Pjotr Alexejewitsch Kropotkin
Die Große Französische Revolution 1789-1793 – Band I
Pjotr Alexejewitsch Kropotkin

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28. Stillstand der Revolution im Jahre 1790

Wir haben die wirtschaftlichen Zustände in den Dörfern im Laufe des Jahres 1790 kennengelernt. Sie waren derart, daß die Bauern, wenn nicht die Bauernaufstände trotz alledem fortgedauert hätten, trotz ihrer persönlichen Befreiung immer unter dem wirtschaftlichen Joch des Feudalsystems geblieben wären – wie es in Rußland geschah, wo der Feudalismus 1861 durch das Gesetz, aber nicht durch eine Revolution abgeschafft wurde.

Aber außer diesem Konflikt, der zwischen dem zur Macht gelangenden Bürgertum und dem Volke ausbrach, gab es auch noch die ganze politische Arbeit der Revolution, die nicht nur im Jahre 1790 unvollendet gelassen, sondern sogar völlig in Frage gestellt wurde.

Als die erste Panik, die 1789 der unerwartete Ansturm des Volkes hervorgebracht hatte, vorüber war, beeilten sich der Hof, die Adligen, die Reichen und die Priester, sich zu vereinigen, um die Reaktion zu organisieren. Und bald fühlten sie sich so gestärkt und so mächtig, daß sie darangingen, nach Mitteln Ausschau zu halten, die Revolution auszutilgen und den Hof und den Adel in ihre für den Augenblick verlorenen Rechte wieder einzusetzen.

Alle Historiker sprechen gewiß von dieser Reaktion; aber sie zeigen nicht auf, weder wie tief sie ging, noch wie ausgedehnt sie war. In der Tat kann man sagen, daß zwei Jahre lang, vom Sommer 1790 bis zum Sommer 1792, das ganze Werk der Revolution vertagt war. Man hatte angefangen, sich zu fragen: wird die Revolution oder die Gegenrevolution den Sieg davontragen? Das Zünglein der Waage schwankte zwischen beiden hin und her. Und völlige Verzweiflung an ihrer Sache brachte die ›Führer‹ der Revolution endlich, im Juni 1792, dahin, noch einmal an den Volksaufstand zu appellieren.

Man muß anerkennen, daß die Konstituierende und nach ihr die Gesetzgebende Versammlung, wenngleich sie sich der revolutionären Abschaffung der Feudalrechte und der Volksrevolution im allgemeinen widersetzten, doch ein gewaltiges Werk vollbrachten: zum Zweck der Vernichtung der Gewalten des Ancien régime – des Königs und des Hofes – und zur Schaffung der politischen Macht des Bürgertums, das der Herr des Staates wurde. Und als die Gesetzgeber dieser zwei Versammlungen die neue Verfassung des dritten Standes in der Form von Gesetzen ausdrücken wollten, gingen sie, das muß anerkannt werden, energisch und klug vor.

Sie verstanden es, die Gewalt der Adligen zu untergraben und in einer bürgerlichen Verfassung den Ausdruck der Rechte des Bürgers zu finden. Sie arbeiteten eine Departements- und Kommunalverfassung aus, die geeignet war, dem Regierungszentralismus einen Damm entgegenzusetzen, und sie ließen es sich angelegen sein, durch eine Modifizierung des Erbrechts das Eigentum zu demokratisieren, den Besitz unter eine größere Zahl Personen zu verteilen.

Sie zerstörten für immer die politischen Unterschiede zwischen den verschiedenen ›Ständen‹ – Klerus, Adel und dritter Stand –, und das war für die Zeit etwas Ungeheures: man braucht nur daran zu denken, wie schwer das in Deutschland oder in Rußland durchzuführen ist. Sie schafften die Adelstitel und die zahllosen Vorrechte ab, die es damals gab, und sie fanden gleichheitlichere Grundlagen der Besteuerung. Sie vermieden die Schaffung eines Oberhauses, das ein Bollwerk der Aristokratie gewesen wäre. Und durch das Departementsgesetz vom Dezember 1789 taten sie etwas Außerordentliches, um der Revolution freie Bahn zu schaffen: sie schafften in der Provinz alle Repräsentanten der Zentralgewalt ab.

