Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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Musikalische Leistungen

Marie hatte eine überaus herrliche Sopranstimme und sang mit größtem Beifall, namentlich ihres Vaters, der häusliche Musik sehr liebte; doch war es ihr beschwerlich, sich selber zu begleiten, ein Hindernis, an dem die Freude öfters scheiterte. Ich meinerseits hatte schon seit ein paar Jahren Klavierstunden gehabt, die auch in Bernburg weitergingen, nicht weil ich besondere Freude an der Musik gehabt hätte, am wenigsten an derjenigen, die ich selber machte, sondern weil die Eltern es so haben wollten. Jetzt kam ich auf den Gedanken, diese Stunden zur Einübung der Begleitungen für Mariens Gesänge auszubeuten, und das gab neuen Eifer. Mit einer solchen Sängerin zusammenzuwirken, war herzerhebend, schmeichelhaft und auch sehr dankbar, denn der Ätti hörte seine Tochter nun um so öfter singen. Marie sang mit Lust für ihren Vater, mit größerer Lust spielte ich für sie, und so kamen wir alle drei auf unsere Rechnung.

Je besser aber unsere Hauskonzerte jetzt von Tage zu Tage klangen und gelangen, je mehr auch wuchs mein Interesse für die Musik an sich, und es entstand zuzeiten ein immer wärmeres Verlangen nach selbständigerer Leistung. Nur das Klavier schien mir dazu nicht recht geschaffen. Wohl war es insoweit gar nicht übel, als es mich in zweckmäßigere Berührung mit Marien brachte, als jener ingeniöse Einfall mit dem Popanz dies vermocht hatte, außerdem aber, und für sich selber, langweilte mich der herzlos hämmernde Ton desselben um so mehr, als sich der Klang damaliger Instrumente zu den heutigen noch obendrein wie Kindertrommeln zu Kesselpauken verhielt. Welch eine andere Lust und welch himmlisches Vergnügen, dachte ich, müßte es sein, wenn diese Tasten sängen, etwa wie Mariens Stimme, oder wenn es auch nur wie Violinensaiten wäre. Mein Klavierlehrer, ein Herr Schmelzer, welcher Organist an der Ägidienkirche war, warf mir vor, daß ich zu wenig übe. «Ja!» seufzte ich, «wenn das Ding nur besser klänge, aber dieses Klimper-Klamper ennuyiert einen auf die Länge.» Da schlug der gute Mensch mir auf der Stelle Orgelstunden vor.

Wer war glücklicher als ich, als wir zuerst das Orgelchor erstiegen und Schmelzer mich vor allen Dingen in die Eingeweide des Rieseninstrumentes führte, mir dessen Mechanismus zu erklären. Da standen die Pfeifen wie Regimenter aufmarschiert, eiserne und hölzerne, dickleibige und schlanke, fingerlange Zwerge und haushohe Giganten in dichtgedrängten Reihen neben-, über- und untereinander – eine gewaltige Heerschar; und wenn sie alle auf einmal ihre Stimmen erheben wollten, sagte Schmelzer, so würden die Kirchenfenster platzen wie beim Kanonendonner.

Im Kommando dieser braven Schreier sollte ich nun geübt werden und widmete mich dem neuen Studium mit allem Eifer. Zwar verursachte mir die ungewohnte Handhabung oder vielmehr Fußhabung des Pedales anfänglich einige Wadenkrämpfe, die jedoch überwunden wurden, und schon nach Wochen munterte mich mein Lehrer auf, demnächst beim Ausgange des Gottesdienstes den Ausfeger zu spielen, indem er bemerkte, daß nur derjenige den rechten Vollgenuß an einer Kunst habe, der sich getraue, sie auch öffentlich auszuüben. Ein leichtes Stückchen ward zu diesem Zwecke bis zum Überdrusse eingeschult, so daß ich's mit geschlossenen Augen spielen und der Öffentlichkeit mit Zuversicht entgegensehen konnte.

Als die Zeit sich aber erfüllt hatte, als der Ätti amen sagte und der Schlußvers gesungen war, da war's anders. Eine widerwärtige Unsicherheit fuhr mir in die Eingeweide, und mühsam kroch ich auf die Orgelbank. Nun war auch der Segen gesprochen, der Ätti schwieg und – gleichermaßen schwieg die Orgel.

