Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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Der Verfasser ergibt sich der Demagogie

Um jene Zeit war Eduards ältester Bruder Friedrich nach beendigten akademischen Studien von Jena zurückgekehrt. Lang, hager, blaß, das tiefliegende Auge von starkem innerem Leben glühend, trat er in sogenannt altdeutscher Tracht, mit gefedertem Barett und lang abwallendem Haar, wie eine Erscheinung aus verflossenen Jahrhunderten in unseren Kreis, Kernworte der Trauer und des Ingrimms sprechend: der Trauer über den Verlust der akademischen Freiheit, des Ingrimms über das Philisterium, dem er verfallen. Friedrich war ein hochbegabter und genialer Mensch, dessen übermächtige Persönlichkeit uns Jüngeren nicht wenig imponierte, daher er uns auch schnell zum Propheten und Apostel eines nagelneuen Evangeliums werden konnte, das er aus Thüringen mit heimgebracht. Er war tief eingetaucht in jene phantastische Strömung, welche damals die deutschen Hochschulen durchflutete und die Köpfe der besten jungen Leute mit sich fortriß. War er doch eine der Koryphäen der glorreichen Jenenser Burschenschaft gewesen, hatte die Fahne getragen beim Zuge nach der Wartburg und sich dort nach des begeisterten Studenten Riemanns Worten mit allen Genossen aufs feierlichste verschworen, «zu streben nach jeder menschlichen und vaterländischen Tugend». Und solche Tugend war es, welcher er jetzt das Wort redete vor den Ohren aller, die es hören und nicht hören wollten.

Worin sie eigentlich bestand, diese menschliche Tugend, ist schwer zu sagen, da ihr Begriff sich ebensowenig aus jener Bezeichnung als aus Beispielen der Geschichte deduzieren läßt. Eine andere Tugend hatte Cäsar und eine andere Brutus, und Diogenes hatte eine andere als Cato und Scipio. Soll man von christlicher Tugend absehen, so ist die menschliche und vaterländische an sich ein wunderlicher Proteus und kann ebensogut Mord und Totschlag bedeuten als gut Essen und Trinken. Darin zwar war man einig, daß den Tugenden der Tapferkeit, der Wahrhaftigkeit und Keuschheit nachzusagen sei, und das war das Löbliche bei der Sache; ob aber zum Beispiel die menschliche und vaterländische Tugend es gebot, zum Zweck der Herstellung eines einigen und freien Vaterlandes die sämtlichen deutschen Fürsten nebst ihren Helfern und Helfershelfern um einen Kopf zu verkürzen, oder ob es hinreichen würde, dieselben mit bescheidenen Pensionen – für den König von Preußen wurden in Jena 300 Taler vorgeschlagen – zu bourgeoisieren, darüber stritt man wie über vieles andere. Die ganze Bewegung glich einer unklaren und verworrenen, von den heterogensten Sympathien getragenen Konfusion. Mit derselben Begeisterung für deutsches Mittelalter wie für die modernsten Revolutionsideen der Franzosen streckte man die Arme gleichzeitig nach hinten und nach vorne aus und schwärmte für eine Vorzeit, die man nicht kannte und deren Bedingungen, Ordnungen und Formen man nach Herzenslust mit Füßen trat. Man war vom allerneuesten, wie Goethe sagte, indem man alt sein wollte, und am allerwenigsten war man deutsch.

Was mich anlangte, so verstand ich von dem ganzen Wirbel wenig mehr, als daß es eine Herrlichkeit sondergleichen war und daß man recht von Herzensgrunde deutsch sein müsse; ähnlich auch mochten es alle diejenigen meiner Mitschüler verstehen, die überhaupt begeisterungsfähig waren. Recht deutsch sein aber hieß, recht trotzigen Mut und feste Fäuste haben, und uns zu diesen vaterländischen Tugenden zu verhelfen, war Friedrich sehr erbötig. Mit Enthusiasmus sprach er von dem frommen, frischen, freien und fröhlichen Turnerwesen und weckte das Verlangen, uns unter seiner Leitung mit der Gesamtheit aller Schüler zu einer ordentlichen Turngemeinde zu organisieren.