Sie nahmen endlich der Kirche ihre reichen Besitzungen weg und machten aus den Geistlichen einfache Angestellte des Staates. Die Armee wurde neu organisiert; ebenso die Gerichte. Die Wahl der Richter geschah durchs Volk. Und bei alledem verstanden es die bürgerlichen Gesetzgeber, zuviel Zentralismus zu vermeiden. Kurz, in der Gesetzgebung sehen wir geschickte und energische Männer am Werk, und wir finden in ihnen ein Element von demokratischem Republikanismus und Autonomie, das die vorgeschritteneren Parteien unserer Zeit nicht genügend würdigen.

Indessen, trotz all diesen Gesetzen, gab es noch nichts Tatsächliches. Die Wirklichkeit entsprach nicht der Theorie. Denn – und hier rühren wir an den allgemeinen Irrtum derer, die das Funktionieren des Regierungsmechanismus nicht aus der Nähe kennen – es ist ein abgrundtiefer Unterschied zwischen einem eben verkündeten Gesetz und seiner tatsächlichen Durchführung im Leben.

Es ist leicht zu sagen: ›Die Besitzungen der Ordensgesellschaften sollen in die Hände des Staates übergehen.‹ Aber wie wird es in Wirklichkeit umgesetzt? Wer wird zum Beispiel in die Abtei St. Bernhard in Clairvaux gehen und den Abt und die Mönche auffordern, fortzugehen? Wer wird sie vertreiben, wenn sie nicht freiwillig gehen? Wer hindert sie, die von allen Frommen der benachbarten Dörfer unterstützt werden, morgen wiederzukommen und in der Abtei die Messe zu singen? Wer organisiert den Verkauf ihrer Liegenschaften in der richtigen Weise? Wer endlich macht aus den schönen Gebäuden der Abtei ein Hospiz für alte Männer, wie es später in der Tat die revolutionäre Regierung tat? Man weiß in Wahrheit, daß dieses Gesetz über den Verkauf der geistlichen Güter nie begonnen hätte, in die Wirklichkeit überführt zu werden, wenn nicht die Sektionen von Paris seine Durchführung übernommen hätten.

In den Jahren 1790, 1791, 1792 stand das alte Regime noch immer aufrecht da und war immer bereit, sich – abgesehen von einigen leichten Modifikationen – im ganzen wieder festzusetzen, – gerade wie das zweite Kaiserreich in der Zeit der Thiers und Mac-Mahon in jedem Augenblick im Begriff war wiederzukommen. Der Klerus, der Adel, das alte Beamtentum und vor allem der alte Geist waren bereit, sich wieder aufzurichten und die zu verderben, die gewagt hatten, sich mit der Trikolore zu gürten. Sie lauerten auf die Gelegenheit, und sie arbeiteten daran, sie herbeizuführen. Überdies waren die neuen Departementsdirektorien, die von der Revolution gegründet, aber aus Reichen zusammengesetzt waren, Körperschaften, die immer geneigt waren, das alte Regime wieder herzustellen. Das waren Vorwerke der Gegenrevolution.

Die Konstituierende und die Gesetzgebende Versammlung haben eine große Zahl Gesetze gemacht, deren Klarheit und Stil bis zum heutigen Tag bewundert wird – und dennoch blieb die übergroße Mehrzahl dieser Gesetze ein toter Buchstabe. Weiß man, daß mehr als zwei Drittel der grundlegenden Gesetze, die zwischen 1789 und 1793 gemacht worden sind, niemals den geringsten Anfang der Durchführung gefunden haben?

Es genügt eben nicht, ein neues Gesetz zu machen. Man muß auch fast immer den Mechanismus erst schaffen, mit Hilfe dessen es angewendet wird. Und wenn gar das neue Gesetz ein eingewurzeltes Vorrecht trifft, muß man eine ganze revolutionäre Organisation ins Treffen führen, wenn dieses Gesetz mit allen Konsequenzen in Leben verwandelt werden soll. Man betrachte sich nur die winzigen Ergebnisse all der Gesetze des Konvents über den unentgeltlichen und obligatorischen Unterricht: sie sind toter Buchstabe geblieben!