Da stieß mich Schmelzer an: «So treten Sie doch los!» und los trat ich. Ob es die rechten Tritte waren, und ob das Manual recht einfiel? – ich muß das ungesagt sein lassen; aber die Kirche leerte sich im Umsehen.

Während des Mittagessens äußerte der Ätti sein Befremden über jenen Exodus der Orgel. Schmelzer, sagte er, wähle zu gelehrte Musik, und solche Dissonanzen seien fast unerträglich. Da errötete ich aufs lieblichste und gestand, ich sei's gewesen.

«Nun», erwiderte der Ätti, «beruhige dich, mein Jüngelchen! kein Meister wird geboren, und immerhin hast du die Gemeinde schnell genug hinausgebracht.» Auch ließ ich mich durch dies Debüt von meiner Orgel nicht verscheuchen und rettete meine Ehre wenigstens insoweit, als ich in der Folge zu mehrerer Zufriedenheit des Ätti spielte.

Zwei Kanzeln

Ich will nicht leugnen, daß ich an protestantischen Gottesdiensten die meiste Zeit nur wenig Geschmack gefunden habe. Endlose Predigten und Lieder versetzten mich, gleich schlaflosen Nächten, leichtlich in Zustände peinlicher Ungeduld. In Bernburg ging es übrigens damit noch leidlich, obgleich die Kirche selbst, vom Fürsten Viktor Amadeus zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts neu erbaut, in Geschmacklosigkeit exzellierte und ein Wahrzeichen des frivolen Sinnes jener Zeit war. Nach reformierter Weise ohne Altar und jegliches geistliche Symbol, glich sie mit ihren doppelten Logenreihen und blaugesprenkeltem Anstrich etwa dem Redoutensaale eines mittleren Gasthofes, an den nicht viel gewendet worden. Das einzige Bildwerk, das sie aufzuweisen hatte, war ein kolossales Wappen, das nächst der herrschaftlichen Loge die ganze Altarwand bedeckte und von zwei hochaufgerichteten, riesenhaften Bären mit schwarzem Pelz und goldenen Kronen gehalten wurde, welche sich als die eigentlichen Gegenstände der Verehrung zu präsentieren schienen.

Als ich, später in Tirol reisend, von einem dortigen Bauern gefragt wurde, welches Tier ich anzubeten pflege – sein Pfaffe hatte ihm gesagt, der ganze Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten bestehe darin, daß erstere Gott anbeteten, letztere aber Tiere, die, je nach den Ortschaften, verschieden seien –, fiel mir allerdings die Bernburger Schloßkirche wieder ein. Diese hatte auch damals keinen Reiz für mich, und noch weniger die Lieder, die darin gesungen wurden, deren altklug aufgeklärte Prosa mich vielmehr ennuyierte; aber einmal dauerte der Gottesdienst nur halb so lange als in dem lutherischen Sachsen, und dann war der Prediger niemand anders als mein geliebter Ätti.

Dieser mochte damals in einem Übergang begriffen sein von subjektiver Herzensfrömmigkeit zu dem Glauben an das geoffenbarte Gotteswort, und demgemäß trug seine Predigt, wie sein ganzes Wesen, auch den doppelten Charakter der Frage und Antwort, des Suchens und Findens. Sowohl die Demut des einen als die Freudigkeit des andern sprachen sich in ihm und seiner Rede aus.

Rollers Predigt ruhte, ja bisweilen schlief sie auf dem objektiven Grunde einer fest und fertig kristallisierten kirchlichen Dogmatik, während Krummacher Entdeckungen machte und dann aufs tiefste ergriffen und mit hoher Begeisterung von demjenigen zeugte, was ihm persönlich klargeworden war. Geistlose Begeisterung freilich langweilt noch schmerzlicher als schläfrige Rede, wenn letztere nur einen tüchtigen Gegenstand hat; aber mein teurer Ätti war Dichter von Gottes Gnaden, er war ein genialer Mensch, hatte allezeit Salz bei sich, und seine Worte waren Kraft und Leben und durchglüht von einem Hauche jener lebendigen Liebe und herzlichen Teilnahme, die zu Herzen geht.

