf sein Zimmer, stellte sein halb niedergebranntes Licht auf eine Konsole und entfernte einen Haufen Mappen von dem kleinen, zwischen Skelett und Gliedermann stehenden Diwan. Da saßen wir, umgeben von allen den tausend Utensilien der Werkstatt, unter denen es mir von Kindheit an stets am heimischsten zumute war. Die Beichte ward erleichtert durch entgegenkommende Fragen, und es entspann sich ein Gespräch, das mich gegen meinen Vater mit unaussprechlicher Dankbarkeit erfüllte, da er mir nicht als Richter, sondern als teilnehmender Freund entgegentrat. Übrigens mochte er sich Schlimmeres gedacht haben, als ich zu gestehen hatte, denn allgemach schwand alle Sorge aus seinen Zügen. In solchen Fällen, sagte er, dürfe man sich nicht schämen, das Hasenpanier zu ergreifen, da der einzige mögliche Sieg hier in der Flucht sei. Helene müsse ich vorderhand nicht wiedersehen und morgen mit dem frühsten fort zum Pastor Roller. Niemand, der mich kenne, würde sich wundern, daß mich die Lust habe anwandeln können, einmal zu ungewohnter Stunde in Lausa einzusprechen, und ebenso wenig, wenn ich berichte, daß Roller mich nach seiner Weise nicht sogleich wieder entlassen wollte. Das übrige wollten wir Gott befehlen.

Ich ging zu Bett. Die Unterredung mit meinem Vater hatte mich mit neuen Banden der innigsten und ehrerbietigsten Liebe an diesen meinen besten Freund gekettet und mich gekräftigt. Ich stand dem Feinde in meinem Herzen nicht mehr allein gegenüber wie vordem, sondern hatte einen Bundesgenossen gewonnen, und in diesem Bewußtsein schlief ich ruhig ein.

Am anderen Morgen, als noch alles tot im Hause war, trieb mich mein Vater aus dem Bette, übergab mir einen Brief an Roller und hatte es sehr eilig. Ich stob vor Tagesanbruch fort, zum Haus und Tore hinaus, hinein in den Wald. Es war ein frischer Morgen, und um warm zu werden, lief ich wie ein Bürstenbinder, aber es war mir zu Sinn, als trabte ich über lauter Gräber, und in allen lag Helene. Ich war so traurig, daß das Herzwasser mir aus den Augen ging und mir die Backen mit Glatteis überzog; doch sah es still und friedlich in mir aus. Wenn der Tote erst begraben ist, so zieht der Trost ein.

Helene machte mir keine Sorge. Wohl dachte ich, daß sie ihren Kameraden vermissen würde, wenn er am Abend nicht, auch morgen und übermorgen nicht zu ihr zurückkehre; doch war ich nicht unbescheiden genug, anzunehmen, daß ihr Gefühl dem meinigen auch nur im entferntesten gleiche – und überdem, so wußte ich, daß meine Eltern, die sie wie eine Tochter liebten, sie nicht entgelten lassen würden, was sie am wenigsten verschuldet.

Die Hausväter

Als ich bei Roller eintrat, verzehrte dieser gerade seine Morgensuppe, wie gewöhnlich in Wasser aufgeweichtes Schwarzbrot mit fetter Milch. Ich hatte angeklopft und er Herein gerufen, doch schien er meinen Eintritt nicht zu beachten. Ich konnte warten. Als er endlich aufblickte und mich gewahrte, legte er den Blechlöffel aus der Hand und starrte mich wie einen Geist an. Darauf entspann sich folgendes Gespräch.

Roller: «Unde?»

Ich: «Dresdis.»

Roller: «Bene!» Und jetzt in Lachen ausbrechend, schritt der alte Freund unter mehrfach wiederholten Benes auf mich zu, schloß mich in seine Arme und sagte: «Du bist ein früher Mann, aber jederzeit willkommen! Hast du gefrühstückt ?»

Auf meine Verneinung stieß er das sogenannte Gatter mit dem Fuße auf und schrie hinunter: «Holla! Schwimm ist da! Bringt Kaffee! – Und nun, mi fili! wie lange bleibst du?»

