Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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Eines schönen Nachmittags schlug Friedrich uns Kindern ein ganz besonderes Vergnügen vor, nämlich mitten im Wasser einen Turm zu errichten. Mit Begeisterung schleppten wir, den flachen Bach durchwatend, die Bausteine herbei, und Friedrich, in einer Art von Fischeraufzug wie ein hochbeiniger Reiher in der Flut stehend, ordnete sie zur Pyramide oder Säule, die bald mannshoch aus dem Wasser aufstieg. Die übrige Gesellschaft war hinzugekommen und schaute, am Ufer gelagert, dem Jubel zu; und hier gedenke ich einer merkwürdigen, unserem Hause schon seit längerer Zeit befreundeten Gestalt, die mir bei dieser Gelegenheit zuerst in die Erinnerung tritt.

Henriette Courtan, in jüngeren Jahren mit der uns ebenfalls befreundeten Familie des Buchhändlers Hartknoch von Königsberg in Dresden eingewandert, lebte hier selbständig von den Zinsen eines kleinen Vermögens und in sehr ausgedehnten Freundeskreisen, in denen sie sich mit Eifer einer großen Humanitätstätigkeit hingab. Wo Hilfe not tat, Unterstützung, Pflege, Fürsprache, Rat und Tat, da war die Courtan bei der Hand mit eigenen oder fremden Mitteln, über welche letztere sie mit seltener Virtuosität zu disponieren wußte.

In der Tat brauchten auch Betrübte sie nur anzusehen, um sich augenblicklich aufzuheitern, denn sie strahlte wie die liebe Sonne in gelb- und feuerroten Farben und verdeutlichte sich noch mehr durch höchst phantastische Gewinde von schleierartigen Bandagen um Kopf und Schultern. Da sie nun übrigens ganz verständig und nichts weniger als hübsch war, so blieb es unbegreiflich, was sie zu einem so herausfordernden Kostüm bewegen konnte, an dem die Damen alles auszusetzen, die Herren aber beständig Veranlassung fanden, sich mit ihr herumzunecken. Wir Kinder nannten sie ihrer schwarzen Haare wegen die «schwarze Tante». So hieß sie auch bald allgemein, und es hat lange gedauert, bis ich entdeckte, daß sie auch noch einen anderen Namen hatte.

Heute nun war die schwarze Tante mit den Dresdner Freunden zu uns herausgepilgert, lagerte mit den übrigen am Ufer und schaute mit steigendem Interesse dem babylonischen Turmbau zu. Das Rufen Friedrichs, das Geschrei der Knaben, der Jubel im Wasser ward immer berauschender, und lockend plätscherte die kühle Welle über die bunten Kieselsteine des Baches. Das alles mochte sie gezogen und bewogen haben, kurz, auf einmal war die Tante barfuß, und ehe man sich's versah, ständerte auch sie hochgeschürzt und glückselig wie eine Bachstelze in der Flut umher.

Nun wollten zwar die Frauen schelten, aber sie störte sich nicht daran, weil sie es natürlich finden mochte, daß Fröhliche natürlich würden. Ist aber einer nur erst recht natürlich, so kann man gar nicht wissen, wo es enden wird. Die schwarze Tante war auf den glatten Steinen nicht recht sicher und geriet in immer tieferes Wasser.

Da sprang Friedrich zu, unbarmherzige Wassergüsse um sich sprühend. Er wollte die Nymphe haschen, um sie auf seinen Turm zu setzen, zu ihrer eigenen Sicherheit, wie er behauptete. Sie schrie vernehmlich, suchte zu entrinnen, glitschte, fiel und wurde triefend ans Land gefischt. – Die Frauen enteilten mit der eingeweichten Freundin.

