Pjotr Alexejewitsch Kropotkin
Die Große Französische Revolution 1789-1793 – Band I
Pjotr Alexejewitsch Kropotkin

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32. Der 20. Juni 1792

Man sieht aus dem, was gesagt worden ist, in welcher traurigen Verfassung die Revolution in den ersten Monaten des Jahres 1792 war. Konnten sich die bürgerlichen Revolutionäre befriedigt fühlen, daß sie einen Teil der Regierung erobert und die Grundlagen zu den Vermögen gelegt hatten, die sie mit Hilfe des Staates erwerben sollten, so mußte das Volk sehen, daß noch nichts für es getan worden war. Das Feudalwesen blieb bestehen, und die Masse der Proletarier in den Städten hatte nicht viel gewonnen. Die Kaufleute, die Wucherer kamen mit Hilfe der Assignaten, durch den Verkauf der geistlichen Güter, durch die Gemeindeländereien, als Lieferanten des Staates und als Börsenspekulanten zu kolossalen Vermögen; aber der Preis des Brotes stieg trotz einer guten Ernte unausgesetzt, und das Elend hatte sich in den Arbeitervierteln dauernd niedergelassen.

Inzwischen hatte die Aristokratie ihren Mut wiedergefunden. Die Adligen und Reichen hoben den Kopf wieder in die Höhe und prahlten, sie wollten mit den Sansculotten bald fertig sein. Von Tag zu Tag erwarteten sie die Nachricht von einer deutschen Invasion, die im Triumph auf Paris ziehen und das alte Regime in all seinem Glanze wiederherstellen sollte. In den Provinzen organisierte, wie wir gesehen haben, die Reaktion ihre Parteigänger mit Wissen und vor den Augen aller Welt.

Die Verfassung, die die Bürger und selbst die revolutionären Intellektuellen aus dem Bürgertum um jeden Preis erhalten wollten, existierte nur für die Maßnahmen von minderer Bedeutung, während die ernsthaften Reformen betrüblich auf sich warten ließen. Die Gewalt des Königs war beschränkt worden, aber in sehr bescheidener Weise. Bei den Gewalten, die die Verfassung ihm ließ (die Zivilliste, das Kommando über die Armee, die Wahl der Minister, das Veto usw.), und insbesondere bei der inneren Organisation Frankreichs, die alles in den Händen der Reichen ließ, hatte das Volk keine Macht.

Niemand wird ohne Zweifel die Gesetzgebende Versammlung im Verdacht des Radikalismus haben, und es ist sicher, daß ihre Dekrete über die Feudalabgaben oder die Priester den Geist einer gut bürgerlichen Mäßigung atmen; und trotzdem verweigerte der König selbst diesen Dekreten seine Unterschrift. Alle fühlten, daß man von der Hand in den Mund lebte, unter einem System, das keine Festigkeit hatte und leicht zugunsten des alten Regime umgestürzt werden konnte.

Unterdessen dehnte sich das Komplott, das in den Tuilerien angezettelt wurde, jeden Tag weiter über Frankreich aus und erstreckte sich bis zu den Höfen von Berlin, Wien, Stockholm, Turin, Madrid und Petersburg. Die Stunde war nahe, zu der die Gegenrevolutionäre den großen Schlag führen wollten, den sie für den Sommer 1792 vorbereiteten. Der König und die Königin drängten die deutschen Armeen, auf Paris zu marschieren; sie bezeichneten ihnen schon den Tag, an dem sie in die Hauptstadt einziehen sollten und an dem sie die bewaffneten und organisierten Royalisten mit offenen Armen empfangen würden.

