Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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3. Ankunft in Bernburg

Bernburg, die Kapitale des Herzogtums, ist ein an beiden Seiten der Saale wohlgelegenes Städtchen, das zu jener Zeit etwa 7000 Einwohner zählen mochte. Über der Stadt thront malerisch auf einem Felsen das uralte Schloß, die Krone Anhalts. Mit stattlichen Mauern, starken Türmen und einer Mannigfaltigkeit von Gebäuden selbst einem Städtchen gleichend, blickt es hinab auf den Ort und den Strom, welcher, jenen durchschneidend, sich zwischen Rebenhügeln, grünen Wiesen und lieblichen Laubgehölzen hinzieht. Unfern des Schlosses und mit demselben in gleicher Höhe erhebt sich die Kathedrale des Landes, die Schloß- oder Ägidienkirche, welche von einem geräumigen Rasenplatz umgeben ist. Hier liegt in fast ländlicher Einsamkeit die Wohnung des Superintendenten.

Vor diesem Hause fuhr ich am Johanni-Abend des Jahres 1817, auf meinem Gepäcke sitzend, bestäubt und müde in einem einspännigen Leiterwägelchen vor. Die Post, welche jetzt zweimal täglich auf glatter Chaussee in wenigen Stunden von Ballenstedt nach Bernburg hinrollt, ging damals nur zweimal in der Woche, und zwar des Nachts, wo sie denn auf den bösen Wegen so oft umzuschlagen pflegte, daß nur Wagehälse sich dieser Gelegenheit bedienten. Beckedorff hatte daher ein eigenes Fuhrwerk für mich gemietet mit einem besonnenen Kutscher, der auf dem fünf Meilen langen Wege zwar seine richtigen zwölf Stunden unterwegs blieb, mich aber dafür auch mit unzerbrochenen Knochen am Bestimmungsorte abliefern konnte.

Die Herzlichkeit, mit der mich Krummachers empfingen, erfreute mich nicht weniger als die heitere Schönheit des hübsch gelegenen Hauses, denn ich hatte mir unter einer Superintendentenwohnung, nach Art der Dresdner Superintendentur, ein gar gespenstisches Kastell gedacht. Ich ward sogleich in ein freundliches Eckzimmer geführt mit drei hellen Fenstern, die teils nach dem Garten, teils auf die Kirche und den grünen Kirchhof blickten. Hier sollte ich wohnen, und zwar gemeinschaftlich mit zwei wackeren Söhnen des Hauses, dem Primaner Emil und dem Sekundaner Eduard, welcher letztere, kaum ein Jahr älter als ich, mir gleich zum voraus wie ein richtiger Spezialissimus aussah. Der älteste Sohn, der nachmals durch sein eminentes rhetorisches Talent so rühmlich bekannt gewordene Friedrich Wilhelm, studierte damals schon in Jena, der jüngste, mit Namen Julius, obgleich schon Quartaner, gehörte seinen Jahren nach noch so ziemlich in die Kinderstube und logierte bei der Mutter. Außer diesen vier Söhnen zählte die Familie noch zwei Töchter, die ältere, Marie, ein liebliches, auffallend hübsches Mädchen von achtzehn Jahren, und das kleine Julchen, das noch in die Ferkelschule lief und weitere Ansprüche auf Beachtung nicht erhob; indessen half es dasein, und wenn es fehlte, gab's eine Lücke am Familientisch.

Eine Bowle Maitrank, kunstvoll von Mariens Hand bereitet, dazu Gesang und muntere Reden, ließ mich den neuen Hausgenossen schnell bekannt werden. An so fröhlichem Tische glaubte ich noch nicht gesessen, mit liebenswerteren Menschen nie verkehrt zu haben. Arm in Arm mit Eduard und Emil schwelgte ich um zehn Uhr abends die Treppe hinauf nach unserem Zimmer und ging fröhlich schlafen, als ein zufriedener Junge.

Die Hausgenossen

In den weitesten Kreisen, wenigstens soweit die deutsche Zunge reicht, und auch wohl weiter, hatte der Name Krummacher den besten Klang. Der Verfasser der «Parabeln», des «Sonntags», des «Festbüchleins», des «Neujahrsfestes», der «Paragraphen» und anderer Schriften war in deutschen Landen als Schriftsteller sehr allgemein bekannt und hochgefeiert; wie liebenswürdig er aber als Mensch war, das wußten nur die Hausgenossen und nächsten Freunde, und hierin unterschied er sich sehr wesentlich von vielen anderen berühmten Männern. Am Hof und in der Gesellschaft, die er notgedrungen ab und zu besuchte, galt er für einen würdigen und feinen Mann, doch mußte man ihn des Abends in seiner weißen Pikeejacke und mit der Pfeife bei Weib und Kindern sehen, um den Dichter, ja weit mehr in ihm zu finden, als man auch nach seinen besten Schriften erwarten konnte.