Damit war indes die Freude nicht zu Ende, kam vielmehr nun erst recht zum Ausbruch. Man wollte nämlich weder der Zeit noch bösen Buben die Ehre gönnen, Friedrichs Kunstwerk wieder zu zerstören, dies vielmehr selbst besorgen; und alles stieg ins Wasser. Volkmann zwar, als obrigkeitliche Person und Ratsherr, vergab dem Dekorum nicht so leicht etwas; heute aber zog er dennoch mit den übrigen Rock und Stiefel aus, sprang in den Bach und raffte Steine aus der Tiefe.

Es begann nun eine treffliche Kanonade und ein unsägliches Vergnügen, denn im Zerstören ist große schöpferische Lust für jedermann. Die Geschosse, aus starker Faust entsendet, prallten von allen Seiten gegen das Denkmal, mit abgerissenen Trümmern zurück ins Wasser stürzend. Dies sprühte, mannigfach zerklüftet, um den dunkeln Bau, Staubregen und Kaskaden bildend, in welchen der Strahl der Abendsonne zitterte, bis die Zerstörung vollendet war und ein ländliches Mahl vor Volkmanns Türe die Festlichkeit beschloß.

So lebten wir in Lotzdorf ganz zufrieden und ohne sonderliche Gravität und Gene, nicht nur wir Kleinen, sondern auch die Großen, die sich dadurch von wirklich Großen unterschieden, bis endlich alle mit Bedauern aus dem kleinen Dörfchen schieden.

Der Geburtstag

Wir waren sämtlich nach der Stadt zurückgekehrt, gekräftigt und gebräunt, und meine Mutter fand sich so gebessert, daß sie sich einem unbequemen Werke, das ihrer wartete, gefahrlos unterziehen konnte. Die kleine Schwester nämlich schien mehr Platz zu brauchen als wir andern alle; unsere Wohnung war wenigstens zu eng geworden und man hatte sich nach einer anderen umsehen müssen, was übrigens mit um so leichterem Herzen geschehen konnte, als unsere bisherigen lieben Hausgenossen schon früher ausgeflogen waren. Schuberts waren abgereist, Engelhards umgezogen und Lais seiner Kränklichkeit erlegen. Ich hatte daher beim Abschied nur Fritz Pezold zu umarmen, der mich jedoch des Sonntags noch ab und zu besuchte.

So bezogen wir denn im Spätsommer des Jahres 1808 die zweite Etage des Brelingschen Hauses an der Neustädter Allee, der schönsten und freundlichsten Straße Dresdens. Dies Haus, vor etwa hundert Jahren vom Grafen Zinzendorf erbaut, trug mit großen goldenen Buchstaben die an dem ganzen Sims hinlaufende Inschrift: «An Gottes Segen ist alles gelegen» und wurde kurzweg «der Gottessegen» genannt, den wir auch sämtlich drin gefunden haben.

Wir Kinder waren mit dem Wechsel sehr zufrieden, wir durchrannten mit Geschrei die neuen Räume, und da das Gebäude sich im Viereck um den Hof zusammenschloß, war es ein Staatsvergnügen, so immer zuzulaufen und doch unfehlbar wieder am Ausgangspunkte anzulangen, wie Weltumsegler. Auch bot die schöne Promenade vor den Fenstern willkommenen Raum zum Spielen sowie der wüste, mit Wegerich bewachsene kleine Garten, in dem wir wühlen und machen konnten, was wir wollten. Nicht sehr entfernt am Wiesentore wohnten Volkmanns, und Eltern und Kinder verkehrten täglich miteinander, je mehr und mehr zu einer einzigen Familie verwachsend.

Das alles war nicht übel; in anderer Art aber hätte ich mich beklagen können, wenn ich den Verstand dazu gehabt hätte. Die regelmäßigen Beschäftigungen nämlich, zu denen ich früher angehalten worden, hatten wegen Krankheit der Mutter schon im Döpmannschen Hause eine Unterbrechung erlitten. Vielfache Zerstreuungen waren nachher hinzugekommen, der Badeaufenthalt, neue Bekanntschaften, endlich der Umzug. Da nun die treue Mutter ihren Unterricht wieder beginnen wollte, zeigte es sich, daß ich alles vergessen hatte und überhaupt nicht mehr der alte war. Wieder von vorne anzufangen, machte Unlust, man plagte sich von beiden Seiten, ich lernte nichts, und als die Mutter obendrein von neuem erkrankte, kam ich aus Rand und Band, nahm zu an Torheit und Ungunst bei den Menschen, ganz besonders bei Frau Venus.

