Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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Der Held wird müde

Ronneburg lag bald im Rücken, und ich war frank und frei; als ich mich aber dessen freuen wollte, gelang es nicht. Warum hatte ich denn dem guten Mädchen nicht den Gefallen tun können, ihren Vater zu begrüßen, in dessen Augen das kleine Abenteuer seiner Tochter auf solche Weise die schicklichste Lösung gefunden hätte? Ausruhen mußte ich ja doch irgendwo, konnte unmöglich bis Hummelshain so fortrennen wie ein toller Hund oder von Furien gepeitschter Ödipus. Ich hätte, wie mir angedeutet worden, ja erst im Löwen einkehren, schickliche Zeit abwarten und dann meinen Besuch nach Belieben kürzen mögen. Das alles, und daß ich grob erscheinen müsse und meine Sache herzlich schlecht gemacht habe, fiel mir jetzt nachträglich ein, da ich mit solcher Weisheit nichts mehr anfangen konnte. Ich suchte sie mir daher auch wieder aus dem Sinn zu schlagen und begann einen fröhlichen Marsch zu pfeifen, auf den Text: «Nach Hummelshain, nach Hummelshain.»

Zu meiner weiteren Erheiterung konnte freilich der Umstand wenig beitragen, daß mich ein Kerl einholte, der sich mir ohne weiteres anschloß, versichernd, es marschiere sich noch einmal so gut in Gesellschaft. Ich war entschieden anderer Ansicht, denn dieser Gesellschafter war weder ein zierliches Mädchen, wie die Ronneburger Pfarrerstochter, noch überhaupt ein erträgliches Wesen; vielmehr gehörte er zu der unbequemen Klasse inquisitorischer Peiniger, deren Unterhaltung sich wesentlich um die polizeilichen Fragen dreht: woher man kommt, wohin man geht, wie man heißt, was man ist und dergleichen Geheimnisse mehr. Ihn wieder loszuwerden, erlaubte ich mir die deutlichsten Manöver und Andeutungen, doch war er taub für alles und jedenfalls ein Mann, mit dem man sich nur durch die Lübecker Blume hätte verständigen können.

Mein guter Vater erzählte nämlich gern die folgende Geschichte. Zu Lübeck hatte sich ein Fremder in eine Schenke verlaufen, die sonst nur von Matrosen und anderem Seevolk besucht zu werden pflegte. Harmlos grüßend war er eingetreten; doch kaum hatte er sein Glas Wacholder verlangt, als auch die anwesenden Stammgäste schon die Köpfe zusammensteckten und augenblicklich einig waren, den Eindringling so abzubläuen, daß er das Wiederkommen vergäße. Aber ein alter Schiffszimmermann bedeutete sie: «Nicht gleich so grob, Kinder! Ich will dem Menschen einmal erst durch die Blume zu verstehen geben.» Darauf erhob er sich, spuckte in die Hände und brüllte jenen an: «Was will die Landratte hier? Eppes spionieren? He? – Den Augenblick, verfluchter Schweinhund, pack' Er sich zum Teufel, oder ich zerbreche Ihm alle Knochen, die Er im Leibe hat.» Der Fremde war wie weggeblasen. Der Alte aber sagte: «Nun seht, ihr Kinder, daß man heutzutage mit etwas Höflichkeit auch noch zustande kommt. Das laßt euch zur Lehre dienen.»

Diese Blumensprache hätte mein Begleiter vielleicht auch verstanden; leider konnte ich ihm aber die richtige Räson dazu, die Schiffszimmermannsfaust, nicht zeigen. Ich wußte kein Mittel, ihn abzuschütteln, und mußte mich daher in den Gedanken schicken, den ganzen Tag mit ihm behaftet zu bleiben, denn er wollte nach Kahla und hatte einen Weg mit mir bis Hummelshain. So trabten wir denn ein gut Stück Weges nebeneinander hin, bis mir der Zufall dennoch einen Ausweg zeigte.