Das Volk und diejenigen unter den Revolutionären, die sich wie Marat und die Cordeliers zum Volk hielten, die die Kommune vom 10. August machten, begriffen die Gefahren, von denen die Revolution umringt war, völlig. Das Volk hat immer ein richtiges Gefühl von der Lage, selbst wenn es dieses Gefühl nicht korrekt ausdrücken und seine Befürchtungen nicht mit gebildeten Gründen motivieren kann; und es erriet unendlich viel besser als die Politiker die Komplotte, die in den Tuilerien und in den Schlössern gesponnen wurden. Aber es war ohne Waffen, während das Bürgertum sich in den Bataillonen der Nationalgarde organisiert hatte; und noch schlimmer war, daß die Intellektuellen, die die Revolution in den Vordergrund gebracht hatte, die sich zu Wortführern der Revolution aufgeworfen hatten – ehrliche Männer wie Robespierre eingeschlossen –, nicht das nötige Vertrauen in die Revolution hatten, und noch weniger ins Volk. Wie die parlamentarischen Radikalen unserer Zeit, hatten sie Furcht vor dem großen Unbekannten, vor dem Volk, das auf die Straße stieg, das sich zum Herrn der Ereignisse hätte machen können, und da sie es nicht wagten, sich diese Furcht vor der gleichheitlichen Revolution einzugestehen, erklärten sie ihre unentschlossene Haltung mit der Sorge, wenigstens die paar Freiheiten, die man durch die Verfassung erlangt hatte, erhalten zu wollen. Dem Wagnis eines neuen Aufstandes zogen sie die konstitutionelle Monarchie vor.

Es bedurfte der Kriegserklärung (21. April 1792) und der deutschen Invasion, um die Situation zu ändern. Jetzt ging das Volk, das sich von allen Seiten, selbst von den Führern, denen es sein Vertrauen geschenkt hatte, verraten sah, ans selbständige Handeln, um einen Druck auf die ›Parteiführer‹ auszuüben. Paris rüstete zu einer Erhebung, die das Volk in die Lage bringen sollte, den König abzusetzen. Die Sektionen, die Volksgesellschaften und die Fraternelles, die Unbekannten, die Menge, die von den glühendsten Cordeliers unterstützt wurden, machten sich an diese Arbeit. Die feurigsten und einsichtigsten Patrioten, sagt Chaumette in seinen Mémoires (S. 13), begaben sich in den Klub der Cordeliers und blieben ganze Nächte beisammen, um sich zu beraten. Es gab unter andern ein Komitee, in dem man eine rote Fahne mit der Inschrift herstellte: Kriegsrecht des Volkes gegen die Empörung des Hofes. Unter diesem Banner sollten sich die Freien, die wahren Republikaner zusammenscharen, die einen Freund, einen Sohn, einen Angehörigen zu rächen hatten, der am 17. Juli 1791 auf dem Marsfeld getötet worden war. Die Historiker, die damit ihrer staatlichen Erziehung einen Tribut leisteten, haben den Jakobinerklub als Anstifter und Haupt aller revolutionären Bewegungen in Paris und den Provinzen hingestellt, und zwei Generationen lang haben wir das alle geglaubt. Aber wir wissen jetzt, daß es nichts damit ist. Die Initiative des 20. Juni und des 10. August ging nicht von den Jakobinern aus. Im Gegenteil. Ein ganzes Jahr lang hatten sie sich – selbst die revolutionärsten unter ihnen – einem neuen Appell ans Volk widersetzt. Erst als sie sich von der Volksbewegung überschwemmt sahen, entschlossen sie sich – und auch jetzt noch nur ein Teil der Jakobiner –, ihr zu folgen.

Aber mit welcher Schüchternheit! Man wünschte wohl das Volk zum Kampf gegen die Royalisten auf der Straße zu sehen; aber man wagte nicht, die Konsequenzen zu ziehen. – ›Und wenn sich das Volk nicht damit begnügte, die königliche Gewalt umzustürzen? Wenn es gegen alle Reichen, gegen die Mächtigen, gegen die Spekulanten, die in der Revolution nur ein Mittel, sich zu bereichern, gesehen hatten, marschierte? Wenn es nach den Tuilerien die Gesetzgebende Versammlung auskehrte? Wenn die Kommune von Paris, die Wilden, die ›Anarchisten‹ – die selbst Robespierre gern mit Schimpfworten überhäufte –, diese Republikaner, die die ›Gleichheit der Vermögen‹ predigten, die Oberhand gewännen?‹