Um die Erlaubnis hierzu wie um Abtretung eines zum Turnplatz geeigneten Landstückes ward der Herzog angegangen, vorläufig aber im Hofraume der Superintendentur eine kleine Turngelegenheit improvisiert. Hier stellten wir mit des Ättis Erlaubnis aus gemeinen Mitteln die notdürftigsten Gerüste her, an denen wir des Abends unsere Kräfte übten, und ergötzten uns nebenbei an allerlei frischen und fröhlichen Turnspielen, die unser Meister Friedrich leitete. Dazu verschafften wir uns ungeschwänzte Anzüge von grauem Sackdrell, nahmen einen ungeschliffenen Kärrnergang an, wie er deutschen Flegeln zu ziemen schien, und sahen jedermann keck ins Angesicht. Leider aber mußte unser Verhalten sich nur allzuwenig empfohlen haben: besonnene Männer traten gegen die Neuerung auf und erhoben sogar im Wochenblatt den Wächterruf. Ich zweifle nicht, daß ihre Besorgnisse begründet waren; aber mit Gegengründen betrat Friedrich jetzt das Schlachtfeld. Sie replizierten, er replizierte wieder; es bildeten sich Parteien selbst unter Lehrern und Beamten, und immerhin brachte dieser gelehrte Hader einiges Leben unter die Bernburger Menschheit.

Mit Beckedorff war ich in stetem Briefwechsel geblieben. Ich war es gewohnt, ihn von allem zu unterrichten, was mich bewegte, und suchte ihn jetzt um so mehr über den Nutzen des Turnens aufzuklären, als ich annahm, daß er nicht ohne Einfluß auf die Entschlüsse des Herzogs sei, von dessen Erlaubnis doch endlich alles abhing. Wie sollten wir künftig, so argumentierte ich etwa, das Vaterland verteidigen, wenn wir nicht deutsche Knochen und Fäuste hätten? Von einem auf Schulbänken verkümmerten und verblühten Geschlecht – als das wir uns plötzlich erkannt hatten – seien Heldentaten schwerlich zu erwarten, und überdem würde dem Landesfürsten eine bessere Gelegenheit, die Jugend zu verpflichten, so leicht nicht wieder geboten werden. Aber Beckedorff schien von alledem nichts weniger als erbaut. Zwar war er nicht so weit verblendet, daß er das Turnen nicht für recht gesund gehalten hätte; ob jedoch die Jahnschen Turngemeinden mit ihren spezifischen Gesetzen und Gebräuchen zu dulden, und ob es zweckmäßig sei, der männlichen Jugend in rein monarchischen Staaten eine entschieden republikanische Richtung zu geben, das gab er zu bedenken. Schließlich riet er, wir möchten vor allen Dingen zeigen, daß die Turnerei fleißiger, bescheidener, gehorsamer und liebenswürdiger mache, so würden wir, alle Bedenken zerstreuend, unsere Widersacher in Freunde und Gönner verwandeln.

Schwärmereien ist indessen mit Vernunft nicht beizukommen. Beckedorffs Rat erschien mir dem großen Ziele gegenüber, das ich vor Augen hatte, allzu philiströs, denn ich war der Meinung, daß irgend etwas faul sei in deutschen Landen und daß dem weder durch Bescheidenheit noch Liebenswürdigkeit, sondern einzig und allein durch die unbescheidenste Kraftentwickelung abzuhelfen sei. In der Art schrieb ich auch zurück und war fest überzeugt, daß jedermann das einsehen müsse, selbst der Herzog. Doch hierin hatte ich mich geirrt, wie ich denn auch durch mein übriges Leben die Erfahrung gemacht habe, daß niemand sich von etwas überzeugen läßt, was nicht in seinen Kram paßt. Der Herzog war so frei, den Turnplatz zu verweigern und das Gezänk im Wochenblatte zu verbieten. Das war befremdlich. Es sah fast aus, als lege es der Landesvater eigens darauf an, die Kraft des Volkes abzuschwächen und sich die Herzen der Jugend zu entfremden. Wir räsonierten ganz unsäglich.

