Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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Der Schreihals

Die große deutsche Reise ging denn also vor sich, und zwar in einem zweisitzigen, strohgelben Scheibenwagen, den mein Vater aus den Effekten eines abgehenden englischen Gesandten in Petersburg erstanden hatte. Das Reisepersonal bestand aus meinen Eltern, aus mir und meiner Wärterin, einem Harmschen Mädchen, das Leno hieß und auf dem Bock placiert war. Von dieser Reise habe ich natürlich keine Erinnerung mehr, doch mochte sie, wenigstens bis Berlin hin, nicht sehr angenehm gewesen sein, da Gasthäuser und Wege schlecht waren und die Gegend so reizlos, daß meine Mutter nicht begreifen konnte, warum die russischen Verbrecher nach Sibirien geschickt würden und nicht lieber hierher, da Preußen doch so nahe sei. Endlich mochte auch meine jugendliche Wenigkeit nicht allzuviel zu den Agrements der Reise beitragen, da ich viel schrie und weinte und die stete Aufmerksamkeit, die man mir schenken mußte, aller Unbequemlichkeit die Krone aufsetzte.

Wenn ich nicht irre, war's in Landsberg an der Warthe, wo wir eines Abends in ziemlich desolater Verfassung anlangten. Ein böses Wetter tobte auf den öden Fluren, mein Vater war des Fahrens satt, die zarte Mutter sehr erschöpft, Leno in Gefahr, vor Schläfrigkeit vom Bock zu fallen, und ich mußte, trotz meiner Bernsteinpfeife, wohl Zahnweh haben, denn ich heulte wie ein Schakal und wollte mich nicht trösten lassen.

Es schien daher sehr wünschenswert, die Nacht über hier zu rasten, und der Postmeister ward um ein ruhiges Zimmer angegangen. Der aber erklärte bedauernd, daß die einzigen disponiblen Piecen soeben von einem fremden Herrn bezogen seien, sich auch im Orte kein Gasthaus fände, was den bescheidensten Wünschen Genüge leisten könne.

Darüber ward nun hin und her geredet, und meine Mutter war schon halb entschlossen, sich notdürftig im Passagierzimmer einzurichten, als jener Reisende, zufällig unterrichtet, sich persönlich einfand, um auf die zuvorkommendste Weise seine Zimmer anzubieten. Er habe durchaus keine Bedürfnisse, versicherte er, und sei mit jedem Stuhl zufrieden.

Während solcher Rede war meine Mutter aufmerksam geworden, und noch hatte der Fremde nicht geendet, als sie ihm, zum Schrecken meines Vaters, mit dem Ausruf: «Heinrich!» um den Hals flog. Hatte sie doch plötzlich ihren zärtlich geliebten jüngeren Bruder erkannt, der im Auslande seine Studien absolviert hatte, dann längere Zeit gereist war und nun nach langjähriger Abwesenheit ins Vaterland zurückging.

An Schlaf und Ruhe war nun nicht zu denken; aber man bedurfte ihrer auch nicht mehr, da die Freude des Wiedersehens ausreichende Erquickung gab. Man blieb die ganze Nacht im lebhaften Gespräch beisammen, währenddessen mein Vater ein ähnliches, noch in meinem Besitz befindliches Porträt von jenem liebenswürdigen Schwager zustande brachte, den er hier zum ersten und zum letzten Male in seinem Leben sah.

«Wäre Heinrich weniger ritterlich gewesen», schrieb meine Mutter nach Hause, «so wären wir uns vorbeigereist, obgleich wir unter einem und demselben Dache waren.»

Mir freilich wäre das damals gleich gewesen und Leno vielleicht auch, denn wir beide hatten nichts von dieser Begegnung. Ich war unter dem Gesange des treuen Mädchens bald entschlummert, und da die sehr Ermüdete der Natur nun gleichfalls ihren Zoll entrichtete, konnte es geschehen, daß ich gegen Morgen mit schrecklichem Gepolter aus dem Bette fiel. Da war der Teufel wieder los. Ich schrie wie am Spieße, ward auch schreiend in den Wagen getragen und schrie den ganzen folgenden Tag bis nach Berlin, wo uns der später als politischer Schriftsteller so bekannt gewordene und meinem Vater sehr befreundete Friedrich Gentz in seinem Hause gastlich aufnahm. Daß ich ihm ein sehr erwünschter Zuwachs seiner häuslichen Freuden gewesen, muß ich bezweifeln, denn trotz der Ruhe und sorgsamsten Pflege, die man mir angedeihen ließ, schrie ich doch ohne Unterbrechung, daß die Fenster klirrten. Die sehr besorgten Eltern konnten kaum anders denken, als daß ich mir ein Glied zerbrochen hätte, aber der herbeigerufene Hufeland erklärte tröstend, daß dies Schreien nicht vom Fall herrühre, sondern nur vom Zahnen: ein Ausspruch, der sich bald bewahrheitete, da schon andern Tags drei Zähne dicht hintereinander hervorbrachen. Damit hatte denn der Greuel ein Ende, und die Reise konnte fortgesetzt werden.