Das ist der Grund, warum es in allen Verhandlungen, die vor dem 20. Juni stattfanden, soviel Zögern auf seiten der bekannten Revolutionäre gibt. Das ist der Grund, warum die Jakobiner soviel Widerstreben an den Tag legen, eine neue Volkserhebung zuzulassen, und sich ihr erst anschließen, nachdem das Volk gesiegt hat. Erst im Juli, nachdem das Volk über die konstitutionellen Gesetze hinwegschritt, die Sektionen in Permanenz erklärte, die allgemeine Bewaffnung anordnete und die Nationalversammlung zwang, ›das Vaterland in Gefahr‹ zu erklären, erst dann entschlossen sich die Robespierre, die Danton und im letzten Augenblick auch die Girondisten, dem Volk zu folgen und sich mehr oder weniger mit dem Aufstand solidarisch zu erklären.

Man versteht, daß unter diesen Umständen die Bewegung des 20. Juni nicht den Schwung und die Einheitlichkeit haben konnte, die nötig waren, um daraus eine geglückte Erhebung gegen die Tuilerien zu machen. Das Volk stieg auf die Straße, aber da es über die Haltung des Bürgertums im unklaren war, traute es sich nicht zu weit. Es schien erst das Terrain kennenlernen zu wollen, um zu sehen, wie weit man sich dem Schloß nähern könnte – und das übrige überließ man den Zufällen der großen Kundgebungen des Volkes. Wenn daraus etwas hervorging, um so besser, wenn nicht, hatte man immerhin die Tuilerien aus der Nähe gesehen und konnte beurteilen, wie stark sie waren.

Und so kam es denn auch. Die Demonstration war völlig friedlich. Unter dem Vorwand, der Nationalversammlung eine Petition zu überreichen, den Jahrestag des Schwurs im Ballhaus zu feiern und einen Freiheitsbaum am Tor der Nationalversammlung zu pflanzen, hatte sich eine ungeheure Volksmenge in Bewegung gesetzt. Sie füllte bald alle Straßen, die von der Bastille zur Nationalversammlung führten, während der Hof die Place du Carroussel, den großen Hof der Tuilerien und die Zugänge zum Palais mit seinen Parteigängern füllte. Alle Tore waren geschlossen, die Kanonen waren auf das Volk gerichtet; man hatte unter die Soldaten Patronen ausgeteilt, ein Zusammenstoß zwischen den beiden Massen schien unvermeidlich.

Der Anblick dieser immer anwachsenden Massen aber lähmte die Truppen des Hofes. Die äußern Tore wurden bald freiwillig oder mit Gewalt geöffnet, das Carroussel und die Höfe wurden von der Menge überschwemmt. Viele waren mit Spießen, mit Säbeln oder mit Stöcken bewaffnet, auf denen ein Messer oder eine Säge befestigt war; aber die Sektionen hatten die Männer, die an der Manifestation teilnahmen, sorgfältig ausgesucht.

Die Menge wollte eben ein anderes Tor der Tuilerien mit Axtschlägen öffnen, als Ludwig XVI. selbst befahl, es freiwillig aufzumachen. Sofort strömten Tausende in die inneren Höfe und in den Palast. Die Königin wurde mit ihrem Sohn in aller Eile von ihrem Vertrauten in einen Saal geflüchtet und mit einem Tisch verbarrikadiert. Als der König in einem andern Saal entdeckt wurde, füllte sich der Saal in einem Augenblick mit Menschen. Man verlangte von ihm, er sollte die Dekrete sanktionieren, denen er seine Sanktion bisher verweigert hatte; er sollte die girondistischen Minister zurückrufen, die Priester verjagen, zwischen Koblenz und Paris wählen. Der König schwang seinen Hut, er ließ sich eine Wollmütze auf den Kopf setzen, man ließ ihn ein Glas aufs Wohl der Nation leeren. Aber er widersetzte sich der Menge zwei Stunden lang und wiederholte nur immer, er wollte sich an die Verfassung halten. Als Angriff gegen das Königtum war die Bewegung gescheitert. Es war nichts ausgerichtet worden.