Glücklicherweise teilte wenigstens der Ätti nicht die Bedenken der herzoglichen Räte. Soweit er sich überhaupt um die Angelegenheit gekümmert hatte, war er geneigt, die besseren Seiten aufzufassen, freute sich des frischen Sinnes der jungen Leute und hielt die revolutionären Wasserreiser, die wir trieben, für eitel Kindereien. Zu einer wohlkonzessionierten Turngemeinde und einem öffentlichen Turnplatz konnte er uns freilich nicht verhelfen, doch hatte er nichts dagegen, daß wir unsere Kraftübungen nach wie vor in seinem Hofraum fortsetzten. Trotz unseres Kummers über den unerwarteten herzoglichen Bescheid unterließen wir daher nicht, daselbst allabendlich zu laufen und zu springen, zu wippen und kippen, exerzierten die Bein- und Rückenwelle, das Nest, den Schwebehang, den Katzen- und den Karpfensprung; und obgleich wir diese Künste keineswegs mit der Harmlosigkeit von Eichhörnchen oder Seiltänzern betrieben, sondern vielmehr mit dem Hochgefühle deutscher Jünglinge, welche die freie Brust im Morgenrot der Zukunft baden, sah die Behörde dennoch durch die Finger. Es waren schöne Stunden, die wir so im Bewußtsein schwellender Muskelkraft und trotzigen Mutes versprangen und verschwangen, und sonderlicher Nachteil ist auch nicht daraus erwachsen, es sei denn für die Speisekammern der Hausfrauen und Mütter; denn einen Knaben, der vom Turnen kommt, zu sättigen, ist nahezu unmöglich.

Meine Wirksamkeit bei Hofe

So waren die Pfingstferien herangekommen, die mich auf einige Tage wieder mit meinem Bruder vereinten. Wahrscheinlich um diesem eine Freude zu machen, vielleicht auch mir den Kopf zurechtzusetzen, war Beckedorff auf den gesunden Einfall geraten, mich mit des Herzogs Erlaubnis auf einige Tage nach Ballenstedt zu entbieten. Trotz meiner oppositionellen Richtung hatte er doch den willigsten Gehorsam gefunden, und leichten Herzens und Ranzens – in letzterem nur etwas Wäsche – machte ich mich eines schönen Morgens zu Fuße auf den Weg.

Es war ein herzerquickender Gang. Himmel und Erde funkelten im Glanz der Morgensonne, Lerchen tremulierten über grünen Saaten, und in der Ferne winkte die ahnungsvolle Herrlichkeit des blau aufsteigenden Gebirges. Ich aber schritt geflügelten Fußes voran, als würde ich von Adlersfittichen getragen. Dazu sang ich mit den Lerchen um die Wette, daß es weithin durch die Fluren schallte; aber nicht etwa ein sich geziemendes Morgenlied, wie zum Beispiel «Wach auf, mein Herz, und singe» oder «Die Sonn' hat sich mit ihrem Glanz» – ich kann dergleichen leider nicht berichten: vielmehr sang ich die trotzigen Verse des Goetheschen «Prometheus», die ich kurz zuvor – mich dünkt in Moritz' «Götterlehre» – mit Entzücken gelesen und teilweise im Kopfe behalten hatte. Die Melodien improvisierte ich nach Bedürfnis, und singend erschienen mir die gewaltigen Worte noch so viel prächtiger, daß ich nicht müde wurde, sie immer wieder von neuem abzusingen, wüßte auch kaum, daß Schönheit und Macht der deutschen Sprache mich jemals wieder so ergriffen hätten als in der Kraft und Freudenfülle jenes Morgens mit seiner Frühlingslust.