Diese arme Kinderfrau mochte damals bittere Tage haben. Die Mutter meist bettlägerig, der Vater von seiner Arbeit absorbiert, sollte sie allein nicht nur die Schwester warten, sondern auch auf mich und meinen kleinen Bruder achten, der ebenfalls den Sündenpfad der Ungezogenheit zu betreten anfing. In der Tat mochte es allein schon eine Aufgabe sein, nur das mit einem Saugschwamm versehene Milchfläschchen zu hüten, aus dem die Schwester genährt ward, denn die gute Frau brauchte eben nur den Rücken zu wenden, so waren wir wie die Kälber drüber her und sogen's aus. Schalt sie, so lachten wir und dachten auf neuen Unfug, versteckten ihre Sachen, brannten Papier und Haare an und prüften ihre Geduld auf jede Weise. Kurz, der alte Adam entfaltete sich dermaßen, daß es mir selbst bisweilen leid tat, doch konnte ich's nicht wohl ändern.

Solcher Leichtsinn ward durch einen Trauerfall gedämpft, der mir zu Herzen ging. Ein Schüler meines Vaters nämlich, der schon genannte Kraft, den ich sehr liebte, war schwer erkrankt. Mein Vater, meine Mutter und alle Freunde taten alles, was sie konnten, ihn zu erhalten; doch starb er schon nach einigen Tagen, und zwar infolge eines Wäschewechsels, den er in einem unbewachten Augenblicke gegen das Gebot des Arztes unternommen hatte. Er wurde in unserem Hause betrauert wie ein Sohn und Bruder.

Einige Tage nach dieser Katastrophe fiel mein Geburtstag. Als ich des Morgens früh erwachte, war mein erster Gedanke an Kraft, der heute begraben werden sollte. Dann bemerkte ich Licht im Zimmer, und wie die Mutter, leise herumwirtschaftend, bereits das Bett verlassen hatte. Nun fiel mir auch der Geburtstag ein, und der Gedanke, daß die mütterliche Liebe für mich ungezogenen Jungen schon so früh bemüht sei, rührte mich nicht wenig. Ich lag mit dem Gesicht gegen die Wand, um aber der geliebten Mutter die Freude der Überraschung nicht zu verderben, kniff ich die Augen noch obendrein gewaltsam zu und hütete mich, mein Wachsein zu verraten.

Endlich rief die Mutter, ich solle aufstehen, es wäre sieben – und von den verschiedenartigsten Gefühlen bewegt, wandte ich mich herum. Aber in der Erwartung geburtstaglichen Glanzes war ich freilich sehr überrascht, nichts als ein heruntergebranntes Talglicht zu finden, bei dem die Mutter sich angekleidet hatte. Vorn Geburtstage schien gar keine Rede sein zu sollen. Ich tröstete mich indessen mit der Wahrscheinlichkeit, daß bei einem alten Knaben von sechs Jahren, wie ich nun einer war, die bisherige Bettbescherung unstatthaft geworden und ich am Frühstückstische beschenkt werden würde wie der Vater. Als ich indes auch dort nichts fand und die Mutter mir statt der Geburtstagsschokolade gleichgültige Milch versetzte, mußte ich mir Gewalt antun, um meinen Schreck nicht zu verraten. Es war ein kummervolles Beieinander; keiner sprach etwas, und genossen wurde wenig.

Endlich ließ die Mutter sich vernehmen: «Du armer Junge! Du hast heute einen traurigen Geburtstag!»