Jetzt mußte man die Wut der wohlhabenden Klassen gegen das Volk sehen! Da das Volk nicht gewagt hatte, aggressiv zu werden, und da es eben damit seine Schwäche gezeigt hatte, fiel man mit dem ganzen Haß, den die Furcht eingeben kann, über das Volk her.

Als man in der Nationalversammlung den Brief verlas, in dem Ludwig XVI. sich über das Eindringen in seinen Palast beschwerte, brach die Versammlung in einen Beifall aus, der ebenso servil war wie der Beifall der Höflinge vor 1789. Jakobiner und Girondisten verleugneten einmütig die Bewegung.

Der Hof hatte durch diese Aufnahme offenbar Mut bekommen, und es gelang ihm, im Tuilerienschloß einen Gerichtshof einzusetzen, vor dem die an der Bewegung ›Schuldigen‹ ihre Strafe finden sollten. Man wollte so, sagt Chaumette in seinen Mémoires, das gehässige Verfahren vom 5. und 6. Oktober 1789 und vom 17. Juli 1791 wieder ins Leben rufen. Dieser Gerichtshof war zusammengesetzt aus Friedensrichtern, die vom Hof erkauft worden waren. Der Hof verpflegte sie, und die königliche Mobilienkammer hatte den Auftrag erhalten, für alle ihre Bedürfnisse zu sorgen. Die energischsten Schriftsteller wurden verfolgt und eingekerkert; mehreren Sektionsvorsitzenden und Sekretären, mehreren Mitgliedern von Volksgesellschaften erging es ebenso. Es wurde gefährlich, sich Republikaner zu nennen.

Die Direktorien von Departements und eine große Zahl Gemeindeverwaltungen schlossen sich der servilen Kundgebung der Nationalversammlung an und schickten Briefe, in denen sie ihre Entrüstung gegen die ›Aufrührer‹ aussprachen. In Wirklichkeit waren dreiunddreißig Departementsdirektorien von dreiundachtzig – der ganze Westen Frankreichs – offen royalistisch und gegenrevolutionär.

Es darf nicht vergessen werden, daß die Revolutionen immer von Minoritäten gemacht werden, und selbst wenn die Revolution schon begonnen hat und ein Teil der Nation ihre Konsequenzen akzeptiert, ist es immer nur eine winzige Minderheit, die versteht, was zu tun übrigbleibt, um den endgültigen Sieg dessen, was getan worden ist, sicherzustellen, und die den Mut zum Handeln hat. Das ist der Grund, warum ein Parlament, das immer den Durchschnitt des Landes vertritt, oder vielmehr noch unterhalb des Durchschnitts bleibt, in allen revolutionären Zeiten ein Hemmschuh, aber niemals das Werkzeug der Revolution gewesen ist.