Des Morgens stand er sehr früh auf und war den Tag über tätig in seinem amtlichen Beruf als Landesbischof oder in seinem natürlichen als Dichter; von acht Uhr abends aber bis zur Schlafenszeit lebte er ganz regelmäßig und ausschließlich der Familie. Da saß er zu Häupten der Tafel mit der vollen Würde des Hausvaters, aber auch mit jener freundlichen Hingebung, die das Vertrauen der Kinder weckt, hörte mit Interesse an, was sie ihm mitzuteilen hatten, und war unerschöpflich in Darreichung der reichsten Gaben aus den Schatzkammern seines Kopfes und Herzens. Fehlte es einmal an Anregung zur Unterhaltung, so las er einen Abschnitt aus seinen Lieblingsdichtern Klopstock, Claudius oder Hebel vor, und eine Freude war's und gab jegliches Verständnis, ihn dabei anzusehen, wie sich auf seinem herrlichen Gesicht voll Geist und Leben, voll Offenheit und feinster Erregung alle Nüancen der Dichtung widerspiegelten. Oder auch, er sagte uns ein Lied, eine Ode, einen schönen Vers vor, bis wir sie auswendig wußten. Ward ein Familienfest gefeiert, ein durchreisender Freund bewirtet, oder gab es sonst einen fröhlichen Anlaß, so ward Punsch getrunken und im Chor dazu gesungen, am liebsten die eigenen Lieder des Hausvaters, welche von einem jungen, vielversprechenden Musiker, namens Harder, der nur allzufrüh verstorben ist, in liebliche Musik gesetzt waren. Das waren herrliche Stunden! Die Krummacherschen Kinder sangen sämtlich hell und rein wie Glocken, trafen mit Leichtigkeit die Mittelstimmen nach Gehör, und der Vater sang den Baß, markierte, mit der Hand taktierend, alle Schönheiten des Textes oder der Musik und war dabei so selbstvergessen und ergriffen, daß ihm häufig die Tränen der Rührung in die Augen traten. Dazu wieder scherzte und lachte er mit uns und riß uns zu enthusiastischer Fröhlichkeit hin.

Ich respektierte und liebte diesen wahrhaft liebenswürdigen Mann sehr bald wie keinen außer meinem Vater; ja ich liebte ihn mit Begeisterung und konnte deshalb nicht «Herr Doktor!» zu ihm sagen, wie ihn andere nannten. Ich gab ihm daher den Namen «der Ätti», den Vaternamen der «Alemannischen Gedichte», und so auch nannten ihn später fast alle seine jüngeren Freunde nach meinem Vorgang.

Aber auch die getreue Hausfrau hielt ihn lieb und wert. Sie war einfach, schlecht und recht, lebte ihrer Wirtschaft, versorgte das Haus aufs beste und war voll guter Laune, lustiger Gemeinplätze und Familienwitze, trank auch gern ein Gläschen Punsch mit ihren Kindern und lachte mit ihnen wie mit Geschwistern. Daß ich ein Fremder war, ließ sie mich nur insofern empfinden, als sie mir einen gewissen höflichen Vorzug einräumte und mich doppelt fütterte.

Auch Marie war sehr gut und pflegsam und, wie gesagt, sehr hübsch. Infolge dieser Eigenschaften war es natürlich, daß ich mich bei Tisch an ihrer Seite wohl placiert fand; doch außerdem bekam ich sie sowohl als ihre Mutter nur wenig zu Gesicht. Knaben wissen noch mit Jungfrauen nichts anderes anzufangen, als daß sie ein heimliches Belieben zu ihnen tragen, und das war auch mein Fall.

Desto leichter aber war mir der Verkehr mit meinen beiden Stubengenossen. Ich fand in ihnen ein paar prächtige Burschen, herzlich, gesellig und unverdorben, forsche Kerls nach unserer damaligen Ausdrucksweise. Der Primaner Emil, der sich zum Abiturientenexamen vorbereitete, war ein lebhafter Sanguiniker, ein feuriger, überaus jovialer Jüngling. Er führte über uns die Herrschaft des Seniorates, des Faustrechts und der Intelligenz, was wir uns gern gefallen ließen, da er der Ältere, der Stärkere und Gelehrtere war. Da er als Primaner die Erlaubnis zu rauchen hatte, ernannte er mich zu seinem Pfeifenstopfer; ein Amt, dem ich nicht ohne Eifer vorstand, weil die Befugnis damit verbunden war, die Pfeife anzurauchen, die dann so trefflich mundete, daß sie mir nur mit Gewalt wieder abgejagt werden konnte. Dabei ließ ich's jedoch bewenden und übertrat das Gebot der Mutter weiter nicht.

