Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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Der Schloßboden

Herr von Schönberg galt für einen Mann von gutem Humor. So komisch sei Papa, hatte die kleine Auguste meiner Schwester vertraut, daß es ganz einerlei sei, was er sage, und wenn er auch nur nach dem Salzfasse verlange, ausplatzen müsse man. Ich fand dies auch bestätigt: der liebenswürdige Herr war während des Abendessens so wohl aufgelegt, daß ich vor Lachen kaum schlucken konnte und mich in der sorglosesten Stimmung befand – als ein einziges Wort der Hausfrau mich plötzlich aus allen Himmeln warf.

Frau von Schönberg fragte mich nämlich, ob ich mich auch fürchte, allein auf dem Boden zu schlafen; sonst möchte ich's sagen, und es würde anderer Rat zu schaffen sein.

Ich? und allein auf dem Boden dieses großen alten Schlosses? – Alle Leichen, Gespenster und Schrecknisse des Domes fielen mir plötzlich wieder auf die Seele, und ich fürchtete mich entsetzlich. Aber wer wird so etwas sagen?

«Ich fürchte mich niemals», log ich tapfer, trotz meiner gerühmten Ehrlichkeit, sagte gute Nacht und folgte schaudernd dem Bedienten, der mich hinaufgeleitete.

Der Schloßboden, den wir weithin durchschritten, war allerdings der richtige Ort für jedes denkbare Entsetzen. Er erschien mir als ein großer schwarzer Raum ohne Anfang und Ende; nur hin und wieder streifte der Schein der Laterne die Balken des Dachstuhls und das schräg auslaufende Gemäuer eines kolossalen Schornsteins. Und wohin ging denn endlich meine Reise? Ich hoffte allerdings nicht, in dieser unheimlichen Grenzenlosigkeit verbleiben zu müssen, hatte aber von der Kammer, in die man mich etwa führen würde, auch nicht gerade die glänzendste Erwartung. Da öffnete mein Begleiter eine Türe, und ich ward sehr angenehm durch ein allerliebstes, sauber möbliertes Zimmer überrascht, dessen freundliche Tapete beim Schein der beiden Kerzen, die jener anzündete, hell aufleuchtete. Mit einer weniger als die meinige durch Chroniken und Bischofsgrüfte erfüllten Phantasie hätte es einem hier ganz behaglich werden können.

Inzwischen waren da ein paar verwünschte Seitentüren. Ich untersuchte sie und fand, daß sie zwar einzuklinken, aber nicht zu verschließen waren.

«Wer schläft denn dort? » fragte ich, in der Hoffnung, der Diener werde dies von sich selber oder einem seiner Mitknechte bekennen. Schon eine Magd wäre mir zum Trost gewesen. Aber jener erwiderte lakonisch: «Leere Bodenkammern! » und es wollte mich bedünken, als wenn er unheimlich dazu gelächelt habe.

Der scheint mehr zu wissen, dachte ich, als wünschenswert ist, und sagte: «So wird einen hier wohl niemand stören!»

«Niemand, es ist keiner auf dem ganzen Boden als der junge Herr.» Damit zog der gefühllose Mensch mir die Stiefeln aus, und ich entließ dies letzte lebendige Wesen mit schwerem Herzen, um mit meinen Einbildungen, vielleicht mit Schlimmerem, allein zu bleiben.

In der Tat befand ich mich in einer Lage, die nur ganz phantasielosen Knaben gleichgültig sein konnte; aber die Notwendigkeit ist die beste Gouvernante. Ich faßte mich, so gut es gehen wollte, betete den Paul Gerhardtschen Vers: «Unverzagt und ohne Grauen», löschte mein Licht aus und kroch ins Bett. Dann suchte ich mir die angenehmsten Dinge vorzumalen, ich dachte an meine Tabakspfeife und an Rollers Schmerlbach und war bereits dem Einschlafen ganz nahe – als sich etwas ereignete, was mir urplötzlich mein volles Bewußtsein zurückgab. Es war mir nämlich, als hörte ich Atemzüge, wie von einem zweiten Schläfer.

Befremdet fuhr ich auf und horchte: – es ward laut geatmet.

«Ist jemand hier?» rief ich mit meiner übergeschnappten Stimme. Da war's ganz stille.

Vielleicht hatte ich mich doch betrogen, wie bei den Gesichtstäuschungen meiner Kindheit. Ich entsann mich aber, daß damals alles verschwunden war, wenn ich die Augenlider schloß. Ähnlich konnte es ja auch mit dem Gehöre sein, und da ich leider keine Ohrenlider hatte, so mußte das Kopfkissen als ein solches dienen. Ich kroch darunter und zog die Decke über alles. So lag ich eine Weile und dünkte mich gesichert, wie der Vogel Strauß, wenn er seinen Dummkopf in den Sand steckt.