Der einzige Trost, den jener Überlästige mir gegen sich selbst gewährte, war die Versicherung, daß er Bescheid wisse. Als wir nun aber an eine Stelle kamen, wo der Weg sich wie eine Gabel auseinanderzog, zeigte es sich, daß der Führer ebenso dumm war als der Geführte. Wir machten Halt und überlegten, doch es war kein Grund vorhanden, den einen Weg dem anderen vorzuziehen. Inzwischen schien mein Führer in der Schule was gelernt zu haben. Er schnallte seinen Tornister ab, und nachdem er unter allerlei Gepäck ein Schnupftuch von Kattun hervorgezogen, streckte er sich ins Heidekraut und breitete jenes vor sich aus. Es zeigte sich, daß eine Karte von Deutschland darauf gedruckt war, die mein Geograph jedoch in die zufällige Richtung unseres Weges, Nord gegen Süd, gelegt hatte. Ich erlaubte mir daher, ihm bemerklich zu machen, er müsse seine Karte wenigstens nach der Himmelsgegend wenden, sonst wiese sie uns nach Ronneburg zurück.

«Wollen Sie mich etwa von die Erdkunde belehren?» erwiderte er, stieß mit dem Daumen in sein Tuch und schwur: «Wenn hier nicht Kahla liegt, soll mich der Teufel holen; folglich wird links geschwenkt. Verstanden?»

Er hätte ebensogut sagen können: folglich wird rechts geschwenkt! und dann wäre ich auf jede Gefahr hin links gegangen. Ich sagte ihm, ich dächte anders, wünschte ihm glückliche Reise, und ehe er noch sein gelehrtes Tuch wieder zusammengepackt hatte, zog ich rechts ab.

«Nu! Nu!» rief er mir nach, «der Musje wird schon noch an mich denken!» Und daran hatte er nicht unrecht. War er vielleicht von Anfang an gar nicht im Zweifel gewesen und hatte sich mit seiner Landkarte nur ein Ansehen geben wollen? Soviel ist sicher, daß ich falsch ging.

Fürs erste jubelte ich zwar auf. «Beatus qui solus», sagen die Pastoren, wenn sie ohne Kollegen sind, und diese Seligkeit verstand ich jetzt vollkommen. Singend und pfeifend schritt ich wacker aus, in der Hoffnung, bald auf ein Dorf, ein Haus oder einen Menschen zu stoßen, um mich zu orientieren; ein Stündchen umgelaufen, sollte mich nicht dauern. Als aber Stunde auf Stunde verging, die Sonne mir auf Kopf und Ranzen brannte, Hunger und Durst mich anfielen, die Füße schwer wurden und ich immer nichts als Wildnis sah, da schwand allgemach der Jubel, und ich fing an, besorgt zu werden. Doch machte ich damals eine wichtige Erfindung, die mir auf allen meinen späteren Fußreisen, wenn ich müde wurde, sehr zustatten kam. Ich marschierte nämlich im Dreivierteltakt, was wenigstens die Empfindung wesentlicher Beschleunigung gibt.

Endlich, es mochte Mittag vorüber sein, erreichte ich ein kleines Walddorf, an dessen hübschgelegener Schenke ein Bierzeichen aushing. Ich schwenkte ein, warf meinen Ranzen auf die Tafel, mich auf die Bank und forderte zu trinken. Das angezeigte Bier war freilich noch nicht ganz vollständig, eigentlich nur Malzbrühe. Es war im Hause gebraut und noch nicht fertig, da sowohl der Hopfenzusatz als die Gärung fehlten, doch war es naß und ging hinunter. Dazu ward Schwarzbrot aufgetragen und frischer Ziegenkäse, und das war alles, was dies Gasthaus leisten konnte. Für einen, der wie ich seit vierundzwanzig Stunden nur vom Fasten gelebt hatte, war's aber eine gute Mahlzeit; und da ich nun obendrein vom Wirt erfuhr, daß ich ganz recht gegangen – was diese Leute immer finden, wenn man nur ihre Kneipe nicht verfehlt hat –, so war ich sehr zufrieden und streckte die Beine behaglich von mir. Mein gelehrter Begleiter von heute morgen mußte freilich sehr verirrt sein samt seinem Schnupftuch; aber das war seine Sache.