Ich übergab meinen Brief, und Roller trat ans Fenster, um zu lesen. Es war ein peinlicher Augenblick. Mir grauste vor allen weiteren Auseinandersetzungen, namentlich mit diesem Manne, von dem ich annahm, daß er von Herzensangelegenheiten die bäuerischsten Begriffe habe. Er las langsam und bedächtig, schloß den Brief dann weg und zündete sich eine Pfeife Tabak an. Endlich begann er: «Dein Vater», sagte er, «hat mir alles geschrieben. Es ist dir gegangen wie anderen Leuten auch, und brauchst dich deshalb weder zu schämen noch zu grämen. Jonathan soll noch heute nach der Stadt und deine Sachen holen, denn daß du bei mir bleibst, steht fest und ist zugleich das Beste bei der Sache.» Übrigens, fügte er hinzu, käme ich ihm heute gerade recht, denn nachmittags habe er die Hausväter, und da könne ich auch mit nach dem Rechten sehen.

Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich wußte nun, daß Roller über diese Angelegenheit nie wieder ein Wort verlieren werde, und setzte mich sehr erleichtert an meinen Kaffee, hielt auch den Moment jetzt für den rechten, das Gebot des Vaters einmal zu übertreten und eine Pfeife übers Maß zu rauchen. Roller war derselben Ansicht und erteilte mir sogar Dispens für alle weiteren Überschreitungen, da man in seinem Hause nach seiner Regel lebe und Nichtraucher ihm lästig seien.

Mit den obenberegten Hausvätern aber hatte es folgende Bewandtnis. Roller pflegte nämlich die sämtlichen Mitglieder seiner Gemeinde regelmäßig zweimal im Jahre bei sich zu sehen, und zwar in einzelnen Abteilungen. Hausväter, Hausmütter, Junggesellen, Jungfrauen und Schulkinder: jede dieser Klassen ward besonders eingeladen. Im Sommer ging man ins Freie, im Winter war Zimmerunterhaltung, welche letztere denn auch heute mit den Hausvätern stattfinden sollte. Zu diesem Zwecke richteten wir schon am Vormittage die große Unterstube her. Alle transportabeln Möbel wurden ausgeräumt, rings um die Wände Schulbänke gestellt und ein Fäßchen Bier mit angestecktem Kran auf Böcke gelegt. Inmitten des Zimmers aber stand ein großer Tisch mit diversen Holzschachteln, über deren Zweck sich Roller nicht erklärte.

Zur festgesetzten Stunde fanden sich die Gäste in Fülle ein: Bauern, Gärtner, Handwerker und Arbeitsleute, alle in langen Röcken, hohen Stiefeln und mit runden Kämmen in den Haaren. Der Hausherr hatte für jeden ein paar joviale Worte der Begrüßung, einen deutschen Händedruck und eine Tonpfeife. Dann wurde Platz genommen: obenan die Bauern und so weiter nach Stand und Ansehen. Was mich anlangte, so schien es mir, daß ich in dieser geschlossenen Gesellschaft nur als Bierzapfer Zutritt finden könne, daher ich mich ans Faß placierte, allwo ich zapfte und kredenzte, die vollen Krüge weitergehen ließ und die leeren zurückempfing. Der Pastor aber saß am Tische und trug vorerst das Neueste aus der Missionsgeschichte vor. Dann fragte er einzelne nach ihrer Meinung oder forderte sie je nach ihrem Gewerbe zu technischer Erläuterung auf, so daß bald ein allgemeines, sehr lebhaftes Gespräch im Gange war, das Roller mit Geschick zu leiten wußte. Dazu floß und schäumte immerdar mein Bierquell, und die Seltsamkeit der ganzen Sache unterhielt mich dergestalt, daß ich meines Herzenskummers kaum gedachte. Ja es hätte heute für mich nichts Besseres erfunden werden können als diese Bauerngesellschaft, die zwar nichts von Goethe und von Shakespeare wußte, beide aber und namentlich den letzteren gewißlich mehr befriedigt haben würde als manche belletristische Reunion der Hauptstadt. Es steckte damals noch eine Fülle guter und gesunder Anschauungen im deutschen Landvolk, eine ehrenfeste Gesinnung und salzvolle Ausdrucksweise, die in dem Aufkläricht der Neuzeit immer mehr dahinschwinden.