Dazu mußte man diesen Prediger ansehen. Er trug zwar keinen Chorrock aus dem sechzehnten Jahrhundert, wie die Lutheraner, sondern stand nach reformierter Weise nur im schwarzen Frack auf seiner Kanzel, mit jenem damals zur geistlichen Kleidung gehörigen seidenen Küstermäntelchen, das in leichten Falten vom Rücken niederfiel; doch sah er wie ein echter Kirchenmann aus, und der verklärte Ausdruck seines herrlichen Gesichtes predigte nicht minder als seine Worte. Ich wäre ihm gern bisweilen um den Hals gefallen, wenn er auf seiner hohen Kanzel zu erreichen gewesen wäre.

Als ich jedoch zu diesem Zwecke einmal, gleich nach der Kirche, auf sein Zimmer ging, fand ich ihn in augenscheinlicher Bewegung; es schien, als habe er geweint, vielleicht gebetet. Ich wollte mich zurückziehen, wie ich gekommen; allein er rief mich an, und da er hörte, was mich hergeführt, schloß er mich mit Herzlichkeit in seine Arme. In späteren Jahren hat er mir bekannt, wie ich ihm damals zum Trost gewesen sei, weil er die Kanzel in der mutlosesten Stimmung verlassen habe. Seine große Kirche war stets gedrängt voll Menschen, sie saßen Kopf an Kopf und hörten ihren Bischof mit Erbauung an, während dieser selbst sich doch anklagte, daß ihm alle Begabung fehle, die Wahrheit an den Mann zu bringen. Blöden Kandidaten pflegte er zwar zu sagen, sie sollten frisch das Maul auftun und denken, daß es lauter Kohlköpfe seien, die da unten säßen; er selbst aber war so weit davon entfernt, die Gemeinde für ein Kohlfeld zu halten, daß er sie ihres ungeschickten Predigers halber oft bitterlich beklagt hat.

So bescheiden war dieser Mann, daß er es selbst mir, dem unbärtigen Knaben, nicht verargte, wenn ich, an dieser oder jener Äußerung, die sich mit der mir anerzognen Ansicht nicht vertragen wollte, Anstoß nehmend, ihn befragte. Er ließ sich immer freundlich mit mir ein, berichtigte mich oder gab mir wohl auch recht. «Du hast den Buchstaben für dich», sagte er mir einmal, «und vielleicht fährst du damit am besten. Bleibe bei dem, wie du gelehrt bist!»

Im Grunde genommen störte es mich wenig, daß die Reformierten den Begriff der Sakramente anders faßten als wir Lutheraner; hatten sie doch die Sache, und schienen sie sich doch dem Tische des Herrn mit derselben Beugung und mit demselben Glauben an die genugtuende Kraft des Blutes Christi zu nahen wie auch wir. Wenn die Krummachersche Familie kommunizierte, schloß ich mich daher nicht aus, und weder ich noch andere sahen darin einen Abfall von meiner Kirche. Zwar gab es in Bernburg noch eine Anzahl Lutheraner, denen das heilige Abendmahl von Zeit zu Zeit in der kleinen, ihnen eingeräumten Kapelle des Gottesackers durch einen lutherischen Geistlichen verabreicht wurde, und dorthin wollte auch mich der Ätti anfangs weisen. Ich fühlte aber schon damals, daß Glaubensgemeinschaft bindender sei als eine bloß äußere kirchliche Zugehörigkeit, und der aufrichtige Herzensglaube meines hochverehrten Pflegevaters war mir erbaulicher als die orthodoxe Spendeformel, die in jener Kapelle wohl gesprochen, aber keineswegs geglaubt wurde. Auch kann ich in der Tat nicht sagen, daß ich damals an dem einfachen Tische der Reformierten durch die heilige Handlung weniger ergriffen worden wäre als an den heimischen Altären.

Inzwischen ließ ich mir an den Gottesdiensten der Ägidienkirche doch nicht so ganz genügen; ich suchte vielmehr bisweilen noch einen anderen Prediger auf, dessen Rede mir nicht weniger zu Herzen ging als die des Ättis. Dieser andere war Katholik, und seine Kanzel hing draußen an der Schloßmauer hoch über der schäumenden Saale wie ein Schwalbennest. Darin hockte die Gemeinde, aus mir allein bestehend, und zog sich den Prediger aus der Tasche.