Die Gesetzgebende Versammlung ist dafür ein treffendes Beispiel. Man höre also, was am 7. Juli 1792 (und man beachte, daß man vier Tage später, angesichts der deutschen Invasion ›das Vaterland in Gefahr‹ erklärte), kaum einen Monat vor dem Sturz des Thrones, in dieser Versammlung vorging. Man debattierte seit mehreren Tagen über die Maßregeln, die für die allgemeine Sicherheit notwendig wären. Angestiftet vom Hofe, beantragte Lamourette, der Bischof von Lyon, in Form eines Geschäftsordnungsantrags eine allgemeine Versöhnung der Parteien und gab ein sehr einfaches Mittel an, dazu zu gelangen: ›Ein Teil der Nationalversammlung schreibt dem andern den aufrührerischen Plan zu, die Monarchie zerstören zu wollen. Die andern schreiben ihren Kollegen den Plan zu, die Zerstörung der verfassungsmäßigen Gleichheit und die aristokratische Regierung zu wollen, die unter dem Namen der Zwei Kammern bekannt ist. Wohlan, meine Herren, zerschmettern wir in einer gemeinsamen Verwünschung und durch einen gemeinsamen Schwur, zerschmettern wir die Republik sowohl wie die Zwei Kammern!‹ Und darauf läßt sich die Nationalversammlung in plötzlicher Begeisterung hinreißen und erhebt sich einmütig, um ihren Haß gegen die Republik und die Zwei Kammern auszusprechen. Die Hüte fliegen in die Luft, man umarmt sich, die Rechte und die Linke verbrüdern sich, und es wird auf der Stelle eine Deputation zum König geschickt, der sich der allgemeinen Fröhlichkeit anschließt. Diese Szene heißt in der Geschichte ›Der Kuß des Lamourette‹. Aber die öffentliche Meinung ließ sich durch solche Szenen nicht fangen. Am nämlichen Abend noch protestierte bei den Jakobinern Billaud-Varenne gegen diese heuchlerische Verbrüderung, und man beschloß, seine Rede den befreundeten Gesellschaften zuzustellen. Der Hof seinerseits dachte nicht daran abzurüsten. Pétion, der Maire von Paris, war eben an diesem Tage von dem (royalistischen) Direktorium des Seinedepartements seiner Funktionen entkleidet worden, weil er am 20. Juni seine Pflichten vernachlässigt hätte. Aber jetzt trat Paris energisch für seinen Maire ein. Eine drohende Bewegung entstand, so daß sechs Tage später, am 13., die Nationalversammlung die vorläufige Amtsentsetzung aufheben mußte.

Im Volke stand die Meinung fest. Man sah ein, daß der Augenblick gekommen war, sich des Königtums zu entledigen, und daß es um die Revolution geschehen wäre, wenn dem 20. Juni nicht sehr bald eine Volkserhebung folgte. Aber die Politiker der Nationalversammlung urteilten anders. Wer konnte wissen, was der Ausgang eines Aufstandes wäre? Daher sorgten diese Gesetzgeber, mit Ausnahme von dreien oder vieren unter ihnen, schon für eine Rettungstüre, im Fall die Gegenrevolution siegreich bleiben würde.

Die Angst der Staatsmänner, ihr Wunsch, sich im Fall der Niederlage die Verzeihung im voraus zu sichern, war die Gefahr in allen Revolutionen.

Die sieben Wochen zwischen der Demonstration des 20. Juni und dem Tuileriensturm vom 10. August 1792 sind in dieser Hinsicht überaus lehrreich.

Obwohl die Demonstration vom 20. Juni ohne unmittelbares Resultat geblieben war, hatte sie doch für Frankreich wie ein Sturmläuten gewirkt. ›Die Empörung geht von Stadt zu Stadt‹, wie Louis Blanc gesagt hat. Der Feind steht vor den Toren von Paris, und am 11. Juli wird das Vaterland in Gefahr erklärt. Am 14. Juli feiert man das Bundesfest, und das Volk macht daraus eine furchtbare Demonstration gegen das Königtum. Von allen Seiten senden revolutionäre Gemeindeverwaltungen Adressen an die Nationalversammlung, um sie zum Handeln zu zwingen. Da der König das Vaterland verrät, verlangen sie die endgültige oder vorläufige Absetzung Ludwig XVI. Indessen wird das Wort Republik noch nicht ausgesprochen: man neigt vielmehr zur Regentschaft. Marseille macht eine Ausnahme, indem es schon am 27. Juni die Abschaffung des Königtums fordert und fünfhundert Freiwillige schickt, die unter dem Gesang der ›Marseiller Hymne‹ in Paris einziehen. Brest und andere Städte schicken ebenfalls ihre Freiwilligen. Die Sektionen von Paris tagen in Permanenz. Sie bewaffnen sich und organisieren ihre Bataillone.

