Timm Kröger
Eine stille Welt - Novellen
Timm Kröger

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Auf der Heide

Links an der Straße begrüßte die Reisenden ein in Grün und Blüten halb vergrabenes, durch Durchfahrt und Futterkrippen als Wirtshaus gekennzeichnetes Anwesen. Die Durchfahrt befand sich in einem dem Hauptgebäude vorgezogenen Kreuzbau, und auf ihn stützte sich das grübelnde Giebelantlitz. Vielleicht dachte es an die Kosten der offenbar notwendigen Hauptreparatur seiner Ställe und Scheuern, jedenfalls blinzelte es widerwillig und verdrossen nach dem raschen Fuhrwerk, dessen sanftes Rollen es aus seinen Träumereien aufgestört hatte.

Das Leitpferd jenes Fuhrwerks hieß Lisch und war eine braune, verständige, würdige Matrone, ein erfahrenes Rößlein. Erfahrene Rößlein unterdrücken bei dem Anblick von Futterkrippen selten den Versuch, Stimmung für einen Imbiß zu erwecken. So bog auch Lisch kühn nach links, die Bemühungen und Zurufe eines kleinen Blondkopfes, der auf ihrem Rücken die ersten Reitübungen machte und mit dem Wirtshausbesuch nicht einverstanden war, zwar gut- und gleichmütig, aber mit gründlicher Nichtachtung entgegennehmend. Es war ein Glück, daß der Wagenlenker aus seinen Träumen von Superphosphat und Thomasschlacke aufgerüttelt wurde und noch rechtzeitig die dunklen Wege des Lasters kreuzen konnte. Ein kurzes Anziehen des rechten Zügels, ein halb warnender, halb strafender Peitschenhieb führte Mutter Lisch auf den Weg der Tugend, diesmal die breite Heerstraße der Chaussee, sanft zurück.

»Du schullst di wat schamen«, strafpredigte Karsten das Leitpferd an; »von Lotte will ik nix seggn, de is jung und jiddig; aber du büst in vernünftigen Jahren. Scham schust di wat, weest dat!«

Die Gemaßregelte machte eine Bewegung, als wollte sie antworten: »Wat schall ik dorto seggn? Ques du man to!« Sie hob, Karsten zum Hohn, graziös den Schweif, Lotte machte einige alberne Sprünge; sie wollte offenbar Karstens Ansicht von ihrem jugendlichen Übermut bestätigen.

Das Gefährt rollte rasch dahin. Es trug den Doktor Peter Holm, seine Gattin und seinen Sohn, die Karsten Wrich, der Großknecht seines Bruders, vom Bahnhof abholte.

Lisch und Karsten hatten sich vollständig ausgesöhnt. Die Rosse hatten an der Fahrt ebensoviel Vergnügen wie die Reisenden, und die Frische der Jugend teilte sich von Lotte den alten Gliedern der Lisch mit. Sie blickten sich mit verstohlener Vertraulichkeit an, bissen sich neckend in die Mähnen, schüttelten schäumend das Gebiß, und weiter und weiter ging es, mit rüstigem Aufschlag der Hufen auf den Granit der Chaussee.

In dem Knattern und Schütteln erstarb die Unterhaltung, aber um so inniger suchte Doktor Peter der neben ihm sitzenden Frau durch warmen Händedruck zu versichern, daß seine herzliche Zuneigung zur Familie auch diese Reise überdauere.

Es flogen rechts und flogen links vorüber auf den dichtbewachsenen Knickwällen des nordischen Flachlandes dunkel belaubte Erlen, schillernde Silberpappeln, nickende Haselsträuche und starre Stechpalmen, der Blütenschnee des Weißdornes, die licht rosa angehauchten Heckenrosen. Es eilten und zögerten in abnehmender Schnelle die im Hintergrunde auftauchenden Häuser und Höfe, Wiesen und Anger, Gebüschgruppen und alleinstehende Eichen, diese mit wirrem Haar in grüner Waldwiese, vor Gram ob ihrer Vereinsamung zerrauft.

»Sie spielen Greifen«, klang es vom Pferde her. Und in der Tat, die Flucht der Landschaft rings umher erinnerte an Greifen und Verstecken.