Selbst heute sehen wir, trotz der bureaukratischen Konzentration und den Beamtenheeren, die alle ihren Mittelpunkt in Paris haben, daß jedes neue Gesetz, wenn es von noch so geringer Bedeutung ist, Jahre braucht, ins Leben überzugehen. Und dann – wie oft ist es in seinen Anwendungen völlig verstümmelt! Zur Zeit der großen Revolution aber gab es diesen bureaukratischen Apparat noch gar nicht; es waren mehr als fünfzig Jahre erforderlich, damit er seine jetzige Vollendung erreichte.

Wie also sollten damals die Gesetze der Versammlung ins Leben treten, ohne daß die tatsächliche Revolution in jeder Stadt, in jedem Nest, in jeder der sechsunddreißigtausend Gemeinden Frankreichs vor sich ging!

Jedoch die Verblendung der bürgerlichen Revolutionäre war derart, daß sie einerseits alle Maßregeln ergriffen, auf daß das Volk, die Armen, die einzig und allein zu herzhafter Revolution bereit waren, an der Führung der Gemeindeangelegenheiten keinen zu großen Anteil bekamen, und andererseits aus allen Kräften verhindern wollten, daß die Revolution in jeder Stadt und jedem Dorf ausbrach und durchgeführt wurde.

Dazu, daß aus den Dekreten der Versammlung ein lebensfähiges Werk hervorging, bedurfte es der Unordnung. Es war nötig, daß sich an jedem kleinen Orte Männer der Tat, Patrioten, die das alte Regime haßten, der Gemeindeverwaltung bemächtigten, daß sie in ihrem Dorfe oder Städtchen eine Revolution machten; daß man sich um keine Behörden mehr kümmerte; es war nicht anders möglich, als daß die Revolution eine soziale war, wenn die politische Revolution durchdringen sollte.

Es ging nicht anders, als daß der Bauer von der Erde Besitz nahm und den Pflug darübergehen ließ, ohne die Erlaubnis der Behörde abzuwarten, die vermutlich nie eingetroffen wäre. In jedem Dorfe mußte ein ganz neues Leben beginnen. Aber ohne Unordnung, ohne viel soziale Unordnung konnte das nicht geschehen.

Diese Unordnung nun eben wollten die Gesetzgeber gerade verhindern.

Sie hatten nicht nur vermittelst des Munizipalgesetzes vom Dezember 1789, das die Verwaltungsbefugnis den Aktivbürgern anvertraute und unter dem Namen Passivbürger alle armen Bauern und fast alle städtischen Arbeiter davon ausschloß, das Volk aus der Verwaltung entfernt; nicht nur übergab dieses Gesetz demnach die ganze Gewalt in der Provinz dem Bürgertum, es versah dieses Bürgertum mit immer drohenderer Macht, um die arme Bevölkerung daran zu hindern, ihre Aufstände fortzusetzen.

Und doch waren es nur die Aufstände dieser Armen, die es später, 1792 und 1793, möglich machten, daß dem alten Regime der Todesstoß versetzt wurde.

Folgendermaßen also sahen die Dinge aus. Die Bauern, die die Revolution begonnen hatten, sahen wohl, daß noch nichts Tatsächliches durchgeführt war. Die Abschaffung der persönlichen Lasten hatte nur ihre Hoffnungen wachgerufen. Es handelte sich jetzt darum, die drückenden wirtschaftlichen Reallasten abzuschaffen, und zwar wohlverstanden für immer und ohne Ablösung. Außerdem wollte der Bauer von den Gemeindeländereien wieder Besitz ergreifen.

Zunächst war es ihm darum zu tun, was er davon 1789 bereits wieder genommen hatte, zu behalten und dafür die nachträgliche gesetzliche Grundlage zu erreichen. Und was wiederzuerobern ihm noch nicht gelungen war, wollte er haben, ohne dadurch mit dem Standrecht in Konflikt zu kommen.

Aber diesen beiden Forderungen des Volkes widersetzte sich das Bürgertum aus Leibeskräften. Eis hatte sich die Bauernerhebung von 1789 gegen den Feudalismus zunutze gemacht, um seine ersten Angriffe gegen die absolute Gewalt des Königs, den Adel und die Geistlichkeit zu unternehmen. Aber sowie der erste Entwurf einer bürgerlichen Verfassung angenommen und vom König – mit reichlichem Spielraum, sie zu verletzen – akzeptiert war, erschrak das Bürgertum vor den stürmischen Fortschritten, die der revolutionäre Geist im Volk machte, und wollte nicht weitergehen.

