Timm Kröger
Eine stille Welt - Novellen
Timm Kröger

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Ein Wanderlied

Hügel steige ich hinauf, sein Haupt hat glatte Kuppelform, schon langst hat es den Kommenden – angelacht, hätte ich bald gesagt. Aber das gäbe nicht die rechte Anschauung von des Berges Würde, von seinem Ernst. Angelacht hat er mich nicht, er hat nur nach mir hingesehen, wie ein Starker tut, dem die Herablassung die Lippen kräuselt, wenn er mit kleinem Kruppzeug zu schaffen hat. Und beim Hinsehn schaute er gutmütig aus und sprach die Worte: ›So ist es recht, komm nur sachte herauf, setz deine Sohlen dreist auf meinen Kopf; ich werde es gerne leiden, und dir wird es eine Freude sein. Bin ich doch nicht nur eine berühmte Wasserscheide zwischen Stör und Eider, sondern auch ein Aussichtspunkt über die Stätten, die dir gegeben haben, was du hast, und dich zu dem gemacht haben, was du bist.‹

Ich kam vom Osten meines schmalen, meerumrauschten Vaterlandes von Holsteins Osten, um den allgemach eine umfangreiche Bädekerliteratur anschwillt. »War es dort schön?« fragt man, und ich antworte: »Ja, schön war das Land der in sanften Wellen hinrauschenden Felder, das Land der hochgetürmten Wälder, der hinfliegenden Hügel und nachrauschenden Seen, der blanken, blauen, immer melancholisch schauenden und doch immer hoffnungsseligen Seen. Auch der Gesang der allgegenwärtigen Natur in Laub und Schilf gefiel mir gut, es ist nur schade, daß ich die Melodie nicht nachsummen kann.

Ich kann es nicht, weil mir doch etwas fehlte. Genau weiß ich nicht, was; nach meiner Empfindung war Frau Natur im Osten zu gut angezogen. Landschaften erinnern mich immer an Frauen, und ich mag diese lieber im Hauskleid als im Ballkleid. So ging mirs schon, als ich jung war, so geht es mir noch jetzt, da ich alt bin. Und zuweilen finde ich sie sogar entzückend, wenn sie in schaler Arbeitshülle stecken.

 

Einmal, zehn Jahre mögen verflossen sein, sah ich eine Magd, die einen Keller gescheuert hatte und nun schnell über die Straße zum Krämer eilte. Sie war naß, sie troff, sie war schmutzig, lief in Holzpantoffeln, mit aufgebundenen Röcken, mit nackten, von allen Spuren der Arbeit bedeckten Armen, die Hände noch immer zum Scheuern gekrallt, das reiche, braune, aufgeflirrte Haar wild um den schönen, jungen, über das ganze Gesicht lachenden Kopf. So flog sie durch das Gewühl der Straße.

Wenn du nun ein Maler wärst! dachte ich. Wenn du auch nur eine Kamera hättest und das Bildchen knipsen könntest! Du bist und hast aber keins von beiden, grab um so tiefer in dein Gedächtnis ein, was deine Augen sehen. Denn es ist über alles Maß köstlich, und wundervoll ist es. Schon die Selbstironie, die in dem Gesichtchen herumkichert:

›Ich weiß‹, steht darin, ›daß sich das nicht gehört. Eigentlich müßte ich erst hinauf in meine Kammer gegangen sein, mich zu waschen und zurechtzumachen, vor allen Dingen das Haar, eine reine Schürze vorzubinden, vielleicht gar ein Körbchen zu nehmen, eine gestickte Decke darüber zu tun, und dann sein ordentlich hinübergehn, das halbe Pfund Seife und die Soda, die mir fehlen, zu holen. – Ach was! – Da habe ich keine Zeit zu, ich muß fertig werden, ich mache mir nichts daraus, ich springe hinüber, wie ich bin, steige aus Dreck und Wasser, klebend, schmutzig, und lache den Leuten ins Gesicht.‹

Wenn ich jung gewesen wäre, und wenn es sich geschickt hätte, dann hätte ich das frische Menschenkind gestellt und zu ihm gesagt: »Jungfer, Sie sind zu schön, ich muß Sie küssen. So viel Zeit hats doch wohl mit der Seife.« Jetzt hätte ich wenigstens gern den Hut vor ihr gezogen: ›Hochachtung!‹ Ich wußte aber, daß das nicht sein darf. Es ging nicht, aber freuen durfte ich mich doch, um ein frisches Bild reicher geworden zu sein. Und dabei mußte ich immer an Philine denken, wie sie zum ersten mal mit Wilhelm Meister zusammentraf. Ihr Frisierjäckchen war nicht ganz sauber, und das gab ihr ein so hausmütterliches Aussehen.