Endlich war mein Fäßchen ausgelaufen, und es erfolgte der zweite Akt der Ergötzlichkeiten. Roller hatte sich ein Vergnügen ausgedacht, von dem man schwerlich glauben sollte, daß es dem Geschmacke so ehrbarer und massiver Gäste zugesagt hätte. Die Schachteln auf dem Tische wurden jetzt geöffnet und ein paar Hundert hölzerner Soldaten herausgelangt, die ich nach Rollers Anweisung in Schlachtordnung aufzustellen hatte. Danach schoß oder warf man mit einer Bleikugel, die zu meiner und der Bauern stiller Verwunderung von Anfang an wie eine Kreuzspinne an einem Faden über dem Tische geschwebt hatte. Zwei Partien spielten gegeneinander, und zwar um gebackene Pflaumen, deren ein halber Scheffelsack voll zur Disposition stand. Die Finessen dieses Spieles sind mir in der Länge der Zeit entfallen, das aber weiß ich noch, daß man sich über die Maßen belustigte und die Bauern derben Witz entfalteten, an jedem ungeschickten Wurf Veranlassung nehmend, sich gegenseitig zu persiflieren. Roller selbst nahm als Kombattant nicht teil an diesem Kriege, sondern begnügte sich, an einem Strohhalm kauend (wie Wellington bei Waterloo), die Schlacht zu kommandieren und die Ordnung aufrechtzuerhalten. Nach einem halben Stündchen waren die Soldaten alle tot, und, die Taschen voll gebackener Pflaumen, zogen die Hausväter, sich sehr bedankend, wieder ab.

«Sie haben sich gefreut», sagte Roller, «daß du ihnen Bier zapftest, und wo sie dir begegnen, wird's im guten sein, da Stadtleute auf dem Lande sonst nicht wohl angesehen sind wegen ihres Hochmutes.»

Roller und seine Gemeinde

Man sollte meinen, daß ein Verkehr des Pastors mit seinen Pfarrkindern, wie der eben geschilderte, den Respekt gefährden müsse, und allerdings möchte das auch überall der Fall sein, wo einer es sich beikommen lassen wollte, dergleichen zu kopieren. Roller aber war ein König, dem trotz seiner vielfachen Auffälligkeiten niemand die Achtung zu versagen wagte, die er beanspruchte. Seinen Bauern war er zudem in allen Stücken überlegen, nicht bloß an Charakter, Geist und Bildung, sondern, was sie besonders respektierten: er hatte auch das Zeug, sie in ihrer Wirtschaft zu beraten, und zwar bis auf die kleinsten Handgriffe ihrer Arbeit. Wenn er durchs Dorf ging und bemerkte, daß einer etwas nicht ganz richtig angriff, etwa beim Schnitt des Weinstocks oder der Obstbäume, beim Setzen eines Zaunes, dem Decken eines Strohdachs usw., so legte er auf der Stelle Hand an und zeigte, wie man's besser mache. Endlich wußten es die Leute, daß ihr Pastor auch in Gefahren stets voran war. Der erste bei der Spritze oder auf der Feuerleiter, hatte er schon mancherlei Unglück gemindert und verhindert und während des letzten Krieges mehr als einmal durch entschlossenes Dazwischentreten die Brutalität fremden Volkes im Zaum gehalten.

Als Theolog war Roller, soweit dies ohne Engherzigkeit zu denken ist, von entschieden orthodox-lutherischer Gesinnung und jeder modernen Neuerung in Lehre und Kultus abgeneigt. Er war stolz darauf, daß seine Kirche sich durch den Einfluß ihrer Patrone noch das alte Dresdner Gesangbuch mit den Originalliedern des 16. und 17. Jahrhunderts erhalten hatte, und die Agende, deren er sich bediente, mochte ebenfalls noch aus Luthers Zeiten stammen, daher die Gottesdienste in Lausa noch die volle Würde uralt angeerbter kirchlicher Sitte hatten. Vor allem aber war Roller ein rechter Pastor, unverbrüchlich treu in seinem Amte, das er in Kirche, Schule und Haus mit hoher Lust verwaltete und dessen Ansehen er kräftig aufrechtzuerhalten wußte. Seine Gemeinde liebte er wie eine angetraute Braut, war hilfreich gegen jedermann ohne Ansehen der Person, niemals in Konflikten wegen Mein und Dein, und wer einen Freund brauchte, wußte, daß er im Pfarrhause zu finden sei.