Der jüngere Bruder, Eduard, war klein von Gestalt, aber kräftig. Er hatte eine breite Brust, ein plutonisches Lockenhaupt und großes, treuherziges Gesicht mit einem Paar ehrlicher Augen. Ausdauernd fleißig und streng sittlich in Worten und Werken, war er ein ernster, energischer Mensch, ruhig, aber nachhaltig in Haß und Liebe. Sehr großes Wohlgefallen hatte er an derbem deutschem Witz und war selbst reichlich gesegnet mit starken Einfällen und Vergleichungen, daher wir oft hart miteinander lachten. Das bindet junge Leute am schnellsten. Wir schlossen uns ehrlich aneinander und wurden gute Brüder.

Einmal freilich bekam diese Freundschaft auch ihr Loch. Der Grund des Zwistes muß unerheblich gewesen sein, da ich gar keine Erinnerung mehr davon habe. Ich weiß nur, daß wir uns bei den Gurgeln hatten, und wenn auch die Klauen bald wieder losließen, so blieb doch der Friede aus. Eduard sagte, mein Freund sei er gewesen. Das war sein letztes Wort, und ich dachte: So fahre hin! – und ging allein spazieren. Wir gönnten uns fortan keinen Blick mehr, sprachen kein Wort mehr miteinander und setzten solchen Brudermord acht ganze Tage und acht Nächte fort, obgleich wir an einer Tafel speisten, an einem Tische arbeiteten und in einem Bette schliefen. Wäre freilich damals der ältere Bruder noch bei uns gewesen, so möchte es so weit nicht gekommen sein; der hatte aber bereits die Universität bezogen, und ohne Vermittlung konnten wir uns nicht wieder zusammenfinden.

In meiner Eigentümlichkeit lag nichts Unversöhnliches, und mein Zorn wäre bald verdampft gewesen, wenn der andere nicht gar zu entschlossen ausgesehen hätte. Dem mochte es ebenso gehen, und beide wollten wir uns in jeder Bedeutung des Wortes nichts vergeben. Zufälligerweise hatten wir damals ein Exemplar des «Don Quijote» auf unserem Zimmer. Wer gerade Zeit hatte, bemächtigte sich des Buches und schwelgte einsam in den Prügelsuppen und sonstigen Erquickungen des Helden. Da ging es denn bisweilen nicht anders, als daß man, die Gegenwart des Feindes und alle bösen Geister vergessend, laut ausplatzen mußte; und wie leicht konnte sich nicht hieran die selbstvergessene Mitteilung der Stelle oder die Frage knüpfen: «Worüber lachst du?» Dann wäre alles gut gewesen. Aber die bösen Geister dominierten, der Haß war Ton geworden, und wenn der eine sich vergaß und lachte, besann sich doch der andere und sah doppelt sauer drein.

So lebten wir, ohne wahrscheinlich selbst zu wissen, warum, in einer Art von Hölle, aus der wir uns selbst nicht mehr erlösen konnten. Dies tat jedoch der Ätti. Eines schönen Abends nämlich führte er uns hinaus, die Saale aufwärts nach den sogenannten Bornaschen Bergen, wo eine Obstplantage zum Kirschenessen einlud. Wir ahnten nicht im entferntesten, daß er von unseren gegenseitigem Gefühlen Kenntnis habe, als er uns plötzlich mitten im Genuß der Kirschen durch das höchst auffällige Verlangen in Erstaunen setzte, wir sollten uns umhalsen. Er wisse, sagte er, daß wir eine elende Dummerei miteinander hätten, das müsse rasch und gründlich abgetan werden.

Wir zögerten und sahen trübe drein; aber der gestrenge Friedensdränger stampfte ungeduldig mit dem Fuße, und an Entrinnen war nicht mehr zu denken. Da taten wir die Arme auf wie Automaten, klappten sie wieder zu und befühlten uns so vorsichtig als möglich. Nichtsdestoweniger war dies kalte Scheinmanöver doch ausreichend gewesen, die zerrissene Freundschaft wieder zusammenzuflicken. Schon auf dem Rückwege lächelte gelegentlich der eine zu des anderen Witzen, und beim Schlafengehen ward zutraulich geplaudert.