Aber dennoch! war's da nicht wieder? Ja, wahrhaftig! – Durch Decken und Kissen atmete es hindurch, und immer deutlicher und kräftiger, so etwa, als wenn einer zwar tonlos, aber recht aus tiefer Brust geseufzt hätte.

Ich streckte den Kopf wieder vor. Wach war ich ganz vollständig und konnte nicht an Täuschung denken; ich dachte aber auch nicht mehr an Spuk. Es drängte sich mir vielmehr in diesem Augenblicke eine natürliche Erklärung auf. Hatte doch der Diener bei Erwähnung der Seitentüren nichts weniger als unverdächtig ausgesehen, und war es daher nicht sehr wohl anzunehmen, daß nebenan eine scheintote Leiche liege? und daß diese, im Begriff, sich zu ermuntern, schwer mit dem Atem ringe?

Ich mußte mir dies zugeben, wie auch die weitere Konsequenz, daß nämlich besagte Leiche jeden Augenblick ins Zimmer treten und sich in ihrem halbtoten Zustande zu mir ins warme Bett legen könne. Mit solchen Aussichten aber liegenzubleiben und einzuschlafen, war ganz unmöglich. Ich schleuderte alles ab, was auf mir lag, sprang aus dem Bett und fuhr in meine Kleider, in die Strümpfe nämlich, denn alles übrige hatte der Bediente mitgenommen, und so gerüstet, tappte ich nach der Türe und trat hinaus in die absolute Finsternis des Bodens.

Glücklicherweise fehlte mir der Ortssinn nicht. Ich wußte, wo ich hergekommen war, und mit Händen und Füßen vor mich fühlend, erreichte ich die Treppe, aus welcher mich eine tröstliche bewohnte Luft anhauchte. Jetzt war mein Plan gemacht: ich wollte hinab in den Hausflur steigen und mich bis zum Tagesanbruch im Domestikenzimmer verhalten, das ich leer glaubte, dann aber unbemerkt in meine Mansarde zurückgehen. Als ich jedoch die Tür öffnete, schimmerte mir Licht entgegen, und umgeben von geputztem und ungeputztem Schuh- und Stiefelwerk, den Kopf auf den Tisch gelegt und schlafend, fand ich den Mann, der mich so furchtlos zu Bett gebracht, und fast hätte ich's bereut, ihn angerufen zu haben, also erschrak er. Da ich ihm nun die Erlebnisse des Bodens mitgeteilt und den Entschluß zu erkennen gegeben hatte, hier unten zu verbleiben, war er zwar nicht ohne Teilnahme, wußte mich aber doch zu überreden, daß es namentlich wegen des Aufsehens vernünftiger sein würde, wieder hinauszugehen. Er wolle mich begleiten, sagte er, und bei mir bleiben, bis ich mich überzeuge, daß es der Wind sei, der etwa in Schornsteinen oder Dachschiefern röchle, oder irgend etwas anderes. Jawohl, was anderes! – Das dachte ich eben auch.

Daß mein Tröster mit mir ging, war noch das beste. Wir durchstöberten furchtlos die Seitenkammern und alle Umgebungen des Zimmers. Dann setzten wir uns nebeneinander hin und horchten – ich in großer Spannung, jener abgespannt und unschlüssig, wie lange er eigentlich zu bleiben habe. Er war entsetzlich schläfrig. Um ihn festzuhalten, befleißigte ich mich der anziehendsten Unterhaltung, ähnlich wie jenes Mädchen in «Tausendundeiner Nacht», das dem mörderischen Sultan endlose Geschichten erzählte, um ihre Hinrichtung zu verzögern. Dennoch aber rieb er sich die Augen, gähnte und erhob sich endlich. Ich sei ja nun beruhigt, sagte er, und würde mich nicht mehr fürchten. Das war freilich keine ganz richtige Voraussetzung; doch schämte ich mich, den armen Kerl länger zu belästigen. Er zündete sein Laternchen an, wünschte mir abermals gute Nacht und wandte sich, die Türklinke zu erfassen – da! –

Da strich noch rechtzeitig und sehr vernehmlich wieder einer jener geisterhaften Seufzer durchs Zimmer hin. Der abgehende Bursche stutzte. «Meiner Sixen!» sagte er, «es ist an dem!» Beide lauschten wir in atemloser Stille den schauerlichen Tönen.

