Pjotr Alexejewitsch Kropotkin
Die Große Französische Revolution 1789-1793 – Band I
Pjotr Alexejewitsch Kropotkin

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4. Das Volk vor der Revolution

Es wäre unnütz, uns dabei aufzuhalten, hier die Lage der Bauern auf dem Lande und der Armenbevölkerung in den Städten unmittelbar vor 1789 ausführlich zu schildern. Alle Geschichtsschreiber der großen Revolution haben diesem Gegenstand sehr beredte Ausführungen gewidmet. Das Volk stöhnte unter der Last der Steuern, die der Staat vorwegnahm, der Zinsen, die dem Herrn gezahlt werden mußten, der Zehnten, die der Klerus einstrich, und der Fronden, die alle drei ihm auferlegten. Ganze Bevölkerungen vieler Ortschaften waren auf den Bettel angewiesen und liefen in der Zahl von fünftausend, zehntausend, zwanzigtausend in jeder Provinz auf den Landstraßen, Männer, Frauen und Kinder: elftausend Bettler sind für das Jahr 1777 offiziell festgestellt. In den Dörfern war die Hungersnot chronisch geworden; sie kehrte nach kurzen Pausen wieder und dezimierte ganze Provinzen. Die Bauern flohen in der Zeit in Mengen aus ihren Provinzen, in der Hoffnung, die bald enttäuscht wurde, anderswo günstigere Bedingungen zu treffen. Zur selben Zeit wuchs in den Städten die Zahl der Armen von Jahr zu Jahr. Beständig fehlte es in den Städten an Brot, und da die Stadtverwaltungen sich außerstande sahen, die Märkte zu versorgen, wurden die Hungeraufstände, in deren Gefolge immer Menschen getötet wurden, zu einer konstanten Erscheinung im Königreich.

Auf der andern Seite gab es jene raffinierte Aristokratie des achtzehnten Jahrhunderts, die in zügellosem, unsinnigem Luxus ungeheure Vermögen ausgab – Hunderttausende und Millionen Franken Jahreseinkommen. Über ein Leben, wie sie es führten, kann ein Taine heutzutage in Begeisterung geraten, weil er es nur von weitem kennt, in einer Entfernung von hundert Jahren und nur aus Büchern; aber in Wirklichkeit war hinter äußeren Formen, die der Tanzmeister bestimmte, und hinter einer lärmenden Verschwendung die roheste Sinnlichkeit und völliger Mangel an irgendwelchen Interessen oder Gedanken, ja sogar an einfachen menschlichen Empfindungen verborgen. Daher kam es, daß jeden Augenblick die Langeweile bei diesen Reichen sich einstellte, gegen die, selbstverständlich vergeblich, alle Mittel, selbst die albernsten und kindischsten, versucht wurden. Übrigens hat man, als die Revolution ausbrach, deutlich sehen können, was diese Aristokratie wert war, man sah, wie den Aristokraten sehr wenig daran lag, ›ihren‹ König und ›ihre‹ Königin zu schützen, wie sie sich vielmehr beeilten, auszuwandern und die Invasion des Auslands herbeizurufen, das sie gegen das empörte Volk schützen sollte. Man hat ihren Wert und den ›Adel‹ ihres Charakters zu beurteilen in den Emigrantenniederlassungen, die sich in Koblenz, in Brüssel, in Mitau bildeten, Gelegenheit gehabt.

Diese Gegensätze des Luxus und des Elends, die im Leben des achtzehnten Jahrhunderts so kraß hervortraten, sind von all den Historikern der großen Revolution trefflich dargestellt worden. Aber es muß ein Zug hinzugefügt werden, dessen Bedeutung ganz besonders hervortritt, wenn man gerade jetzt, am Vorabend der russischen Revolution, die Lage der Bauern in Rußland erforscht.