Man spürt, die Revolution nähert sich dem entscheidenden Augenblick. Und was tut nun die Versammlung? Was tun diese bürgerlichen Republikaner – die Girondisten?

Als man in der Versammlung die männliche Adresse von Marseille verliest, die Maßregeln fordert, die auf der Höhe der Ereignisse stünden, protestiert fast die ganze Versammlung. Und als am 27. Juli Duhem verlangt, man solle über die Absetzung diskutieren, wird sein Vorschlag mit Geheul aufgenommen.

Marie Antoinette täuschte sich gewiß nicht, als sie am 7. Juli ihren Vertrauten im Ausland schrieb, die Patrioten hätten Angst und wollten verhandeln. Und das geschah denn auch in der Tat einige Tage später.

Die in den Sektionen zum Volke hielten, fühlten ohne Frage, daß ein großes Ereignis bevorstand. Die Sektionen von Paris, die sich ebenso wie einige andere Gemeindeverwaltungen in Permanenz erklärt hatten, kümmerten sich nicht mehr um das Gesetz über die Passivbürger, ließen diese vielmehr zu ihren Beratungen zu und bewaffneten sie mit Spießen. Offenbar war ein großer Aufstand in Vorbereitung.

Aber die Girondisten, die Partei der Staatsmänner, schickten in diesem Augenblick dem König durch Vermittlung seines Kammerdieners Thierry einen Brief, in dem sie ihm mitteilten, ein furchtbarer Aufstand würde vorbereitet. Die Absetzung und noch Schlimmeres könnte daraus entstehen, es gäbe ein einziges Mittel, diese Katastrophe zu beschwören – und dieses Mittel wäre . . . in spätestens acht Tagen Roland, Servan und Clavière wieder ins Ministerium zu rufen.

Gewiß waren es nicht die zwölf Millionen, die man Brissot versprochen hatte, die die Gironde dazu brachten, diesen Schritt zu tun. Es war auch nicht, wie Louis Blanc meint, der Ehrgeiz allein, der die Regierungsgewalt erlangen wollte. Nein. Die Ursache lag tiefer. Die Flugschrift Brissots ›An seine Wähler‹ verrät ihren Gedankengang ganz klar. Es war die Furcht vor einer Volksrevolution, die das Eigentum antasten könnte – die Furcht vor dem Volk und die Verachtung des Volkes, der Menge, der Elenden in Lumpen. Die Furcht vor einem Gesellschaftszustand, in dem das Eigentum und, mehr als das, die staatsmännische Bildung, die ›Geschäftsgewandtheit‹ die Privilegien verlören, die sie bis dahin ihren Trägern verschafft hatten. Die Furcht vor dem Ausgleich, die Furcht, nicht mehr über das Niveau der großen Masse emporzuragen.

Diese Furcht lähmte die Girondisten, wie sie heutzutage alle Parteien lähmt, die in den gegenwärtigen Parlamenten die nämliche, mehr oder weniger regierende Stellung einnehmen, wie sie damals die Girondisten in dem Königsparlament hatten.

Man begreift, welche Verzweiflung sich jetzt der wahren Patrioten bemächtigen mußte, wie sie Marat in den folgenden Zeilen zum Ausdruck brachte: ›Seit drei Jahren sind wir tätig, um unsere Freiheit zu erlangen, und doch sind wir weiter davon entfernt als je.‹

›Die Revolution hat sich gegen das Volk gewandt. Für den Hof und seine Helfershelfer ist sie ein ewiger Anlaß zu List und Bestechung; für die Gesetzgeber eine Gelegenheit zu Pflichtverletzungen und Schurkereien . . . Schon ist sie für die Reichen und Habgierigen nichts mehr als eine Gelegenheit zu unerlaubten Gewinnen, zu Wucher, Raub und Betrug; das Volk ist zugrunde gerichtet, und die unzählige Klasse der Enterbten steht zwischen der Furcht, vor Not zugrunde zu gehen, und der Notwendigkeit, sich zu verkaufen . . . Fürchten wir nicht, es zu wiederholen: wir sind weiter von der Freiheit entfernt als je; denn wir sind nicht nur Sklaven, wir sind es jetzt durch Gesetzeskraft.‹