Das Bürgertum begriff überdies sehr wohl, daß die Güter der Grundherren in ihre Hände übergehen mußten; und sie wollten diese Güter unversehrt erhalten, mit allen daraufstehenden Einkünften, wie sie die alten Lasten, die in Geldzahlungen umgewandelt waren, vorstellten. Späterhin konnte man ja sehen, ob es nicht eines Tages vorteilhafter wäre, die Reste dieser Lasten abzuschaffen; und sodann sollte es auf dem Wege der Gesetzgebung, methodisch und ordnungsgemäß vor sich gehen. Denn wenn man die Unordnung einmal duldete, – wer konnte wissen, wo das Volk haltmachen würde? Sprach man nicht bereits von ›Gleichheit‹, vom ›Agrargesetz‹, von der ›Ausgleichung der Vermögen‹, davon, daß kein Grundbesitz größer als 120 Morgen groß sein sollte?

Und mit den Städten, den Handwerkern und der ganzen Arbeiterbevölkerung der Städte stand es gerade so wie mit den Dörfern. Die Meisterrechte und die Zünfte, die das Königtum zu Werkzeugen der Unterdrückung gemacht hatte, waren abgeschafft worden. Die Reste feudaler Leibeigenschaft, die in Städten wie in Dörfern noch in großer Zahl vorhanden waren, waren schon infolge der Volksaufstände vom Sommer 1789 abgeschafft worden. Die herrschaftlichen Gerichtshöfe waren verschwunden, und die Richter wurden vom Volk erwählt und dem besitzenden Bürgertum entnommen.

Aber das war im Grunde sehr wenig. Den Industrien fehlte es an Arbeit, und das Brot wurde zu Teuerungspreisen verkauft. Die Masse der Arbeiter wollte sich gern gedulden, wenn man nur daranging, das Reich der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit herzustellen. Aber da das nicht geschah, verlor es die Geduld. Und der Arbeiter verlangte nun, die Kommune von Paris, die Stadtverwaltungen von Lyon, Rouen, Nancy usw. sollten von sich aus Einrichtungen treffen, um das Korn zum Selbstkostenpreis zu verkaufen. Er verlangte, den Händlern sollte ein fester Kornpreis vorgeschrieben werden, man sollte Gesetze gegen den übertriebenen Luxus machen, den Reichen sollte eine hohe und progressive Steuer auferlegt werden! Aber da stieg das Bürgertum, das sich schon 1789, während die Passivbürger ohne Waffen blieben, bewaffnet hatte, auf die Straße, entfaltete die rote Fahne, befahl dem Volk, auseinanderzugehen, und erschoß die Aufständischen. So geschah es in Paris im Juli 1791 und da und dort in ganz Frankreich.

Und die Revolution kam zum Stillstand. Das Königtum erholte sich wieder. Die Emigranten in Koblenz und Mitau rieben sich die Hände. Die Reichen bekamen wieder Mut und überließen sich zügellosen Spekulationen.

Und so konnte vom Sommer 1790 bis zum Juni 1792 die Gegenrevolution glauben, sie triumphiere.

Es ist übrigens ganz natürlich, daß eine Revolution von solcher Tragweite wie die zwischen 1789 und 1793 ihre Augenblicke des Stillstands und selbst des Rückgangs hatte. Das alte Regime verfügte über außerordentliche Kräfte, und es konnte nicht ausbleiben, daß sie nach der ersten Niederlage sich wieder erholten und dem neuen Geiste einen Damm entgegensetzten.