Um die schönen Sommersonntage bestens auszunutzen, stand ich früher als gewöhnlich auf und ging noch vor dem Frühstück hinaus ins Freie, am liebsten in den nahgelegenen Schloßgarten, der, eingefriedigt von hohen krenelierten Mauern, mit seinen Orangenkübeln, Zwergbäumen und geschorenen Hecken den größten Reiz für mich hatte. Die Aussicht in die Ferne fiel natürlich weg; es war aber durch die alte Mauer ein Pförtchen gebrochen, das auf einen kleinen steinernen Altan führte, der außerhalb frei über dem Abhange des Felsens schwebte. Trat man hier hinaus, so tat sich ein weites, überraschend schönes Bild auf. Fast steilrecht blickte man hinunter auf die Saale, die, durch Wiesen, Büsche und Gehölze hingleitend, am Fuße des Schloßfelsens in ihrer ganzen Breite schäumend über ein Wehr stürzt und dann mit tanzender Welle zwischen die Alt- und Bergstadt Bernburgs einläuft. Die malerischen Häusergruppen der Stadt, ihre Türme, Gassen und Plätze liegen wie Spielzeug an den Ufern, und darüber hinaus erblickt man Rebenhügel und Felder, endlich, die Landschaft krönend, den fernen Brocken wie ein Dunstgewölk.

Die Entdeckung dieses Plätzchens achtete ich für einen Hauptgewinn meines Bernburger Lebens. Ich besuchte es fleißig und lauschte hier in verstohlener Einsamkeit der sanften Predigt des alten Mystikers, dessen Büchlein von der «Nachfolge Christi» mir Beckedorff geschenkt hatte und dessen Worte mein jugendliches Herz wie Äolsharfenklang berührten. Dann leuchtete der Morgen um mich her, so zauberhaft in Licht und Farben, es dampfte die Stadt und rauschte tief unter mir der Strom, und ich zerfloß in süßer Schwärmerei. Oh, es ist unbeschreiblich, welcher Entzückungen und Seligkeiten eine Knabenseele fähig ist, wenn sie den Staub der Schule abgeschüttelt!

Mein Christentum war freilich weit mehr Sache des kindischen Spielens und Genießens als einer ernsten Beugung unter die Zucht des göttlichen Wortes, und darüber hinaus kam ich zeit meiner ganzen Jugend nicht. Die Seele durchlebte paradiesische Feierzeiten, da der Bräutigam noch bei ihr war, daher sie aß und trank und jauchzte und es sich wohlsein ließ. Ich war gut unterrichtet, kannte sehr wohl die Glaubenssätze meiner Kirche und zweifelte nicht im geringsten an der Verderbtheit meiner Natur; aber ich ließ mir keine grauen Haare darum wachsen, weil ich die Macht des Bösen tatsächlich noch zu wenig an mir selbst erfahren hatte. Die Sünde schlief noch gutenteils in meinen Gliedern, und wo sie etwa erwacht, erkannte ich sie kaum, oder doch ihr Gift nicht. Ich glaubte ihrer mit Leichtigkeit Herr werden zu können, sobald es mir beliebte, und dem philosophischen Kaiser Mark Aurel konnte es kaum natürlicher erscheinen, ein guter Mensch zu sein, als mir. Ja, wenn ich an der Brustwehr des Altans lehnte, die Herrlichkeit der Schöpfung um mich her zum Tempel Gottes wurde und aus den milden Worten des alten Pater Thomas die Lockstimme des Erlösers an mein Herz schlug, so war ich fest entschlossen, ein Heiliger zu werden. Ich kannte weder die Festigkeit des Himmels noch meine Schwäche und wußte nicht, wie Hochmut, Selbstsucht und Sinnlichkeit mich an die Tiefe ketteten.

Gewöhnlich dauerten diese Wallungen auch nur so lange, als ich auf dem Altan weilte, die Saale brauste, die Stadt zu meinen Füßen im Morgenlichte dampfte und die Zauber einer uralten Mystik mich umspannten. Anders wieder war meine Stimmung, wenn das Leben mir wirkliche Gelegenheit zur Heiligung bot.


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