›Das mußte so kommen‹, fährt Marat fort, ›denn die unteren Klassen der Nation kämpfen allein gegen die oberen Klassen.‹ In dem Augenblick der Erhebung zermalmt das Volk wohl alles mit seiner Masse; aber soviel Vorteile es zunächst auch erlangt hat, es unterliegt schließlich vor den Verschworenen der oberen Klassen, die voller List, Verschlagenheit und Kunstgriffe sind. Die gebildeten, schlauen und intriganten Männer der oberen Klassen haben zunächst Partei gegen den Despoten genommen; aber das geschah nur, um sich gegen das Volk zu wenden, nachdem sie sich in sein Vertrauen geschlichen und sich seiner Macht bedient hatten, um sich an die Stelle der privilegierten Stände zu setzen, die sie vertrieben haben.

›So ist die Revolution nur durch die letzten Klassen der Gesellschaft gemacht und gestützt worden, durch die Arbeiter, Handwerker, Krämer, Bauern, durch die Plebs, durch die Unglücklichen, die der unverschämte Reichtum Canaille nennt und die die Frechheit der Römer Proletarier nannte. Aber, was man sich nie hätte träumen lassen, ist die Tatsache, daß sie nur zugunsten der Grundeigentümer, der Juristen, der Helfershelfer des Ränkespiels gemacht worden ist.‹

Am Tage nach der Eroberung der Bastille wäre es den Volksvertretern leicht gewesen, ›den Despoten und seine Agenten all ihrer Würden zu entkleiden‹, so schreibt Marat weiter. ›Aber dazu wäre es nötig gewesen, daß sie Einsichten und Tugenden besessen hätten. Und das Volk hat den Fehler gemacht, sich nicht durchweg zu bewaffnen, vielmehr zu dulden, daß nur ein Teil der Bürger bewaffnet wurde [in der Nationalgarde, die sich nur aus Aktivbürgern zusammensetzte]. Und anstatt die Feinde der Revolution unverzüglich anzugreifen, hat es selbst seine Vorteile aufgegeben und sich auf die Defensive beschränkt.‹

›Heute‹, sagt Marat, ›nach drei Jahren ewiger Reden der patriotischen Gesellschaften und nach einer Flut von Schriften – ist das Volk weiter davon entfernt, zu merken, was ihm not tut, um sich seinen Bedrückern entgegenzustellen, als am ersten Tage der Revolution. Damals verließ es sich auf seinen natürlichen Instinkt, auf den schlichten, gesunden Menschenverstand, der es das rechte Mittel hatte finden lassen, mit seinen unversöhnlichen Feinden fertig zu werden . . . Heute ist es gefesselt im Namen der Gesetze, tyrannisiert im Namen der Gerechtigkeit, geknechtet im Namen der Verfassung.‹

So schrieb Marat nicht heutzutage, – sondern in Nr. 657 des ›Ami du Peuple‹.

Eine tiefe Verzweiflung ergreift also Marat bei Betrachtung der Lage, und er weiß nur einen Ausweg: ›Ausbrüche des Bürgerzorns‹ von seiten der großen Volksmasse, wie am 13. und 14. Juli, am 5. und 6. Oktober 1789. Die Verzweiflung nagt an ihm bis zu dem Tag, wo die Ankunft der Föderierten, die aus den Departements nach Paris kommen, ihm neue Hoffnung gibt.

Die Aussichten der Gegenrevolution waren in diesem Augenblick (Ende Juli 1792) so groß, daß Ludwig XVI. den Vorschlag der Girondisten rundweg ablehnte. Marschierten nicht schon die Preußen auf Paris, war nicht Lafayette und ebenso Luckner bereit, ihre Waffen gegen die Jakobiner und gegen Paris zu richten? Und Lafayette hatte im Norden eine große Macht. In Paris war er der Abgott der bürgerlichen Nationalgarden.