Als ich des Nachmittags bei guter Zeit in Ballenstedt einstürmte, tadelte Beckedorff mich meiner Kleidung wegen. Es war ihm ganz unfaßlich, wie man an den Hof kommen und nichts anderes mitbringen könne als ein Reiseröckchen von grünem Futterkattun und ein Paar Drellhosen. Unmöglich schien es ihm, daß ich mich in diesem Aufzuge vor dem Herzoge könne blicken lassen, der doch von meinem Kommen wisse und die Gnade gehabt habe, mich schon im voraus zur Abendtafel einzuladen.

Ich erfuhr nun, daß die Herzogin schon seit längerer Zeit verreist sei und der Prinz in ihrer Abwesenheit des Mittags zwar allein mit Beckedorff auf seinem Zimmer speise, wo allenfalls mein Anzug zu ertragen sei, des Abends aber in Gesellschaft seines erlauchten Herrn Vaters tafele. Unterdessen, fügte Beckedorff hinzu, könne ich das Vergnügen haben, an meinen eigenen Pfoten zu saugen, bis meine Kleider von Bernburg nachgekommen. Und doch hatte ich gerade diesen Anzug gewählt, weil er nagelneu war und ich mir ganz besonders wohl darin gefiel. Jetzt schien er mir plötzlich bettelhaft, ich schämte mich seiner und war sehr einverstanden, Sr. Durchlaucht damit aus dem Schuß zu bleiben.

Beckedorff tat nun die nötigen Schritte, mich wegen ungeeigneter Toilette zu entschuldigen; aber sehr unerwartet kam der höchste Befehl zurück: ich solle kommen, wie ich wäre.

«Ich tue es nicht», sagte ich, «ich will zurück nach Bernburg!» Aber Meister Beckedorff lachte mich aus. Er bewies mir, daß ich wollen müsse, und sehr contre cœur begleitete ich den Prinzen in den Speisesaal.

Obgleich ich nun ein trotziger Prometheus war und ein festes Herz zu haben glaubte, sollte ich es dennoch jetzt erfahren, wie sehr die Sicherheit unseres Benehmens von der Meinung abhängen kann, die andere Leute von unseren Hosen haben. Ich dachte, es müsse alles auf mich blicken, und kam mir unter den glänzenden Hofleuten, welche nach damaliger Sitte in Uniform erschienen, wie ein unreines Tier vor. Ich war verlegen und zugleich erbost und zischte meinem Bruder zu: wenn ich wieder nach Ballenstedt eingeladen würde, so wollte ich nur meine Kleider schicken, auf die es eigentlich doch nur abgesehen sei. Mein Bruder erwiderte, er zweifle allerdings nicht, daß, wenn der Herzog mich erblicke, sowohl er als die Prinzessin in Ohnmacht fallen würden.

Da flog die Flügeltüre auf, und herein schritt mit vortretendem Kammerherrn der alte Löwe des Landes, seine Prinzessin am Arm. Ihnen folgten einige Damen, und während alles sich verbeugte, zog ich mich in den Hintergrund. Aber Se. Durchlaucht geruhte, gerade auf mich loszusteuern, Beckedorff stieß mich, ich stand verblüfft, und der Herzog redete mich an. Ob ich zu Fuß gekommen, ward ich gefragt, und da dies richtig mit «Ja!» beantwortet, wie lange ich gereist sei.

Auch diese Frage wäre kaum über meine Kräfte gegangen, wenn die Hosen und das Sommerröckchen nicht gewesen wären, und ganz besonders, wenn mein ungezogener Bruder mir nicht hinter des Herzogs Rücken die lächerlichsten Fratzen zugeschnitten hätte. Wie lange ich «gereist» sei, hatte Se. Durchlaucht gefragt. Gereist! ich dachte, Reisen würde nach Tagen abgemessen und hatte die Antwort «Einen Tag» schon auf der Zunge, als mir noch rechtzeitig einfiel, daß ich ja nur einen Vormittag und einen halben Nachmittag gebraucht, was nach Adam Riese anderthalb macht.