So war die Reaktion, die in den ersten Monaten des Jahres 1790 und sogar schon im Dezember 1789 eintrat, ganz natürlich. Aber wenn diese Reaktion bis zum Juni 1792 dauern konnte, und wenn sie trotz aller Verbrechen des Hofes so mächtig wurde, daß im Jahre 1791 die ganze Revolution in Frage gestellt war, – so kam das daher, daß sie nicht nur das Werk des unter der Fahne des Königtums vereinigten Adels und der Geistlichkeit war. Vielmehr brachte auch das Bürgertum – diese neue Macht, die durch die Revolution selbst entstanden war – seine Geschäftstüchtigkeit, seine Ordnungs- und Eigentumsliebe und seinen Haß gegen den Volksaufruhr herbei, um die Mächte zu unterstützen, die die Revolution zu hemmen versuchten. Und ebenso wandte die große Zahl der Gebildeten, der ›Intellektuellen‹, in die das Volk sein Vertrauen gesetzt hatte, sowie sie das erste Aufzucken einer Volkserhebung spürten, ihr den Rücken; sie kehrten eilends in die Reihen der Verteidiger der Ordnung zurück, um das Volk klein zu bekommen und seinen Gleichheitsbestrebungen einen Damm entgegenzusetzen.

Die Gegenrevolutionäre, die dermaßen verstärkt waren, hatten in ihrer Verschwörung gegen das Volk solchen Erfolg, daß die Revolution zum Stillstand gekommen wäre, ohne etwas Dauerndes zustande gebracht zu haben, wenn die Bauern auf dem Lande nicht ihre Erhebungen fortgesetzt hätten und wenn nicht das Volk in den Städten, als das Ausland in Frankreich eindrang, sich im Sommer 1792 von neuem erhoben hätte.

Überhaupt war die Lage im Jahre 1790 sehr düster. ›Die reine Aristokratie der Reichen hat sich schon ohne Scham festgesetzt‹, hatte Loustalot schon am 28. November 1789 in den Révolutions de Paris geschrieben. ›Wer weiß, ob es jetzt nicht ein Verbrechen gegen die Majestät der Nation ist, wenn einer zu sagen wagt: Die Nation ist der Herrscher?‹ Aber seitdem hatte die Reaktion viel Boden gewonnen und drang in jedem Augenblick weiter vorwärts.

In einem großen Werke über die politische Geschichte der großen Revolution hat es Aulard unternommen, den Widerstand ins Licht zu setzen, den die Idee der republikanischen Staatsform beim Bürgertum und den ›Intellektuellen‹ der Zeit fand – selbst zu einer Zeit, wo die Verrätereien des Hofes und der Monarchisten schon zur Republik drängten. Während in der Tat im Jahre 1789 die Revolutionäre so vorgegangen waren, als ob sie sich des Königtums völlig entledigen wollten, entstand unter diesen nämlichen Revolutionären, je mehr die konstitutionelle Gewalt der Nationalversammlung sich befestigte, eine ausgesprochen monarchistische Bewegung. Man kann sogar noch weitergehen. Nach dem 5. und 6. Oktober 1789 und der Flucht des Königs 1791 wurden das Bürgertum und seine Meinungsmacher jedesmal, wenn das Volk sich als revolutionäre Macht erwies, noch etwas monarchistischer.

Das ist eine sehr wichtige Tatsache; aber auf der andern Seite darf man auch nicht vergessen, daß das Wesentliche für das Bürgertum und die Intellektuellen die Erhaltung des Eigentums war, wie man sich damals auszudrücken pflegte. Diese Frage der Erhaltung der Besitztümer oder des Eigentums geht in der Tat wie ein schwarzer Faden bis zum Sturz der Girondisten durch die ganze Revolution. Es ist sogar sicher, daß die Republik deswegen den Bürgern und sogar den heißblütigen Jakobinern solche Furcht machte (während die Cordeliers sie gern akzeptierten), weil sich dem Volke die Idee der Republik mit der Idee der Gleichheit unlöslich verknüpfte und weil die Gleichheit sich dem Volk in dem Ideal der Gleichheit der Vermögen und des Ackergesetzes vorstellte, – das waren die Formeln der Umstürzler, der Kommunisten, der Expropriateure, der ›Anarchisten‹ jener Zeit.

Also hauptsächlich um das Volk zu verhindern, das allerheiligste Prinzip des Eigentums anzutasten, beeilte sich das Bürgertum, der Revolution Zügel anzulegen. Schon im Oktober 1789 beschloß die Nationalversammlung das berüchtigte Gesetz über das Standrecht, das die Möglichkeit gab, die aufständischen Bauern standrechtlich zu erschießen und später, im Juli 1791, das Volk von Paris niederzumetzeln. Sie wollte desgleichen verhindern, daß Männer des Volkes aus den Provinzen zum Bundesfest vom 14. Juli 1790 nach Paris strömten. Und sie traf eine Reihe von Maßnahmen gegen die lokalen revolutionären Gesellschaften, die die Stärke der Volksrevolution ausmachten, auf die Gefahr hin, damit zu töten, was der Keim ihrer eigenen Macht gewesen war.