Etwas herabgestimmt ward ich indessen, als ich auf weitere Fragen hören mußte, daß es noch sechs gute Stunden sei bis Hummelshain, und der Wirt, obgleich er nicht zugeben wollte, daß ich verirrt sei, da man von hier aus ebensogut als von Ronneburg nach Hummelshain kommen könne, doch meinte, daß ich gerade nicht den nächsten Weg gegangen. Da war es denn aus mit der kurzen Rast: ich raffte mich auf, und trotz der brennenden Füße ging es wieder vorwärts im Dreivierteltakte über Berg und Tal, durch Wald und Flur, und überall war es zugetroffen, was der Wirt mir vom Wege gesagt hatte, nämlich, daß er einsam, lang und sehr beschwerlich sei. Nur das eine schien nicht zuzutreffen: daß dieser Weg nach Hummelshain führen sollte.

Schon warf die Sonne ihre längsten Schatten, und ich war so müde, daß ich mich kaum noch schleppen konnte – da, meinte ich, wäre es endlich an der Zeit gewesen, anzukommen und sich in den Armen liebender Verwandten auszupflegen. Aber trotz aller Notwendigkeit und alles Weiterschreitens wollte sich von der bekannten Hummelshainer Gegend doch nichts zeigen, noch irgend etwas anderes, woran ich mich hätte zurechtfragen oder -finden können. Da ging mir denn ein Licht auf über meine Sünden, und ich bereute alles miteinander: daß ich in Altenburg die Post, in Ronneburg das Mädchen und in der Wildnis den Schnupftuchmann verlassen hatte, ja es hätte mir fast leid tun können, daß ich überhaupt die Reise angetreten.

Aber – ist das nicht ein liebes Männlein, was mir da entgegenkommt? Wahrhaftig, das erste zweibeinige Wesen, das mir heute begegnet, seit meiner Trennung vom Geographen. Das Ding kommt immer näher! Zwar sieht's einer rindsledernen Mumie so ähnlich wie ein Ei dem anderen – in meinen Augen ist's aber doch ein Engel Gottes, der Rettung bringt.

«Gott grüße, Vater! Wie weit ist's noch nach Hummelshain?»

Das Männlein machte Halt: «Nach Hummelshain? Na, wo kommt Er denn her?»

«Das ist egal, Väterchen; aber ich will nach Hummelshain. Seid so gut und sagt mir, wie weit ich noch habe.»

Der sah mich grinsend an und sagte: «Je nun, mit zwei gesunden Füßen kann's einer in sechs Stunden allenfalls erlaufen.»

Das war ein Donnerschlag. Sechs Stunden! Gerade so weit war's vor sechs Stunden auch gewesen, und jetzt waren Zeit und Kraft verbraucht.

Ich fragte nun weiter, ob nicht vielleicht ein anderer Ort in der Nähe sei. Aber der Kerl wandte mir den Rücken und ging seines Weges, brummend, ich würde das wohl selbst am besten wissen. Es war nichts weiter mit ihm anzufangen, und blieb nur übrig, von neuem auf den müden Beinen Platz zu nehmen und sie zum Weiterhinken anzuspornen. Fiel ich nicht um, so schloß ich, müsse der Weg mich doch irgendwohin führen, und wenn es denn auch nicht Hummelshain wäre, so würde es jede Schütte Stroh unter Dach und Fache auch tun. Ich war in meinen Wünschen so bescheiden geworden, daß ich nur noch nach Ruhe verlangte: alles andere sollte mir gleich sein.