«Anderthalb Tage!» war nun mein Wort.

«Da sind Sie wohl zur Nacht in Aschersleben geblieben?»

Indes hatte ich bereits erwogen, daß der Nachmittag, weil er doch angerissen, vielleicht für voll gerechnet werde, und verbesserte mich schnell, indem ich sagte, es wären eigentlich zwei Tage gewesen.

Mein Bruder wollte sich fast überschlagen; aber Serenissimus verzog keine Miene. Er veränderte nur die Fragestellung und wollte wissen, wann ich ausgegangen und wann ich angekommen wäre, was zu beantworten mir endlich wohl gelang.

Der Herzog tat darauf noch einige andere Fragen: wie es mir in Bernburg gefiele, welche Klassiker wir in Sekunda läsen und dergleichen mehr. Er war sehr gut und freundlich, und einigermaßen kalmiert, konnte ich mich endlich zu Tische setzen. Doch schämte ich mich gewaltig der Blödigkeit, die mich, den freien, fröhlichen Turner, befallen hatte, obgleich ich damit weder mir noch anderen Schaden zugefügt hatte, und am wenigsten dem Herzoge, der sich trefflich amüsiert haben mochte. Durch einen entgegengesetzten Fehler aber, nämlich durch dummdreisten Vorwitz, schädigte ich bald darauf den hohen Herrn selbst, und das ging mir lange nicht so nahe.

Beckedorff hatte mir wieder dasselbe Zimmer eingeräumt, das ich schon früher innegehabt. Hier hingen viele alte Familienbilder mit verwunderlichen Gesichtern und Trachten, unter denen mich ein Frauenbild besonders anzog, das sehr verräuchert und bestäubt war. Um deutlicher zu sehen, befeuchtete ich die dunkleren Stellen mit meinem Waschschwamm, und da bei dieser Gelegenheit viel Schmutz abkam, dachte ich ein gutes Werk zu tun, wenn ich das Bild recht gründlich reinigte. Ich löste es aus dem Rahmen, und wie ich den Vater hatte alte Bilder waschen sehen, so machte ich es nun auch – nur mit dem Unterschiede, daß ich, um schneller zum Ziele zu kommen, etwas Seife zu Hilfe nahm. Die schöne Dame verklärte sich zusehends, und, ein Liedchen pfeifend, wusch ich drauflos mit steigender Lust.

Da plötzlich! – ich werde nie den Schreck vergessen – verschwand der ganze Liebling, vielleicht eine Urgroßmutter des Herzogs, mir unter der Hand. Nur die helleren Stellen des Gesichtes waren noch einigermaßen kenntlich geblieben, sonst alles fort und nichts zu sehen als das nackte Gespinst einer bläulich-grauen Leinwand. Ich zerbrach mir den Kopf. Ganz unmöglich konnte sich die alte knochenharte Farbe so schnell gelöst haben. Dennoch schien das tintenhafte Wasser im Waschbecken gegen mich zu zeugen: ich mußte in der Tat die Urgroßmutter zu radikal behandelt haben.

Eine ähnliche Geschichte fand ich später in Goethes «Farbenlehre» von einem Frankfurter Maler, unter dessen Schwamm sich die schwarze Kleidung eines Geistlichen ebenso plötzlich in einen hellblauen Flausrock verwandelt hatte. Der Firnis hatte nämlich durch Anwendung der Seife Wasserteile in sich aufgenommen, war dadurch unklar geworden und lag nun wie ein undurchsichtiges Spinngewebe auf dem Bilde, das nichtsdestoweniger ganz unverletzt war. Derselbe Zufall war nun auch mir begegnet, ohne daß ich jedoch eine Erklärung dafür gefunden hätte; ich glaubte vielmehr, die schöne Ahnfrau ruiniert zu haben, und mit dem schlechtesten Gewissen von der Welt hing ich sie wieder an ihren Platz. Sollte die Sache entdeckt werden, so wollte ich bekennen und instruierte deshalb meinen Bruder; mich aber mit meiner Beichte aufzudrängen, hielt ich für Vorwitz. Zum Glück wurden jene Gemächer selten gebraucht und die darin placierten fürstlichen Porträts – obgleich zum Teil wertvolle Bilder – wenig geachtet, daher der Schade unbemerkt bleiben konnte, bis ich nach Verlauf von zwanzig Jahren zufällig dasselbe Zimmer wieder betrat. Mein erster Blick fiel auf das ruinierte Bild. Ich untersuchte es, bat es mir in meinen Gasthof aus und stellte es durch Entfernung des dumm gewordenen Firnisses vollkommen wieder her.