Die junge Frau lächelte ihrem Liebling zu. Mutterfreude warf Sonnenschein über die sanften Züge der schönen Frau und riß den Gatten zu stürmischer Zärtlichkeit hin. Er küßte ihre Lippen, die dunkle Haarpracht, die von ihr bedeckte reine Stirn und das treue Auge, in dem die zuversichtliche Frage nicht erstarb: ›Liebst du mich?‹ Und als er alle diese Herrlichkeiten unter den Augen grüner, glotzäugiger Giebel, stattlicher Strohdächer, unter dem hämischen Antlitz schwarzer, qualmiger Rauchhäuser wirklich küßte, lag Verwunderung in den Mienen der ersteren und scheinheilige Empörung in dem hinterhältigen Ausdruck der letzteren, denn so was war auf dem Dorf nicht der Brauch. Das mußte bei alten und jungen Häusern Anstoß erregen. Der blaue Himmel aber nahm die Bezeugung dieses trefflichen Einvernehmens gut auf. Seinen schönsten Duft legte er auf die Landschaft, als das Gefährt die Chaussee verließ, in eine weite Heide einbog und nunmehr im weichen Sande mahlte, wiegte, schaukelte. Der Gesang des ächzenden und knarrenden Riemen- und Federzeugs war gesättigt von Schmerz, Verzicht, Schluchzen und Tränen, aber aus weiter Ferne klang es wie leises, verhaltenes, frohes Gelächter alter, lieber Verwandten und Freunde.

Karsten ließ seine zur Vernunft und Ehrbarkeit zurückgekehrten Pferde verschnaufen, die Frau Doktor nestelte an ihrer Frisur, die Spuren der ehelichen Zärtlichkeit zu beseitigen. Dann steckte sie Kamm und Bürste ein. Ihr Blick umfaßte die braune, von grünen Gebüschgruppen besprenkelte Ebene, um leuchtend zu dem glücklichen Auge des Gatten zurückzukehren. »Sag mal, Liebster, ob die öde Heide wohl schon mal eine so verliebte Ehefrau gesehen hat?«

Ein zweiter Zärtlichkeitserguß ging hernieder. Seine Arme senkten sich zwar vor der schalkhaften Abwehr der bedrohten Frau, um so heftiger aber prasselte ein Handkuß auf die schlanken Finger.

Da drehte sich Karsten um. Er hatte auf die Dungkraft der blühenden Lupinen, woraus Bienengesumm und Honiggeruch herüberwallte, reden wollen, aber es kam nicht zu diesem nützlichen Gespräch. Der Handkuß machte ihn sprachlos. So was Verrücktes hatte er noch nicht gesehen. Das war ihm wunderlich und dünkte ihn albern. Er machte sofort Kehrt und räsonierte bei dem erquicklicheren Anblick von Lisch und Lotte in sich hinein: ›Ne, son Stadtlüd! He düd sin Fru op de Hänn. Wat schall dat, un wat heet dat? Ob se sik ni schamt?‹

Doktor Holm schämte sich nicht. »Vor allen Dingen«, knüpfte er an die Worte seiner Frau an, »einen im Besitze seines Frauchens so glücklichen Ehemann sah die Heide noch nicht, und niemals eine so beglückende, nette Frau. Aber schilt mir nicht meine Heide! Sie ist die Heimat, die ich liebe. Ihre Unendlichkeit befreit unsere Seele, wie das Meer, ohne uns zu erschrecken. Denn sie ist treu und ehrlich, die öde, verkannte Heide. Ist nicht dies Gefährt die lieblichste Gondel, die uns sicher über braune Wellenhügel dem Hafen zuführt? Und möchtest du den duftigen Gesang fröhlicher Lerchen mit dem melancholischen Gekreisch traniger Seevögel vertauschen? Dorthin, wo am Rande des Horizonts Umrisse von Wäldern und Dörfern erscheinen, zeigt der Bugspriet unseres Bootes. Dort klappern meines elterlichen Hauses Teller in Kammer und Keller, und in der Küche dreht sich fröhlich der Spieß, uns das Beste zu spenden. Und winkt es nicht aus bläulichem, sonnendurchflutetem Duft zu uns herüber, wie freundliches Willkommen lieber Bekannten?