In Gesellschaft ist so etwas erträglicher, man ist vernünftiger und geneigter zu besonnener Forschung. Das Atmen schien vom Fenster herzukommen, und als wir dieses geräuschlos geöffnet hatten, hörten wir es deutlicher.

Es war schon tröstlich, daß es draußen war, und da mein Beschützer jetzt nach einigem Besinnen den Grund erriet, schwand jegliche Besorgnis. «Davor können Sie ruhig schlafen», sagte er, «das sind die alten Eulen in den Dachluken, die blasen so!»

Ich blieb nun gern allein und horchte nicht allein in dieser, sondern auch in mancher anderen Nacht dem sonderbaren Schnaufen mit Befriedigung: rührte es doch von lebendigen Wesen her, die in meiner Nähe wachten. Meine nächtliche Flucht blieb übrigens verschwiegen, so daß sich wenigstens keine Schmach zur ausgestandenen Angst gesellte.

Der erste Roman

Meine arme Mutter war in jener denkwürdigen Nacht noch schlimmer dran gewesen. Zwar hatte sie keine Eulen gehabt, wohl aber Schmerzen; sie war an einem Herzübel erkrankt, von dem sie ab und zu ohne merkliche Veranlassung belästigt und umgeworfen wurde. Ans Weiterreisen war jetzt nicht zu denken, und unsere Wirte hätten Gelegenheit gehabt, ihre eigenmächtige Gastfreundschaft zu bereuen, wenn sie nicht die Menschenfreundlichkeit selbst gewesen wären.

Was mich anbelangt, so war ich mit dem verlängerten Aufenthalte wohl zufrieden, denn von Tag zu Tag gefiel es mir besser in Merseburg, und daß ich viel allein war, kränkte mich am wenigsten. Genoß ich doch zum ersten Male in meinem Leben die Süßigkeiten eines eigenen Zimmers, das mir, seitdem ich mich mit den Gespenstern abgefunden, immer heimischer und lieber wurde. Sagt doch das Sprichwort, eigener Herd sei Goldes wert; aber auch schon ein eigenes Zimmer ist was Großes, eine Welt, in welcher auch ein Knabe König sein und herrschen kann. Die Untertanen sind Träume und Gedanken von großer Schönheit, wenn man jung ist; ungehindert heißt man sie gehen und kommen, gestaltet und wandelt sie ganz nach Belieben; und überdem, so stört man niemand, wenn man sich ein Liedchen dazu pfeift, und macht man sich's bequem, etwa die Beine auf den Tisch gelegt, so darf es einem keiner verweisen.

In solcher überaus günstigen Lokalität saß ich nun stundenlang mit einem Büchlein, das die sorgliche Dame des Hauses mir gegen die Langeweile verordnet und verehrt hatte, indem sie es zugleich, um ihm mehr Wert zu geben, als eine Lieblingslektüre ihres Mannes bezeichnete. So brauchte ich mich seiner denn auch nicht zu schämen, obgleich es eigentlich ein Kinderschriftchen war. Es führte, wenn ich mich recht erinnere, den Titel: «Geschichte der heiligen Genoveva, für die Jugend bearbeitet von dem Verfasser der ‹Ostereier›», und war meines Wissens der erste Roman, den ich zu lesen kriegte.

Romane werden für nachteilig gehalten, weil sie die Phantasie erhitzen, in welcher Beziehung selbst zwischen guten und schlechten ein Unterschied nicht stattfindet, und auch der meinige, ein recht guter, trug in der Einsamkeit des eigenen Zimmers dieselbe Frucht. Die mich umgebende Wirklichkeit nahm ein romantisches Gewand an, indem ich unwillkürlich die Züge des Gelesenen in sie hineintrug. Das alte Schloß, in welchem ich herbergte, wurde mir zur Burg von Simmern, Frau von Schönberg zur Gräfin Siegfried und die kleine Auguste mit ihren langen Goldlocken und feinen, geistvollen Gesichtszügen zur kleinen, von frommen Eltern in gottesfürchtiger Häuslichkeit erzogenen Genoveva. Umgeben von dem Strahlenkranz der letzteren, stahl sich das allerliebste Mädchen mir ins Herz, und willig hätte ich Taten getan und Blut verspritzt, wenn ich das liebliche Kind dadurch vor allen Golos, Felsenlöchern und Hirschkühen hätte schützen können, die möglicherweise ihrer Zukunft drohten. Das war aber keineswegs der ganze Vorteil, den ich aus meiner Lektüre und gehobenen Stimmung zog.