Die Königspfalz

Wir langten endlich alle wohlbehalten zu Rhense am Rhein bei der Mutter meines Vaters, in der alten Wackelburg an. So nannte man im Volke mein großelterliches Haus, in dessen Mauern vorzeiten deutsche Könige residiert haben sollen und auf dessen Territorium auch noch heute der bekannte Königsstuhl steht. Als ich den Rhein sah, entzückte mich der große Strom dermaßen, daß ich, während die andern sich umarmten, mit ausgebreiteten Armen geradeswegs hineinlief. Die gute Leno aber sprang mir nach bis an den Gürtel und rettete mich mit eigener Gefahr.

Sonst weiß ich herzlich wenig von jener Zeit. Die Großmutter besaß Weinberge, Gärten, Feld und Wald. Da ward herumgezogen mit Geschwistern und Verwandten meines Vaters, gegessen und getrunken, gesungen und geklungen. Man machte Rheinpartien und dehnte solche Exkursionen, um alte Freunde zu besuchen, bis Mainz und Köln aus. Außerdem kopierte mein Vater für sich eine Sammlung von etwa zwanzig alten Familienbildern, die sich im Saal der Wackelburg noch fanden, und meine Mutter widmete sich mit demütig kindlicher Unterordnung der Unterhaltung und Pflege ihrer geliebten alten Schwiegermutter.

Etwa dreiviertel Jahre mochte man auf diese Weise in Rhense verlebt haben, als meine Großmutter auf den Tod erkrankte. Sie war bis dahin immer kerngesund gewesen, und meine Mutter bewunderte die Stille und Ergebung, mit denen sie jetzt dem Tode ins Auge sah. Da sie so schwach und sterbend war, brachte ich ihr Schneeglöcklein auf ihr Bett. Sie reichte mir die Hand und sagte: «Gelt, Wilhelm, im Himmel sehen wir uns wieder?» Da schlug ich unbedenklich ein und sagte: «Ja, Großmama!» Ich hoffe auch, daß mein Erlöser sein Fiat unter diesen Kontrakt gesetzt habe.

Nachdem die Lebenskraft der Sterbenden erloschen, schien sie sanft einschlafen zu wollen. Da schrie der Priester, der nach katholischem Ritus die Sterbegebete verrichtete, ihr zu wiederholten Malen und mit gellender Stimme in die Ohren: «Verstehen Sie mich auch noch, Frau Kammerrätin?» wodurch sie wieder aufgeschreckt und, unfähig zu leben und zu sterben, in so peinliche Unruhe geriet, daß ihr Todeskampf um ganze vierundzwanzig Stunden verlängert schien. An dem Eindrucke dieser bornierten Barbarei hatte meine Mutter ihr lebelang zu tragen, und oft pflegte sie zu sagen, wie man bei Sterbenden sich jedes Geräusches, selbst des lauten Weinens, zu enthalten habe, und wie grausam es sei, den Tod zu stören.

Mein Vater war damals nicht gegenwärtig. Er hatte einen Abstecher nach Paris gemacht, um die von Napoleon zusammengeraubten Kunstschätze in Augenschein zu nehmen, als die Nachricht von dem bedenklichen Erkranken seiner Mutter ihn zurückrief. Bei seiner Ankunft fand er sie tot, und da ihm ohnedies sein Vaterland durch die Franzosenwirtschaft und mehr noch durch die französischen Sympathien seiner Landsleute verleidet war, entschloß er sich, für die noch übrige Zeit seines deutschen Aufenthaltes nach Dresden zu gehen, dessen Kunstschätze ihn anzogen.

Er ordnete noch mit den Geschwistern den Nachlaß der Mutter und machte sich dann mit den Seinigen davon. Man weilte längere Zeit in Schlangenbad, das meiner Mutter gut tat, und auch in Weimar, wo interessante Bekanntschaften angeknüpft wurden. Von alledem weiß ich nichts mehr, erinnere mich aber einer Zeit, da ich von dem Totaleindrucke, den jene Reise auf mich machte, namentlich von dem dumpfen Dröhnen des verschlossenen Wagens, noch Bewußtsein hatte, sowie mir auch ein schwaches, aber sehr liebliches Bild von der seligen Großmutter geblieben war, das sich später verwischt hat.


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