Nein, Liebste, schilt mir nicht meine Heide. Im Sonnenglanz spricht sie von Frieden und Glück und Behagen, und im Sturm, ja im Sturm und Regen, da predigt sie Verzicht und Entsagung.«

»Im Sturm predigt sie also Verzicht und Entsagung? Hat sie auch dir gepredigt, Peter?« Der Doktor hatte sich warm geredet. Seine Eheliebste mußte ihm die Stirn glätten.

»Ei, ei«, scherzte sie. »Du warst noch jung, Peter, als du zur Stadt kamst. Was kann ein junger Mann für Kummer haben, wenn nicht ein Frauenzimmer dabei ist! – Du lachst, du errötest, ich trafs. Nun sollst du aber auch alles sagen, du liebeskranker und auf der Heide gesundeter Schwärmer. Ich weiß noch so wenig von deiner Jugend. Erzähle mir von ihr und von den Entsagungspredigten deiner Heide. Erzähle mir auf die Gefahr hin, daß ich den Hermelin auf meinen Schultern als verblichene Ware erkenne. Ich will nicht eifersüchtig sein. Um meine Herrschaft ist mir nicht bange. Also beichte deinem besten Freunde.«

Und er beichtete:

»Vernimm also«, räusperte er sich ...

Inzwischen verfolgte das Gefährt seinen Weg – immer in weichem, gelbem Sand.

Die Heide bedeckte altes, knorriges und verkrüppeltes, junges Eichengestrüpp. Nur selten gleißte das Gold blühender Lupinen.

Vom Westen hurtig herauf schlüpften kühlende Winde, um im Gestrüpp schnell zu verrauschen. Von dort schickte die salzige Meerflut erfrischenden Gruß, und nach dort wendeten mächtige Hünengräber ihre von tausendjährigen Träumen verschleierte, rätselhafte Stirn.

›Immer langsam voran!‹ sangen und knarrten die Räder und Achsen zur Verzweiflung des ungeduldigen Knaben. Schon längst hatte er auf dem Kutschersitz neben Karsten Platz genommen, ihn in ein Gespräch verwickelt, wer die Eichen gepflanzt habe, weshalb man sie gepflanzt habe und ob der Ohm viele Pferde habe, und Füllen, Kaninchen und Hühner? .. Und immer noch Heide und kein Ende.

Einmal durchschnitt man ein in wasserreicher Talsenkung belegenes Dorf; da schien sie vorüber. Aber so schien es auch nur. Denn der Weg führte zum Dorf hinaus, hinaus auf die Heide. Vor den Reisenden entfaltete sich das alte Bild. Nur dunkel entsann man sich der Bauernhöfe, die im Schatten mächtiger Eichen am Bache gelagert hatten, und der behaglich in Apfelblüte, Bienengesumm und Honiggeruch blinzelnden Katen. Wie eines Traumbildes gedachte man der Frauen, die im Türrahmen staunend erstarrt waren, die Linke auf die Hüfte gestemmt, mit der Rechte die Augen beschattend. Verklungen war das Heer bellender Hunde, der Hofhunde, die wie das Korps der Rache über die Wälle gebrochen waren, und die Meute der Kläffer, die gerngroß dem Wagen nachgeprahlt hatten.

An den Kutschersitz schlug die Erzählung wie ein dumpfes, gleichförmiges und gleichgültiges Gemurmel. Nur auf der Heide stellte sich ab und zu ein junges, neugieriges, krummes Bäumchen hinter seinen gnomenhaften, verkrüppelten Großeltern auf die Fußspitzen und reckte Knospe und Blatt lauschend empor. Aber unter der Berührung eines menschlichen Auges tauchte es kichernd hinter den breiten Rücken seiner Ahnen, um in köstlicher Einsamkeit in kindlicher, grundloser Fröhlichkeit zu lachen und zu lauschen.