Das Elend der großen Masse der französischen Bauern war gewiß entsetzlich. Es war in der ganzen Zeit, seit der Regierung Ludwigs XVI., in dem Maße, wie die Ausgaben des Staates größer wurden und der Luxus der Herren zunahm, der den Charakter der Ausschweifung annahm, wie er aus manchen Memoiren der Zeit so gut hervortritt, immer schrecklicher geworden. Hauptsächlich machte der Umstand die Erpressungen der Grundherren unerträglich, daß ein großer Teil des Adels in Wahrheit ruiniert war, aber seine Armut unter luxuriösen Gepflogenheiten versteckte und so wild darauf aus war, den Bauern möglichst viel Einkünfte zu entpressen. Auch die kleinsten Zahlungen und Leistungen in Naturalien, die das Herkommen früher einmal geschaffen hatte, wurden gefordert, und die Bauern wurden vermittelst der Verwalter mit wahrhaft wucherischer Härte behandelt. Die Verarmung des Adels hatte bewirkt, daß die Adligen in ihrem Verhältnis zu den Leibeigenen geldgierige Bürgersleute wurden, die aber unfähig waren, andere Quellen der Bereicherung zu finden, als die Ausbeutung der alten Vorrechte, der Überbleibsel aus der Zeit des Feudalismus. Darum findet man in manchen Dokumenten unbestreitbare Spuren einer Verschärfung der Eintreibungen der Grundherren während der fünfzehn Jahre der Regierung Ludwigs XVI., die der Revolution vorhergingen.

Aber wenn die Geschichtsschreiber der großen Revolution mit Recht von der Lage der Bauern sehr düstere Bilder entwarfen, wäre es falsch, daraus zu schließen, jene andern Historiker (wie zum Beispiel Tocqueville), die von der Verbesserung der Verhältnisse auf dem Lande in diesen nämlichen Jahren vor der Revolution reden, seien im Unrecht. Die Sache ist die, daß eine doppelte Erscheinung damals in den Dörfern sich vollzog: die Verarmung der Massen der Bauern und die Verbesserung in der Lage einiger von ihnen. Man sieht dasselbe sehr gut im heutigen Rußland seit der Aufhebung der Leibeigenschaft.

Die Masse der ländlichen Bevölkerung verarmte. Von Jahr zu Jahr wurde ihre Existenz unsicherer; die geringste Mißernte brachte Teuerung und Hungersnot hervor. Aber es bildete sich aus Bauern, die vermögender und ehrgeiziger waren, zur gleichen Zeit eine neue Klasse – hauptsächlich, wo der Verfall der Adelsgüter schnell vor sich gegangen war. Der Dorfbourgeois trat auf die Bildfläche, und beim Herannahen der Revolution war er der erste, der gegen die Feudalrechte auftrat und ihre Abschaffung verlangte. Er war es, der während der vier oder fünf Jahre der Revolution am hartnäckigsten verlangte, daß die Abschaffung der Feudalrechte nicht durch Ablösung geschehe, sondern durch Konfiskation der Güter und ihre Zerstückelung. Er war es endlich, der 1793 am wütendsten gegen ›die ci-devant‹, die früheren Adligen, die Exgrundherren, vorging.

Für den Augenblick, beim Herannahen der Revolution, war er es, dieser Bauer, der in seinem Dorfe eine Rolle spielte, durch den Hoffnung in die Herzen kam und der Geist der Empörung heraufwuchs.

Die Spuren dieses Erwachens sind unverkennbar, denn von der Thronbesteigung Ludwigs XVI. im Jahre 1774 an breiteten sich die Empörungen immer mehr aus. Und man muß sagen: wenn die Verzweiflung des Elends das Volk zum Aufstand trieb, so war es die Hoffnung, einige Erleichterung zu erlangen, die es zur Revolution brachte.

Wie alle Revolutionen wurde die von 1789 durch die Hoffnung herbeigeführt, gewisse Ergebnisse von Wert durchzusetzen.


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