Ach ja wohl! das war es eben. Meine Mutter hatte dem Faß den Boden ausgestoßen, und das Salzwasser schoß mir aus den Augen. Jene fuhr fort, erzählte mir von Kraft, wie er diesen Morgen begraben werde und wie das keine Stunde sei für Lust und Festlichkeit. Übrigens würde ich es ja wohl selbst am besten wissen, ob mein Betragen seit Lotzdorf so gewesen, daß man Freude an mir gehabt und wünschen könne, mir welche zu machen; sie hoffe aber, ich würde von nun an Sorge tragen, mich zu bessern; dann würden auch die Geburtstage wieder besser werden.

Die Mutter sprach sehr ernsthaft und ausführlich, und ich armer Schächer fühlte mein Unrecht äußerst lebhaft, so daß es mir unnatürlich vorgekommen wäre, noch obendrein beschenkt zu werden. Ich faßte aber die trefflichsten Vorsätze, und wenn diese auch mannigfach zu meiner Beschämung ausliefen, so mag doch Hinfallen und Wiederaufstehen uns armen Menschenkindern dienlicher sein als Aufstehen und nicht wieder Hinfallen.

Unterdessen stieg allgemach der Tag auf über die Dächer der gegenüberliegenden Häuser, die Lichter auf dem Frühstückstische verloren ihren Schein, und von der stillen Straße herauf dröhnte das dumpfe Rollen eines sich schwerfällig fortbewegenden Fuhrwerks. Wir traten ans Fenster und sahen eine lange Reihe dunkler Gestalten, den Vater an der Spitze, hinter dem Sarge des Freundes vorüberziehen. Meine Mutter trocknete sich die Augen, und auch ich weinte, denn ich hatte ihn sehr lieb gehabt.

Als am Abend desselben Tages Volkmanns mit noch anderen Freunden kamen und meine Mutter den Tee bereitete, schickte sie mich ins Nebenzimmer nach der vergessenen Zuckerdose. Ich nahm ein Licht und öffnete die Türe. Aber – wie soll ich das Außerordentliche einer Überraschung schildern? Ich stand wie geblendet von der Herrlichkeit der Lichter, der Blumen und Geschenke, die auf weißgedeckter Tafel vor mir ausgebreitet waren. Ich mußte nach Luft schnappen, dann warf ich mich der Mutter in die Arme.

Die gleichfalls überraschte Gesellschaft drängte nun heran, man bewunderte, man freute sich mit mir, untersuchte die einzelnen Gegenstände und amüsierte sich ein Weilchen, ihren Gebrauch zu prüfen – als auf einmal die Stimme meines Bruders laut ward. Er hatte die ganze Zeit über, die Fäuste in den dicken Backen und die Ellbogen auf den Tisch gestemmt, vor dem Kuchen gestanden und seine Blicke in dem Zuckergusse wurzeln lassen, bis er nun endlich in die akzentuierten Worte ausbrach: «Geht denn das Essen noch nicht los?»

Das war allen aus der Seele gesprochen; der Kuchen wurde abgeschlachtet, und uneingedenk der Eindrücke des Morgens, schmauste ich behaglich mit den anderen und wußte nicht, welch ein Komplott die Großen unterdes an ihrem Teetisch machten. Sie waren nämlich übereingekommen, einen Informator anzunehmen, der bei uns wohnen, die kleinen Volkmänner aber mit unterrichten und uns Kinder allesamt in Zucht halten sollte. Den rechten Mann zu solchem Werke glaubte Vater Volkmann in einem jungen Theologen, namens Senff in Leipzig, bereits zu kennen und eröffnete mit ihm sofort die nötige Unterhandlung. Gleich nach Ostern sollte der neue Lehrer bei uns eintreffen, und wir Kinder sahen ihm als etwas Neuem gern entgegen, nicht ahnend, daß dieser Senff auch seine Schärfe haben könne.


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