In der Tat waren schon gleich im Anfang der Revolution Tausende politischer Vereine in ganz Frankreich entstanden. Das waren nicht bloß die Wähler- oder Wahlmännerversammlungen, die fortfuhren, sich zu versammeln. Das waren auch nicht nur die zahlreichen jakobinischen Gesellschaften, die der Muttergesellschaft von Paris angeschlossen waren. Hauptsächlich waren es die Sektionen, die Volksvereine und Bruderschaften, die spontan und oft ohne äußere Formen entstanden. Es waren Tausende von Ausschüssen und fast unabhängigen Lokalgewalten, die sich an die Stelle der Gewalt des Königtums setzten und dazu beitrugen, im Volke die Idee der gleichheitlichen sozialen Revolution zu verbreiten.

Diese Tausende lokaler Mittelpunkte nun zu vernichten, zu lähmen oder wenigstens zu desorganisieren, unternahm das Bürgertum mit größtem Eifer; und es hatte damit so großen Erfolg, daß die monarchistische, klerikale und Junkerreaktion in mehr als dem halben Frankreich in Städten und Flecken mehr und mehr die Oberhand zu gewinnen begann.

Bald wagte man sich an Justizverfolgungen, und im Januar 1790 erlangte Necker einen Haftbefehl gegen Marat, der sich der Sache des Volkes, der Habenichtse, aufrichtig ergeben hatte. Da man einen Volksaufstand fürchtete, brachte man zur Verhaftung des Tribunen Infanterie und Kavallerie zur Stelle; man zerbrach sein Letternmaterial, und Marat sah sich mitten in der Revolution genötigt, nach England zu flüchten. Als er nach vier Monaten zurückgekehrt war, mußte er sich fast die ganze Zeit verborgen halten und war im Dezember 1791 noch einmal gezwungen, jenseits des Kanals seine Zuflucht zu suchen.

Kurz, das Bürgertum und die Intellektuellen, die Verteidiger des Eigentums, verrichteten ihre Arbeit, die Initiative des Volkes zu brechen, so wacker, daß sie die Revolution selbst zum Stillstand brachten. Je mehr die Autorität des Bürgertums sich festsetzte, um so kräftiger erstand die Autorität des Königs aufs neue.

›Die wahrhafte Revolution, die Feindin der Zügellosigkeit, wird mit jedem Tage kräftiger‹, schrieb im Juni 1790 der Monarchist Mallet du Pan. Und er hatte recht. Drei Monate später fühlte sich die Gegenrevolution bereits so stark, daß sie die Straßen von Nancy mit Leichen bedeckte.

Im Anfang hatte der Geist der Revolution die Armee, die in jener Zeit aus Söldnern bestand, und zwar zum Teil aus Ausländern, Deutschen und Schweizern, wenig berührt. Er drang indessen allmählich in sie ein. Das Bundesfest, an dem Abgeordnete der Soldaten als Bürger teilzunehmen eingeladen worden waren, trug dazu sein Teil bei, und im Laufe des Monats August gab es fast überall, insbesondere in den Garnisonen Ostfrankreichs, unter den Soldaten hintereinander aufständische Bewegungen. Sie wollten ihre Offiziere zwingen, über die Summen, die durch ihre Hände gegangen waren, Rechnung zu legen und wiederzuerstatten, was sie den Soldaten unterschlagen hatten. Dabei handelte es sich um ungeheure Summen: sie beliefen sich auf mehr als 240 000 Livres im Regiment der Provinz Beauce, auf 100 000 und sogar bis zu zwei Millionen in andern Garnisonen. Die Aufregung wuchs, aber wie man es bei Leuten, die durch einen langen Dienst stumpf geworden waren, erwarten konnte, hing ein Teil von ihnen den Offizieren an, und die Gegenrevolutionäre machten sich diesen Zwiespalt zunutze, um Streitigkeiten und blutige Zusammenstöße unter den Soldaten selbst hervorzurufen. So lieferten in Lille vier Regimenter einander eine Schlacht – die Royalisten gegen die Patrioten – und ließen fünfzig Tote und Verwundete auf dem Platz.