Aber siehe da! Keine tausend Schritte' so lichtete sich die Holzung, und in nächster Nähe vor mir zeigte sich ein Schloß mit einer Gruppe Häuser. Hummelshain war's freilich nicht, wahrscheinlich Lichtenau, aber immerhin ein sehr erwünschtes Obdach für die Nacht. Ich beflügelte meine Schritte, so gut ich konnte, indem ich jetzt sechs Viertel zählte, und trat bald in eine freundliche Gaststube ein, wo ich zu meiner Überraschung hörte, daß Hummelshain ganz nahe, etwa nur eine kleine Meile von hier sei.

Ich werde clairvoyant

Ungewißheit und Zweifel ermüden mehr als wirkliche Strapazen. Da ich nun wußte, wo ich war, und ein nahes Ziel vor Augen hatte, kehrten auch die Kräfte wieder, und ich wollte auf der Stelle weiter. Doch riet der Wirt, einen Boten mitzunehmen, wenigstens bis zu einer gewissen Stelle, von wo aus man nicht mehr irren könne, und versprach mir, einen aufzutreiben. Bis er erschien, erquickte ich mich mit Butterbrot und Bier; dann brachen wir selbander auf. Mein Führer war ein langer, schlotteriger Kerl mit herabhängendem Hosenboden und versoffenem Antlitz. Vor allen Dingen hatte er einen Schnaps auf den Weg verlangt, den ich ihm auch angedeihen ließ, indem ich mir zugleich selbst ein Glas davon in jeden Stiefel goß – ein herrliches Mittel, um ganz erschöpfte Kräfte noch für kurze Zeit zu spannen.

Durch die Rast im Wirtshaus, den Aquavit im Stiefel und die freudige Aussicht, nun bald und sicher bei Oheim und Muhme einzutreffen, war ich wie neu geboren. Ich schritt wieder rüstig in den dunkelnden Wald hinein und amüsierte mich an den Geschichten meines Führers, der durch das letzte Schnäpschen, das schon eine gute Grundlage gefunden haben mochte, ganz begeistert war. Namentlich erinnerte er sich der Kriegszeiten und seiner Fahrten mit den Russen, deren Charakter er sehr lobte. Ganze Kerle wären das gewesen, das müsse er sagen, und hätten gewußt, wo Barthel Most holt; aber die Wege hier im Holze hätten sie doch nicht gewußt. Da hätten sie ihn denn auf ein Pferd gesetzt, ihm einen Sarraß angehangen und sich von ihm anführen lassen. Wie ein General hätte er sich ausgenommen und manches Kopfstück verdient, denn das Geld hätten sie sich nicht dauern lassen.

Da ich mich nun verlauten ließ, daß ich auch so etwas wie ein Russe sei, fiel mir der Schlingel plötzlich um den Hals. «Landsmann!» schrie er, «nun laufe ich mit dir hin bis Hummelshain, und sollte ich auch die ganze Grummeternte darum verlieren!»

Ich erwiderte, wenn er mich etwa Sie nennen wollte, so nähme ich's auch nicht übel.

Ich wollte ihn wohl nicht anerkennen?

«Als Duzbruder nicht», sagte ich; sonst wollten wir ja gute Landsleute und Freunde bleiben.

«Ja!» seufzte jener, «die Art kann einer schon gebrauchen. Sehen Sie, Herr Landsmann! Ich habe Malheur gehabt, wie man zu sagen pflegt: ein bißchen Holz gelesen – kann sein, daß was Grünes mit untergelaufen ist – und dafür eine Tracht Stockprügel auf den nächsten Freitag. Die könnten Sie mir abnehmen, Herr Baron!»

Erklärend setzte er hinzu, weil der Herr Oberforstmeister doch meine Freundschaft wären, so könnte ich vielleicht ein gutes Werk tun für einen unglücklichen Familienvater. Ich versprach, mich für ihn zu verwenden.

Unter solchen Reden waren wir durch dick und dünn auf schmalem Fußweg an einen Durchhau gelangt, der sich in schnurgerader Richtung weithin durch den Wald zog. Hier machte der Landsmann Halt, erklärend, dies sei der Punkt, bis zu welchem er sich verdungen habe. Ich solle nur immer auf der Blöße bleiben, so würde ich in einer kleinen halben Stunde an den Hetzgarten anrennen.