Hatte der König nicht in der Tat alle möglichen Gründe zur Hoffnung? Die Jakobiner wagten nicht zu handeln; und als Marat am 18. Juli, nachdem der Verrat Lafayettes und Luckners bekannt geworden war (sie wollten den König am 16. Juli entführen und ihn in die Mitte ihrer Armeen bringen), als Marat vorschlug, den König als Geisel der Nation gegen die Invasion des Auslands zu ergreifen – da wandten ihm alle den Rücken, behandelten ihn als Narren, und nur die Sansculotten in ihren elenden Löchern stimmten ihm zu. Weil Marat gewagt hatte, in diesem Augenblick zu sagen, wovon die Geschichtsschreiber heute wissen, daß es die Wahrheit war, weil er es wagte, die Komplotte des Königs mit den Ausländern aufzudecken, sah er sich von aller Welt verlassen – selbst von den wenigen jakobinischen Patrioten, auf die er, die man als so argwöhnisch hinstellt, doch noch gerechnet hatte. Sie verweigerten ihm sogar das Asyl, als man ihn zu verhaften suchte und er an ihre Türe pochte.

Die Gironde aber verhandelte, nachdem der König ihren Vorschlag abgelehnt hatte, durch Vermittlung des Malers Boze aufs neue mit ihm; am 25. Juli schickte sie ihm noch eine neue Botschaft.

Vierzehn Tage nur trennten Paris vom 10. August. Das revolutionäre Frankreich knirschte unter seinen Zügeln. Es sah ein, daß der entscheidende Augenblick zum Handeln gekommen war. Entweder mußte man jetzt dem Königtum den Todesstoß versetzen, oder die Revolution blieb unvollendet. Und dann ließ man das Königtum sich mit Truppen umgeben und die große Verschwörung zustande bringen, durch die Paris den Deutschen ausgeliefert werden sollte! Wer konnte sagen, für wie viele Jahre das Königtum, das ein etwas anderes Gewand bekommen hatte, aber immer noch beinahe absolut war, auf dem Thron Frankreichs bliebe?

In diesem Augenblick nun beschäftigten sich die Politiker mit weiter nichts, als miteinander zu streiten, in welche Hände die Gewalt kommen soll, wenn sie den Händen des Königs entfallen muß.

Die Gironde will sie für sich, für die Zwölferkommission, die jetzt die Exekutivgewalt ausüben soll. Robespierre seinerseits verlangt neue Wahlen – eine erneuerte Nationalversammlung, einen Konvent, der Frankreich eine neue republikanische Verfassung geben soll.

Ans Handeln, an die Vorbereitung der Absetzung denkt niemand außer dem Volk – ganz gewiß nicht die Jakobiner. Es sind wiederum die ›Unbekannten‹, die Lieblinge des Volks – Santerre, der Amerikaner Fournier, der Pole Lazowski, Carra, Simon, Westermann (in dem Augenblick ein einfacher Kanzleischreiber), von denen einige auch zum geheimen Ausschuß der ›Föderierten‹ gehörten – die sich im Soleil d'Or versammelten, um über die Belagerung des Schlosses und den allgemeinen Aufstand mit der roten Fahne an der Spitze zu beraten. Es sind schließlich die Sektionen – die Mehrzahl der Sektionen von Paris und hie und da ein paar im Norden, im Departement Maine-et-Loire, in Marseille; es sind schließlich die Freiwilligen aus Marseille und Brest, die sich vom Volk von Paris für die revolutionäre Sache anwerben lassen. Das Volk, immer das Volk!

›Dort (in der Nationalversammlung) sah es so aus, als ob hitzige Advokaten unaufhörlich unter der Peitsche der Herren in erbärmlichem Zanken wären‹ . . .

›Hier (in der Versammlung der Sektionen) legte man die Grundlagen zur Republik‹, sagt Chaumette.


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