Einem solchen Manne wird es nie an Achtung fehlen, selbst nicht von seiten seiner Feinde, an denen auch unser Pastor selten Mangel hatte, weil er jedem ins Gesicht zu sagen pflegte, was er dachte, und dies war bisweilen nichts weniger als verbindlich. Er wußte seinen Widersachern aber stets zu imponieren, und so sehr sie ihn hinterrücks verlästerten, hätte sich doch keiner unterfangen, ihm Stirne gegen Stirne zu widerstehen; nicht einmal wagten sie es, seine Einladung abzulehnen, und indem sie mit ihm wie gute Kinder um gebackene Pflaumen spielten, wurden sie meist wieder versöhnt. Prinzipielle Feinde, das heißt solche, die ihn des Evangeliums wegen haßten, hatte er in der Gemeinde schwerlich, außerdem aber in allen Klassen der Gebildeten und Rohen, und zwar je weiter ab, je reichlicher. Bekannt war er seiner isolierten Glaubensstellung wegen durchs ganze Land, gekannt nur wenig, und wo man ihn nicht kannte, hielt man ihn für einen Heuchler oder Schwärmer, wie jeden, dessen Gedankengänge nicht die der Menge sind. Aus diesen Gründen war ihm die geistliche Behörde nichts weniger als hold, aber da weder sein Leben noch seine Amtsführung bemerkliche Blößen boten, seine Predigt auf dem Grunde des zu Recht bestehenden Bekenntnisses fußte und keine Klagen aus der Gemeinde eingingen, so mußte man ihn schon unangefochten lassen. Ihm selber war es gleichgültig, was die Welt von ihm urteilte; ein jeder Beweis von Liebe aber seitens seiner Kirchkinder oder Freunde konnte ihn sehr hoch erfreuen.

Überaus lieblich war der Verkehr dieses anscheinend harten Mannes mit den Kindern, die ihm durchaus verständlich waren, und er ihnen. Ihre Art, zu denken und zu empfinden, stand der seinigen viel näher als die der meisten Erwachsenen. «Wenn ich ein Kind sehe», sagte er, «so geht mir ein süßer Pfeil durchs Herz.» Er liebte alle Kinder, die häßlichen wie die schönen, und betrachtete sie mit einer gewissen Ehrfurcht, weil ihre Engel allezeit das Angesicht des himmlischen Vaters sehen. Daher trieb er auch keine Albernheit mit ihnen, neckte sie nicht und wurde gegen sie nie ärgerlich oder heftig, sondern hatte mit ihnen die Geduld und Nachsicht einer Mutter, wofür sie ihrerseits mit der zutraulichsten Zärtlichkeit an ihm hingen. Wenn er zur Feierabendzeit mit seinem hohen, aus einer gewaltigen Weinrebe geschnittenen Stabe durchs Dorf spazierte, um diesen oder jenen heimzusuchen, schossen die Kleinen aus Häusern und Gärten hervor, küßten ihm die Hände, liebkosten ihn und ließen sich von ihm liebkosen. Häufig begleitete ihn ein ganzes Völkchen weithin auf seinen Wegen, indem er sich so ruhig und vernünftig mit ihnen unterhielt wie mit Erwachsenen.

Es war daher ein Fest für alle Kinder, größere wie kleinere, wenn der Herr Pastor mit der Dorfschule spazieren ging. In Reih' und Glied ward ausgezogen, mit Fahnen und Gesang, nach irgendeinem schönen Punkt am Wasser, und während hier die Mädchen Holz zusammentrugen, Feuer machten und das vom Pfarrhaus gelieferte Brot in gleichmäßige Stücke schnitten, durchfischten die Knaben den Bach auf weite Distanzen hin mit Angeln, mit Hamen oder auch mit der bloßen Hand, wie es jeder konnte. Dann wurde der Fang, gewöhnlich ansehnliche Massen von kleinen Schmerlen, Weißfischchen und Gründlingen, in die bereitstehenden Töpfe mit siedendem Wasser geschüttet und mit Zwiebeln, Butter und Salz vollständig zu Brei gekocht. Die größeren Mädchen waren die Köchinnen, der Pastor selbst verteilte das fertige Gericht in der Art, daß jedes Kind eine tüchtige Brotschnitte mit einem Löffel voll daraufgekellter Fischlatwerge erhielt. Wie gut das schmeckte, ist nicht zu sagen.

Nach getaner Mahlzeit wurden von Roller selbst auf bekannte Melodien gedichtete Kinderlieder gesungen und zwischendurch erbauliche oder belustigende Geschichten erzählt, wie es gerade paßte. Man konnte kein heitereres Bild sehen als diese frischen Bauernkinder bunt durcheinander, im sonnigen Heidekraut um ihren stämmigen Pastor gelagert, die kleinsten ihm zur Seite, sich zärtlich an ihn schmiegend, und alle an seinem Munde hängend oder andächtig die Augen niederschlagend, wenn sie sangen.


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