Doch ich kehre zu meinem damaligen Aufenthalt in Ballenstedt zurück, der mich auch, abgesehen von den Böcken, die ich schoß, nicht in dem Grade befriedigte wie frühere Besuche. Es hatte sich an dem kleinen Hofe mittlerweile viel verändert. Die Herzogin hatte keineswegs eine Vergnügungsreise angetreten, um demnächst wiederzukommen, wie ich anfänglich glaubte, sondern ernste Mißhelligkeiten zwischen ihr und ihrem Gemahl hatten sie veranlaßt, zu ihrem Vater zurückzugehen, und man sprach von Scheidung. Dieser Umstand gab dem Hofe etwas Verödetes. Namentlich vermißte mein Bruder die hohe Frau, die ihm Sorgsamkeit und Teilnahme bewiesen hatte, und klagte, es sei ledern geworden auf dem Schlosse. Überhaupt hatte er mir jetzt zum ersten Male zu klagen; er sprach von argen Übelständen, und wenn er hier bleiben müsse, meinte er, so würde nicht viel anderes aus ihm werden als ein Galgenstrick. Den sehr ehrenwerten Beckedorff traf kein Vorwurf. Ich konnte daher die Sache frei mit ihm besprechen, und da er die schnellste Abhilfe versprach, trat ich meinen Rückmarsch nach Bernburg beruhigt an.

Aber ich hatte nicht bloß mit Beckedorff gesprochen, sondern infolge eines den Eltern gegebenen Versprechens meine Wahrnehmungen auch nach Dresden berichtet und damit im Herzen der Mutter große Sorge wachgerufen. Sie machte sich von jeher Vorwürfe, ihre Einwilligung zu einer Hoferziehung meines Bruders gegeben zu haben, und jetzt malte sich ihre lebhafte Phantasie alle Nachteile und Versäumnisse aus, die möglicherweise daraus folgen könnten. War es doch vorzüglich die Persönlichkeit der Herzogin gewesen, durch welche sie sich hinsichtlich ihres weggegebenen Kindes einigermaßen beruhigt fühlte – und jetzt fehlte jedes mütterliche Auge.

Nach kurzer Zeit erschien mein Vater in Ballenstedt, um unter allerlei Vorwänden seinen Sohn zurückzunehmen. Es mochte ein schwer Stück Arbeit sein, diese Sache sowohl mit Beckedorff als ganz besonders mit dem Herzoge selbst friedlich zu erledigen; aber die liebenswürdige Persönlichkeit des Vaters besiegte jedes Hindernis. Zwar weigerte sich der Herzog, den kleinen Kavalier, auf den er ein Recht erlangt zu haben meinte, jetzt schon definitiv zu verabschieden, doch bewilligte er ihm einen unbestimmten Urlaub und erklärte, daß er ihn binnen heute und zweier Jahre zu jeder Stunde unter den alten Bedingungen wieder aufnehmen werde.

So kam mein Bruder nach Dresden zurück, wo er in die Kreuzschule eintrat und hier um so raschere Fortschritte machte, als er durch sein früheres Verhältnis zurückgehalten worden war; ich aber blieb noch in Bernburg, um erst Johanni nachzufolgen.


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