Wie man sich bei Damen insinuiert

Bernburg war damals durch die Schönheit seiner Töchter sehr stattlich illustriert, aber aller Preis und Krone war doch Eduards ältere Schwester, die achtzehnjährige Marie. Das liebliche Mädchen war die Bewunderung der ganzen Schule, und wie schon angedeutet, hatte sie auch in meinem Herzen ihr verstohlenes Altärchen mit Opferdienst und Weihrauch. Sie mochte freilich davon nicht das geringste merken, denn naturwüchsige Knaben behalten ihre zarteren Empfindungen für sich, wenn schon das Bedürfnis, dem geliebten Gegenstande bemerklich zu werden, nicht immer ganz zu unterdrücken ist und sich gelegentlich in Flegeleien kundgibt. In diesem Falle mochte mein Freund August Schönberg sein, als er einmal der Versuchung nicht widerstehen konnte, der Königin seines Herzens an ihrem Geburtstage eine lebendige Maus in den Strickbeutel gleiten zu lassen. Es sollte dies keine Ungezogenheit bedeuten, sondern war nur die den Jahren und Fähigkeiten meines Freundes angemessene Form, sich in Erinnerung zu bringen, und überglücklich war er, die entsprechende Anerkennung dieser Huldigung auf der Stelle mit ein paar scharf gepfefferten Ohrfeigen davonzutragen. Mit ähnlicher Courtoisie Marien aufzuwarten, plagte denn auch mich der Teufel.

Sie hatte nämlich das Vergnügen, eines schönen Abends eine zahlreiche Gesellschaft von jungen Mädchen bei sich zu sehen, welche sie in einem Zimmer bewirtete, das mit dem unsrigen auf gleichem Flur lag. Eduard war ausgegangen, ich ganz allein. Die hellen Stimmen drangen lockend zu mir herüber, und ich konnte des Verlangens nicht Herr werden, auch meinerseits etwas zur Unterhaltung beizutragen. Mittelst gebrauchter Wäsche stopfte ich meine Kleider zu einer menschlichen Gestalt aus, malte ein Papiergesicht daran und stülpte einen alten Dreimaster des Ätti drauf, den ich von einem Schranke des Vorhauses entlehnt hatte. Diesen Krautteufel trug ich leise in den Flur hinaus und setzte ihn dicht vor das Zimmer der Mädchen auf einen Stuhl, so daß er in die Augen fallen mußte, wenn die Türe aufging. Dann lauschte ich mit unendlicher Geduld wenigstens eine Stunde lang am Schlüsselloch.

Endlich öffnete sich die Paradiespforte, und Marie selbst trat heraus, prallte aber augenblicklich mit einem so durchdringenden Schrei zurück, daß auch ich erschrak und statt eines Vergnügens ein Unglück angerichtet zu haben glaubte. Es folgte ein gewaltiger Tumult, Öffnen und Zuschlagen der Türe mit abwechselndem Zeter-, Chor- und Sologeschrei; ich aber stand die größere Angst aus und war eben im Begriffe, mich hinauszuwagen, um den Spuk hinwegzuräumen, als Christine, die Köchin, mit ihrer Küchenlampe die Treppe hinauf zu Hilfe eilte. Anfänglich stutzte auch sie; bald aber rief sie lachend die jungen Damen heraus, stieß das Spektrum mit dem Fuße um, und das Entsetzen ging nun in die ausgelassenste Lustigkeit über.

Schrecklich war die Rache, welche die übermütigen Mädchen sich jetzt an diesem leblosen Scheusale zu verüben gestatteten. Unter hellem Gelächter ward der arme, hilflos am Boden liegende Balg beleuchtet, verhöhnt, herumgerissen und zu meiner größten Beschämung sogar ausgeweidet. Ein Stück alter Wäsche nach dem anderen zogen sie ihm aus dem Leibe, besahen jedes aufs ausführlichste, und von jedem ward mein eigener, deutlich eingenähter Name laut verlesen, sooft er dastand. Ich müsse herbei und exemplarisch abgestraft werden, rief eine Stimme; aber fort war ich durch die Hintertüre und kam den ganzen Abend nicht mehr zum Vorschein. Ich schämte mich entsetzlich.

Die Mädchen mochten sich trotz allen Schreckens nicht übel amüsiert haben; ich aber hatte eigentlich nichts davon, als daß Marie mir am anderen Morgen im Vorübergehen leichthin mit dem Finger drohte und ich errötend niederblickte, wegen der Wäsche. Der Ätti sagte mir noch obendrein ganz trocken, ich sollte künftig solche Witze lassen.


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