 

Ich war dabei, etwas von dem Eindruck mitzuteilen, den schöne und gute und sanfte Frauen auf mich im Werkeltagskleide machen. Wenn ich sie im Putz, wenn ich sie in Prachtgewändern sehe, habe ich immer das Gefühl, als sei ich bestohlen worden, als sei mir etwas genommen worden, als sei das Herz meiner Freundinnen auf einmal schlechter und hochmütiger geworden, als stehe etwas zwischen uns. So behaupten meine Augen, und auch mein Herz sagt, daß das so sei.

Ähnlich geht es mir mit der Natur im Osten unseres Landes. Ich habe immer den Eindruck großer Toilette. Und dabei geht sie nicht mal in Gesellschaft, sondern sitzt in der guten Stube allein mit ihrem Staat. Für den angelegten Putz sieht es zu leer und einsam bei ihr aus. Es sind zu wenig Menschen da.

Wenn ich sage: zu wenig Menschen, so rechne ich die Bier trinkenden, Butterbrot essenden, die lustigen und lärmenden Touristen nicht dazu. Die gibt es genug, und doch ist das Landschaftsbild tot. Denn ich vermisse Häuser und Dächer von glücklich sein sollenden, den üppigen Boden bebauenden, zu ihm gehörenden Menschen.

Es gibt Landschaften, die ihre Schönheit verlieren, wenn die Einsamkeit fehlt. Was wäre die windverwehte Heide ohne sie? Was das Unheil brütende Moor ohne Verödung? Was wäre ein am Rande von Wald und Heide belegenes Häuschen, wenn es nicht so verlassen und einsam in die Welt hinausgestellt wäre? Küchenrauch schwelt aus Dach und Fenster und erzählt von Bratkartoffeln und Milchreis und von genügsamen sich daran gütlich tuenden Leuten. Da paßt die Einsamkeit hin, nicht aber in die Kulturgärten strotzenden Segens. Da will ich bunt hingestreuten Reichtum lachender, reicher, fröhlicher Dörfer.

 

Nun stehe ich oben auf meinem Berg und sehe nach meiner Heimat hin und schaue die von meinem Herzen begehrten Dächer und Häuser, sehe ein reich besetztes Land. Die dunklen Farben herrschen vor, aber in der Mitte des Bildes strahlt es wie ein von rotem Mohn gefülltes Beet. Aber der Mohn löst sich in Häuser und Ziegeldächer auf, es ist ein mir wohlbekanntes Kirchdorf, das vor vielen Jahren abgebrannt und mit harter Bedachung wieder aufgebaut worden ist. Seitdem glänzen die Dächer im schönsten Rot. Wie es aus Gärten und Büschen und Bäumen herausleuchtet! Ein paar Neubauten sind heraufgewachsen, die Schiefer tragen. Tot und häßlich, schwarz gestrichenen Särgen gleich, stehen sie mitten in der Blüte des Vergessens.

Ziegeldächer im Grünen sehen gut aus, aber noch besser gefallen mir Strohdächer, die auch hier am Rand des Ortsweichbildes heraufgrüßen. Und sie gemahnen mich schier an Mutterhand und Liebe. Breit und gesegnet, alles in sich aufnehmen wollend, reichen sie tief hinab, und Bescheidenheit und Ehrlichkeit und Heimatliebe – alles liegt darin, Klugheit schaut aus den Giebeln.

Der Turm des Ortes ist nicht ganz fertig geworden, er hat ein Notdach bekommen, sein Hahn sieht stolz nach den Dörfern hin, die keine Kirche haben. Er hat aber keinen Grund, sich zu blähen. Denn ein Dorf, das einen Pastor, eine Kirche, daher auch einen Jahrmarkt und eine Tierschau und viele Schenken, viel zu viele besitzt, ein solches Dorf ist eine halbe Stadt. Richtige Dörfer haben das alles nicht, in richtigen Dörfern ist es vielmehr eine Art Fest, wenn man das Gespann der Schwarzen ins neue Sielengeschirr legt und nach den roten Dächern hin ›to Kark und to Mark‹ fährt.

Da liegen sie rechts und links vom Turmhahn am Bache – hingewürfelt, an Wälder angelehnt, groß und volkreich. Große Hufen, eine noch mächtiger als die andere, und alles in Freiheit und groß und gelassen, Dächer und Brandmauern gegeneinander und hintereinander vorschiebend.