Das Gelände warf hinter dem Dorf eine breite Welle, die von dem unterirdischen Seismos bei dem Formen des Landstriches aus dem Urschlamm gehoben worden war – ein Augenblicksscherz ohne künstlerische Absicht, eine mäßige Kraftprobe des ungefügen Riesen. Aber die weite Aussicht von dem Wogenkamm erfreute das Herz unserer Freunde. Karsten hielt an und zerriß rücksichtslos den Faden des Gesprächs. Der Peitschenstiel fuhr nach rechts und zitterte wie die Magnetnadel um einen am äußersten Horizont auftauchenden dunklen Punkt, der eine Häuser- und Gebüschwolke darstellen konnte. Das sei Holdorf, erklärte er, und das – der Peitschenstiel hielt so ziemlich die Wagenrichtung, etwas nach links hinüber – das sei Neudorf, oder wenigstens der zum Hofe seines Bauern gehörige Wald. Der im Talgrunde an den Wiesen belegene Ort sei nicht sichtbar; nur den Kirchturm und den Scheunengiebel des Hofes sehe man über die Heide.

Er machte weitläufige Versuche, den Kirchturm im weiten Gesichtsfelde festzustellen, mußte sie aber als hoffnungslos aufgeben. Als Lisch sich wieder in Bewegung setzte, erklang aus den Achsen und Federn wieder die alte, die liebevolle Melodie.

 

»Vernimm also«, hatte Peter wichtig begonnen.

Bei seiner Erzählung hob ihn das Bewußtsein, etwas mitzuteilen, dessen Mitteilung sich lohne. Die Schicksale seiner Knabenjahre kamen ihm gewaltig vor, obgleich wir in Überzeugungsform beschwören können, daß auch anderswo solche Geschichten vorkommen, daß auch andern Leuten Ähnliches begegnet. Hätte er nicht eine so gläubige und verliebte Frau gehabt und wäre die Heide ringsumher nicht gar so unschuldsvoll neugierig gewesen, der Doktor Peter würde sich ganz gewiß mit seinen Sachen blamiert haben. Sie aber glaubten alle wunder was zu hören, ja sie vermeinten schier Offenbarungen entgegenzunehmen. Der Erzähler hatte auch das Gefühl, als ob seine Beichte ein wichtiges Ding sei. So fuhren sie in einer Art priesterlicher Stimmung daher.

Der Erzähler war bis zu den Jünglingsjahren im Dorf verblieben. Seine Jugend gehörte der Heide und den Heidedörfern ganz allein an, und keine Erinnerungen an Stadt- und Gelehrtenschulen schwächten das Andenken an das heimatliche Glück. Der hohe, braune Heiderücken, der Mutterboden seines Geschlechts, gehört immer mit dazu, wenn etwas erlebt worden war.

Im Laufe des ehelichen Bekenntnisses wuchs ein Hügel aus der Ebene auf. Das war der Rest eines unförmlichen, mit Eichen bestandenen Ringwalles. Die Überlieferung verlegte hierher die alte Burg der Herren ›zum Keller‹. Frau Doktor konnte den Punkt nicht finden, Karsten mußte noch einmal halten, damit die Lage festgelegt wurde. Denn ›vom Keller‹ erzählte der Doktor.

Dorthin hatte die lärmende Jugend im tosenden Räuberspiele getobt; dort hatte der träumerische Peter auf weiten, einsamen Streifzügen Rast gehalten, um die Früchte eines heimlichen Verhältnisses, das er zur Leihbibliothek des nächsten Städtchens unterhielt, ungestört zu genießen. Die berühmte Geschichte des Räuberhauptmanns »Eugen von Waldenhorst, des lebendig Begrabenen« war unter der Weste hervorgezogen worden. Er hatte sich oft in schaurigen Burgverließen unter Schlangen und Kröten befunden, war aber immer auf wunderbare Weise gerettet worden.

Dann hatte er das Buch des großen Eugen weg- und sich selber auf den Rücken gelegt, hatte die Riesen betrachtet und gefragt, ob auch sie so schöne Geschichten, Geschichten von Lebendigbegrabenwerden und von Räuberhauptleuten wüßten. So was hatten sich die alten Gesellen denn doch nicht fragen lassen wollen. Es hatte ein Knarren und ein Rauschen begonnen, von Burgfräulein und Rittern und Räubern hatten sie geschwärmt, von Hifthorn und Eschensplittern und Kampfspielen, nach Behauptung der alten Herren viel wunderbarer als alles, was in dem Buche stehe. Jene Sachen seien überdies erlogen, sie aber stünden für die Wahrhaftigkeit ihrer Erzählungen ein. Denn sie sagten nichts, was sie nicht selbst gesehen hätten.