Es ist sehr wahrscheinlich, da die royalistischen Verschwörungen seit Ende 1789, hauptsächlich unter den Offizieren der Ostarmee, die unter dem Befehl Bouillés stand, ihre Tätigkeit verdoppelt hatten, daß die Verschwörer den Gedanken faßten, den ersten besten Soldatenaufstand zu benutzen, um ihn mit Hilfe royalistischer Regimenter, die ihren Führern treu geblieben waren, im Blut zu ertränken.

Die Gelegenheit bot sich bald in Nancy. Als die Nationalversammlung von der Gärung im Militär Kenntnis erhalten hatte, beschloß sie am 6. August 1790 ein Gesetz, das die Effektivbestände der Armee verminderte, die ›beratenden Versammlungen‹ der Soldaten in den Regimentern verbot, aber zugleich anordnete, die Offiziere sollten unverzüglich ihren Regimentern Rechnung legen.

Sowie dieses Dekret am 9. in Nancy bekannt geworden war, verlangten die Soldaten – hauptsächlich die Schweizer vom Regiment Châteauvieux (meistenteils Waadtländer und Genfer) – von ihren Offizieren Rechnungslegung. Sie nahmen ihre Regimentskassen weg und gaben sie unter den Schutz ihrer Wachen, bedrohten ihre Führer und schickten acht Abgesandte nach Paris, die ihre Sache vor der Nationalversammlung vertreten sollten. Die Bewegungen der österreichischen Truppen an der Grenze vermehrten die Unruhe.

Inzwischen beschloß die Nationalversammlung auf Grund falscher Berichte aus Nancy und gedrängt von Lafayette, dem Kommandanten der Nationalgarde, in den das Bürgertum volles Vertrauen setzte, am 16. ein Dekret, das die Soldaten wegen ihrer Unbotmäßigkeit verurteilte und den Garnisonen und Nationalgarden des Departements Meurthe den Auftrag gab, ›die Rädelsführer des Aufruhrs zur Räson zu bringen‹. Die Abgesandten der Soldaten wurden festgenommen, und Lafayette erließ seinerseits ein Rundschreiben, in dem er die Nationalgarden der Nancy benachbarten kleinen Städte berief, um die aufrührerische Garnison dieser Stadt zu bekämpfen.

Inzwischen schien in Nancy selbst alles auf friedlichem Wege ins gleiche zu kommen. Die Mehrzahl der aufständischen Leute hatte sogar ein Schriftstück unterzeichnet, in dem sie ihrer Reue Ausdruck gaben. Aber augenscheinlich war damit den Zwecken der Royalisten nicht gedient.

Bouillé brach am 28. an der Spitze von dreitausend getreuen Soldaten mit dem festen Entschluß von Metz auf, in Nancy den ersehnten großen Streich gegen die Rebellen zu führen.

Die Zweideutigkeit des Departementsdirektoriums und der Stadtverwaltung von Nancy trug zur Verwirklichung dieses Planes bei, und so stellte Bouillé, während sich alles hätte friedlich schlichten lassen, der Garnison unmögliche Bedingungen und entfesselte den Kampf. Die Soldaten richteten ein furchtbares Blutbad in Nancy an, sie töteten wahllos Bürger und aufständische Soldaten und plünderten die Häuser.

Dreitausend Leichen auf den Straßen, das war das Ergebnis dieser Schlacht, auf die die ›gesetzlichen‹ Strafmaßnahmen folgen. Zweiunddreißig Soldaten wurden hingerichtet und gerädert, einundvierzig zur Zwangsarbeit verurteilt.

Der König beeilte sich, in einem Schreiben ›die gute Haltung Bouillés‹ anzuerkennen; die Nationalversammlung sagte den Mördern ihren Dank, und die Stadtverwaltung von Paris veranstaltete eine Totenfeier zu Ehren der in der Schlacht getöteten Sieger. Niemand wagte zu protestieren. Robespierre ebensowenig wie die andern. So schloß das Jahr 1790. Die bewaffnete Reaktion schien anzufangen, die Oberhand zu gewinnen.


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