Ich würde mir unrecht tun, wollt' ich behaupten, daß ich meine Zeit nur mit Zimmerhocken zugebracht hätte. Ich trieb mich vielmehr sehr umher, allein und mit den Mädchen, und alles, was ich sah, gefiel mir. Zwar glaube ich kaum, daß Merseburg mit seinen nächsten, überaus nüchternen Umgebungen damals für gewöhnliche Reisende viel Anziehendes haben konnte; ich aber sah es im Zauberlichte der Romantik, und das war der wesentlichste Vorteil, den ich von meinem Romane hatte. Das alte Schloß zwar und die Kirche hatten jedenfalls Interesse für jedermann, aber die kahlen Weidenufer der Saale, welche zur Sommerszeit hier nur ein Bach ist, die kleine, baufällige Brücke, über die wir täglich spazierten, die öde Windmühle und der Galgenberg, von welchen Höhen aus die spitzgetürmte Stadt betrachtet wurde, das alles und mehr dergleichen mochte an sich selber gleichgültig genug sein; für mich aber bildeten alle diese Punkte die Szenerie zu dem schwärmerischen Aufschwung, den ich genommen, und dem damit verbundenen Gefühle eines ungewöhnlichen inneren Wohlseins.

Ich hatte bis jetzt, und keineswegs als Blinder, in einem der schönsten Teile des Elbtales gelebt und mich doch nie versucht gefühlt, nach der Natur zu zeichnen, weil ich dachte, ich hätte dazu keine Fähigkeit; jetzt aber, begeistert von Merseburgs Gänseweiden, sollte ich erkennen, daß der Mensch bei weitem mehr zu leisten vermag, als er gewöhnlich denkt, sobald ihm nur die rechte Lust ankommt. Die Lust ist das Talent.

In dieser Beziehung erzählte mir Roller einst die folgende Episode aus seinem Leben. Bis in sein fünfundzwanzigstes Jahr hatte er nie «gemalt», wie er sich ausdrückte, weil er dachte, er könne es nicht. Da schenkte ihm jemand ganz zufällig einen Rotstift, um Korrekturen anzustreichen. Roller hatte noch niemals einen Rotstift besessen; er war neugierig auf seine Wirkung und konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihn noch vor Schlafengehen mit einem scharfen Messer anzuschneiden und zu probieren.

Lichtenberg hat gesagt, es mache jedermann Vergnügen, Stanniol mit der Schere zu schneiden. Es ist der weiche Schnitt, der so vergnügt; aber ebenso vergnügt auch der fette Strich des bunten Rötels. Dies war es auch, was Roller reizte, und da es gerade nichts zu korrigieren gab, so zog er ziemlich gedankenlos die Umrisse einer Aurikel nach, die vor ihm im Wasserglase blühte. Es war ihm anfänglich nur um die Lust des fetten Striches zu tun; bald aber wurde er warm bei seiner Arbeit, denn zu seiner eigenen Überraschung wollte das Bild fast ähnlich werden, und mit steigendem Eifer schraffierte er drauflos, bis die Aurikel samt dem Glase wie ein Wunder auf dem umgedrehten Briefkuvert stand, das er dazu benutzt hatte.

In der glücklichsten Stimmung schickte sich Roller nun zum Schlafengehen an, aber ehe er das Licht löschte, trieb es ihn noch einmal aus der Kammer, und noch einmal würdigte er die Zeichnung seines ungeteilten Beifalls.

Am anderen Morgen, als er aus dem Bette fuhr, war die Aurikel sein erster Griff, und so gelungen fand er sie, daß, wenn er nicht sein eigener Zeuge gewesen wäre – einem anderen würde er's gar nicht geglaubt haben, daß er das selbst gemacht hätte. «Von da an konnte ich malen», sagte mein alter Freund.

Ähnliche Überraschungen erlebte ich nun auch an mir. Wie jenen das Handwerkszeug, so hatte mich das Objekt gereizt; ich wagte mich dran und übertraf meine Erwartungen. Das erste war die Saalbrücke, die schon mit einigen Strichen dastand, weil die gefällige Phantasie alle Auslassungen supplierte. Ich zeichnete nun viel im Freien, und wenn ich dann, in meine Bodenkammer zurückgekehrt, die Mappe aufschlug, glaubte ich die Sachen selbst zu sehen, die Brücke, das Schloß, die Mühle, den alten Turm im Garten und anderes. Es war eine glückselige Zeit, da mir das alles gelang und ich nicht müde wurde, meine eigenen Aurikeln zu betrachten. Kleinmut und Mißlingen lernte ich erst später kennen, denn Anfänger bedürfen des Mutes, um fortzuschreiten, und Fortgeschrittene der Demut, um nicht zurückzugehen.


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