Peter aber glaubte den alten Burschen nur halb und wollte ganz besonders nicht wahr haben, daß seine Räubergeschichten erdacht seien und sich nirgends ereignet hatten. Sie waren gedruckt, und ihre Helden herrlich und kräftig und tapfer, hauptsächlich Eugen von Waldenhorst. Ihm gefiel alles an diesen Geschichten, nur die Wichtigkeit, die darin schönen Weibern beigelegt wurde, die verstand er nicht. Dies Gehabe und Getue wegen ein Paar schöner Augen, dies Himmel-und-Erde-in-Bewegung-setzen, um ihren Besitz zu erlangen oder wiederzuerlangen, wenn er in Verlust geraten war, dieser schnöde Eigennutz, der jedem andern den Mitbesitz mißgönnte, dies weibische Flennen und Sehnen, wenn der Held seine Liebe nicht im Arm hatte, dies Übermaß von Seligkeit und Verzweiflung – Peter konnte nur sagen: es war lächerlich und langweilig. Eine Zeitlang hielt er es noch aus, dann überschlug er alle Liebesszenen und stieß erst wie ein Geier wieder nieder, wenn die Degen klirrten und die Büchsen knallten.

Was kaufte er sich für das Glück der Liebe, Gott bewahre ihn davor! Er litt nicht an dieser Krankheit. Er prüfte sich und stellte seine Gesundheit fest. Seine gesamte Mädchenbekanntschaft mußte aufmarschieren. Von allen Freundinnen sah er am liebsten Christine mit dem kastanienbraunen, gefallsüchtigen Haarzopf. Sehr gern vertiefte er sich auch in die Züge der stillen Abel, um sich an dem süßen Schnitt des Mundes zu erfreuen und an dem wunderlichen Naturspiel, daß der eine Augenstern blau war und der andere braun. Beide Mädchen waren übrigens älter als er und kümmerten sich nicht viel um ihn.

Nur die wilde braune Hummel Emma, die überfiel ihn einmal (wars Ernst, wars Scherz?) mit Umarmung. Das war gewiß angenehm, aber er hatte keine Zeit, sich auf die Haltung zu besinnen, die ein Mann in solcher Lage annehmen muß. So kam es denn, daß er schalt und schimpfte, sobald er die Lippen frei bekam, sich mithin bei einer Gunsterweisung, deren Vorstellung andere junge Leute trocken niederschlucken macht, so unverständig wie möglich benahm.

Die alle waren nette Mädchen, aber seine Seele füllten sie nicht aus. Er würde nicht verzweifeln, wenn sie ihn nicht zum Gatten erwählten. Es stand fest, er war nicht verliebt. Auf die Unabhängigkeit seines sechzehnjährigen Herzens bildete er sich nicht wenig ein. Er wurde hochmütig.

Aber Hochmut kommt vor dem Fall.

 

Der Wagen bewegte sich auf der Höhe von Holdorf. Holdorf selbst liegt ziemlich weit von der Fahrstraße gegen Morgen hin. Seine Höfe und Häuser hoben sich in Schattenrissen von einer langgestreckten, grauen und ruhigen Wolkenwand ab. Aber darüber in lichter Höhe sah man im weißgetürmten Wolkensaal Gestalten, bei deren Deutung Peter unheimlich viel Phantasie verriet. Die Wolkenhäupter mußten sich nach seinem Gefallen formen und richten. Erst sollten sie eine Götterversammlung sein, die sich über Peter Holms Erlebnisse auf der Holdorfer Gilde lustig mache. Der unnütze Geselle mit dem Bogen, behauptete er, sei auch dabei. Er schleife Pfeilspitzen zu neuen Untaten. Dann war es die Gildefeier selbst, was drüben in den Wolken tose. Er sah die Paare im Tanze wirbeln, hoch oben strich ein weißbärtiger Alter die Baßgeige. Aber wie sehr auch Peter die Ansprüche an die Folgsamkeit seiner Gattin steigerte: es ging nicht über ihren Gehorsam und nicht über ihre Liebe.