Ich erwiderte, er habe mir ja versprochen, mich bis Hummelshain zu bringen! Aber er verschwor sich hoch und teuer, daß er für seinen Herrn Landsmann schon ein übriges getan, jetzt aber keine Zeit mehr habe. Ich bot doppelten Lohn. Umsonst, er war nicht zu bewegen. Fehlen, sagte er, könne kein Teufel in solcher Rinne von Durchhau, auch nicht der Dümmste! Er aber müsse retour, käme morgen früh sonst nicht zu rechter Zeit ins Grummet.

Wahrscheinlich hatte dieser Russe sich in seiner Branntweinbegeisterung selbst verlaufen, und es mochte ihm der akkordierte Lohn daher viel lieber sein als gar nichts. Ich mußte ihn auszahlen und laufen lassen, wenn er es nicht vorzog, unter dem nächsten Busche auszuschlafen. Nichtsdestoweniger legte ich später die versprochene Fürbitte noch für ihn ein, wiewohl umsonst, denn er war ein liederlicher Strick und höchst verrufener Holzdieb, dem nach Ansicht vernünftiger Leute nichts nachteiliger gewesen wäre als Nachsicht.

Ich war also nun wieder einmal allein im wilden Walde; aber das schöne Sprichwort: «Beatus qui solus», das mir heute morgen so verständlich gewesen, leuchtete mir jetzt minder ein. Zweifelnd, ob jener zweideutige Kerl mich auch recht gewiesen, setzte ich meinen Marsch in der angegebenen Richtung fort; aber es verging ein halbes Stündchen nach dem anderen, und der ersehnte Hetzgarten wollte immer noch nicht erscheinen. Dazu war die Branntweinkraft in den Stiefeln verdampft, die Füße waren wund und über die Maßen schmerzhaft, und der Ranzen auf dem Rücken lastete wie ein Gebirge. Freilich blinkten auch heute wieder die freundlichen Sterne auf mich nieder wie gestern abend, aber ich beachtete sie nicht: es war mir gleichgültig, wie sie hießen, und ob das Ronneburger Mädchen ihren Liebling darunter hatte oder nicht. Ich hatte nur einen einzigen Gedanken, nämlich, daß der Hetzgarten erscheinen möchte, ehe ich, wie jene mir vorausgesagt, am Boden läge.

Dieser Wunsch ging niemals in Erfüllung. Der Durchhau, in welchem ich bis dahin fortgekrochen, nahm zwar sein Ende, aber nicht der Wald. Ich war in einen Sack geraten, ohne Spur von Ausweg. Nach solchem suchend, schleppte ich mich vergebens am Dickicht hin – doch überall die gleichen Stämme, das gleiche Heidekraut, die gleiche Finsternis.

Was sollte nun werden? Wäre ich bei Kräften gewesen, so hätte ich mich vielleicht nach dem letztverlassenen Dorfe zurückgefunden. Aber seit vierundzwanzig Stunden fast ununterbrochen auf den Füßen, ohne Schlaf und ordentliche Nahrung, war ich wie ein verlöschendes Licht. Es war mir unmöglich, mich länger aufrechtzuhalten, und ich beschloß daher oder glaubte vielmehr, mich darein ergeben zu müssen, die Nacht da zuzubringen, wo ich mich befand. Dann aber auch zurück, und zwar weiter als bis zur letzten Schenke! Ich war in miserabler Stimmung, zwar resigniert, aber keineswegs ergeben in Gottes Fügung. Es war ein böser Trotz der Schwäche, der sich meiner bemächtigt hatte und mich mit Bitterkeit erfüllte. Was habe ich für einen Beruf, so dachte ich, mit Aufopferung meines Lebens dies alberne Hummelshain zu suchen, auf das sich ohne Zweifel der Teufel gesetzt hat, es zu verdecken? Möge es denn unter seinen angenehmen Schleiern bleiben, wo es bleibt: ich wenigstens werde es nicht weiter suchen. Soll ich hier sterben, muß ich's leiden; lebe ich aber morgen noch und kann mich rühren, so gehe ich geradeswegs zurück nach Dresden, und Ziegesars werden dann zu spät erfahren, welche Freude ihnen entgangen ist.