Wie liebe ich sie! Die Dörfer auf unserm Mittelrücken des vom Ural kommenden und nach Skagens Spitze hinauflaufenden Höhenzuges und die auf seinen Abdachungen. Und wie liebe ich seinen freien, selbstherrlichen, selbstbewußten Bauern! Eine Kutsche rollt am Hofe vorbei, der Bauer steht am Weg und forkt Dünger auf den Wagen und bleibt dabei, obgleich er einen ihm bekannten ›Großen‹ in dem Reisenden erkennt. Sein wackerer Tolk bellt, wie es sich gehört, hinterdrein. Er forkt weiter und hält sich für ein nichts Geringeres als der gelangweilte Hochwohlgeborne in der von Tolk noch immer verfolgten Kalesche.

Der Eigenbauer des Mittelrückens hat nichts von Salonhöflichkeiten an sich, er ist sogar ein wenig geradezu, aber gern gebe ich dafür die dienstergebene Höflichkeit des Pachtbauern im Osten, der in der Furcht seines Gutsherrn erzogen ist und die Mütze so hübsch zu rücken versteht. Wie grob und schwer schreiten wir im Westen dagegen aus! Voll Selbstvertrauen und Stolz. Und wenn wir die kleinen, in den Falten des Geländes verschwindenden Häusergruppen der östlichen Pachtbauern als Dörfer bezeichnen, dann tun wir es in dem Bewußtsein, daß wir gnädig und nachsichtig sind und eigentlich nicht nötig haben, den Hüttenkram dafür gelten zu lassen.

 

Und nun wandelt mein Fuß auf der Erde, die zu meinem Heimatsdorf gehört, auf der halben Quadratmeile, worauf es hingestreut ist.

Vor vielen, vielen Jahren, als alles Wald war, da kamen, sagt man, Ansiedler, bauten Blockhäuser, schlugen einen Zaun um ihr Besitztum, schoben ihn immer weiter gegen den Wald vor und hörten erst auf, als sie dem Nachbarn ins Gehege kamen.

Unter Eichen gedeihen andere Menschen als unter Erlen, hier andere als im enggebauten Dorf. Einsam und doch nicht vereinsamt, sitzt jeder auf seiner Scholle, selbstgenügsam und unabhängig, vielleicht ein bißchen zu sehr.

Ich bin wahrscheinlich ebenso, hat mich doch die Erde dieses Dorfes geboren. Und wenn ich sie berühre, überströmt mich eine Fülle von Wärme.

Mich überströmt Wärme, und wenn man das Heimweh nennen will, so soll es mir recht sein. Ich glaube wirklich, das Weh um die Natur ist dabei mit im Spiel. Denn ich weiß, wie schlimm sie daran ist. Ich bin der Hüter der Geheimnisse ihrer Liebe und ihrer Schmerzen. Sie ist, ich wills sagen, ein fühlendes, ein lebendiges Wesen, wie ich selbst. Wir sind durch den ›Sündenfall der Geburt‹ Schicksalsgenossen geworden, ›in grobe Häute genäht‹, sie wie ich, und bemüht, sie wieder abzustreifen. Wenn die letzte Hülle fällt (Sterben heißt man es gemeiniglich, Weise aber nennen es Auferstehung) dann sind wir wieder eins, wie von Ewigkeit her.

Die Natur meiner Heimat und ich ... Wir tragen gleiches Leid, doch ist mein Los das bessere. Die Larve wird bei mir früher platzen, die Flügel werden mich jünger emportragen. Und dann: ›Mir gab ein Gott zu sagen, was ich leide‹ – aber dich, arme Natur, schlug er mit Stummheil. Die Sprache der Zungen und Worte versagte man dir, es blieb dir nur die stumme Gebärde. Wir aber kennen uns, ich verstehe deine Gedanken, und ins Tagebuch meiner stillen Stunden schrieb ichs hinein, mit hartem Griffel–ein wenig von deiner Freude und viel von deinem Leid.

 

Ein schwarzer Köter bellt mich an, ein gelber Hahn kräht vom Mist. Ich bin an einem Kreuzweg angelangt, wo ein halbes Dutzend Häuser zusammengedrängt ist, ein kleines Dorf im Dorf. Bis zu meines Vaters Hof sind jetzt nur noch wenige Minuten. Und breit liegt er vor mir im Grünen. Am Rande ist junges Baumgelichter heraufgewachsen, das kennt mich nicht und kümmert sich nicht um mich. Aber die vor der Haustür stehenden Großen, die Buchen und Linden grüßen mich mit stillen Neigen.

Guten Tag, ihr Alten! Es kommt ein müder Mann.


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