Mein Gepäck abstreifend, kroch ich unter die weit ausgestreckten Fächer einer alten Fichte, zog den Ranzen unter den Kopf und, nichts fürchtend, nichts hoffend und nichts denkend, doch im Genusse einer tiefen, wohltuenden Ruhe, lag ich wie ein Toter da. Auch möchte ein solcher aus mir geworden sein, denn ich war heiß vom Gehen, leicht gekleidet und ohne Mantel – aber jetzt trug sich etwas so Außerordentliches zu, daß ich noch heute eine genügende Erklärung nicht zu finden weiß.

Einer totenähnlichen Ruhe hingegeben, wie man sie etwa nach eingetretener Ohnmacht empfindet, mochte ich etwa zehn Minuten lang dagelegen haben, als eine eigentümliche Veränderung mit mir vorging. Obgleich ich nicht geschlafen, hatte ich dennoch die süße Empfindung allmählichen Erwachens, und es war, als würde mir ein Schleier abgezogen, der mir bis dahin längst Bekanntes verborgen hatte. Die nächtlichen, mich zunächst umgebenden Gegenstände erschienen mir plötzlich so heimisch, wie sie es den Kreuzschnäbeln und Finken sein mochten, die hier genistet hatten. Ich war kein Fremder mehr in dieser Wildnis; ich kannte alles, die alten Wurzeln an meiner Seite, ja ganz speziell die einzelnen Grashalme und Steine, zwischen denen ich lagerte. Und weiterhin der dunkle Wacholder und jener tot herabhängende Ast voll Moos und Flechten – ich wußte, daß das alles da sein mußte.

Daß ich an dieser Stelle vielleicht schon als Kind gewesen, ist nicht unmöglich, doch entsann ich mich dessen nicht; auch würde diese Annahme weder die genaue Kenntnis alles einzelnen noch überhaupt meinen Zustand erklären, der ein durchaus ungewöhnlicher und abnormer war. Vorübergehende Momente hat wohl jeder, daß ihm eine neue Situation als wohlbekannt und längst erlebt erscheint; so ähnlich war's mit mir, nur daß die Illusion eine längere Dauer hatte. Natürlich wußte ich jetzt auch, wohin ich mich zu wenden hatte, um nach Hummelshain zu kommen, und fühlte Kraft und Mut, es noch heute zu erreichen.

Erquickt und neu belebt erhob ich mich wie nach einem guten Schlafe, griff nach dem Ranzen und setzte mich wieder in Bewegung. Weg und Steg waren freilich jetzt ebensowenig vorhanden als früher, auch sah ich mich gar nicht danach um. Quer ging's durchs Holz von einem bekannten Ding zum andern, und immer wußte ich, daß ich recht ging. Die wunden Füße nicht beachtend, durchschritt ich den finstern, weglosen Wald mit solcher Sicherheit, als wären es die wohlbekannten Räume der väterlichen Wohnung gewesen.

Wie lange ich so gewandert, weiß ich nicht, aber endlich brach der Wald ab, ich trat ins Freie, und ohne die geringste Überraschung sah ich die nächtlichen Umrisse des langersehnten Schlosses vor mir mit der Kirche und den anliegenden Gebäuden. Aber nicht, wie ich gesollt hätte, von der Altenburger Seite, sondern von der entgegengesetzten, auf dem Wege, der von Kahla kommt, gelangte ich in den Schloßhof. Die Verwandten, die eben im Begriff waren, sich schlafen zu legen, erschraken vor meinem geisterhaften Anblick und hörten mit Erstaunen den Bericht von meinen Abenteuern. Sie erquickten mich mit dem Besten, was sie hatten, und so aufgeregt war ich von Freude, daß ich schließlich mit Gewalt ins Bett getrieben werden mußte.


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