 

In Holdorf war Gilde, und mit Wilhelm zusammen ging er dahin er ein gewöhnlicher Gast, Wilhelm durch eine Joppe über das niedrige Gildengewürm emporgehoben. Und Wilhelm wußte, was ihm stand.

Auf der Dorfstraße von Holdorf gurrte ein lustiges Volk flüchtiger Schürzen auf. Eine weiße, eine dunkle, eine stahlblau und gelb geringelte, wie glatte Schlangenhaut schillernd. Und alle drei waren lang, breit, bauschig, ließen nur einen schmalen Streifen der Wollröcke mit den hineingewebten schmalen Seidenstreifen frei und umspannten gedrungene Taillen fröhlicher Mädchen.

Wilhelm eröffnete aus seinen braunen Augen ein Bombardement, die lieben Kinder erwiderten mit einer Salve und ballten sich in schwesterlichen Armverschlingungen zu einem Knäuel siamesischer Drillinge zusammen, dem Festhause zukichernd.

Einem König gleich zog Wilhelm ein durch das große Tor auf die Hausdiele. Dort hing unter der von Leinen überspannten Heuluke das Holzgestell des Kranzes, das mit vier Talglichtern versehen war, vergraben in Blumen, Grün, Flittergold und bunten Eiern. Kuhkrippen und Pferderaufen waren mit Fähnchen bedeckt, aber der schönste Schmuck war eine Reihe junger Mädchen, die in Hufeisenform drei Wände der Diele umrahmte. Wie lieblich Farbe um Farbe wechselte, wie reizend die neidlose Ruhe, die ihrer Macht unbewußte Demut, die den verführerischen Fleischton der runden Arme in den Gewändern vergrub! Ein Gemisch von Wohl- und Stallgeruch, der Dampf von Zigarren erfüllte den Raum und erzeugte in Peter eine feierliche Stimmung.

Wilhelm deutete mit der Berechnung eines Bühnenkünstlers seine Erscheinung aus. Der Ruf des Staatskleides war schon durch das vor ihnen hergetriebene Völkchen in den Tanzboden gelangt. Während Peter eintrat, zeigte Wilhelm sich auf dem sonnbeglänzten Hofplatz vor dem Eingang. Es galt zunächst mehr die Vorstellungskraft anzuregen, als das Auge zu laben. Sodann hoben sich Umrisse und Farbe im Türrahmen ab. Zwei Murmelwellen des Entzückens flossen von beiden Hufeisenenden durch das Schürzenmeer.

Und im Brennpunkt saß ein Mädchen, dessen Schönheit unseren Freund überwältigte, das den Jüngling so krank machte, wie nur jemals ein Knabe auf der Heide krank gewesen ist.

Peter hatte die Gewohnheit, seine Leiden an ewigen Größen zu messen. »O, Liebe«, rief er aus, »gepriesenes und gescholtenes, aber immer verkanntes Gefühl! Lobredner und Lästerer, die deinen Ursprung in unserer erdgeborenen Person suchen, weg, es sind Priester, deiner nicht würdig! Deine Wonnen und Schmerzen sind Geschenk und Prüfungen des Weltgeistes, sie sind nur halb unser eigenes Wohl und Weh!«

Wenn Peter in diesem Tone sprach, dann war es ihm heiliger Ernst, nun hatte seine Frau einen Anhalt für den Grad der Verliebtheit, die Peter so offen gestand.

»Ja, Frau«, sagte er, »ich liebte sie. Es verwirklichte sich alles, was ich gelesen hatte. Ich liebte sie auf den ersten Blick. Als mein Auge ihre Erscheinung erfaßt hatte, da wußte ich, daß mein Geschick erfüllt sei, daß auch ich weinen und flennen müsse, wenn sie nicht mir und mir allein gehören werde. Ich liebte – liebte ihre Figur, ich liebte auch das in ehrengelben Falten herabfließende Gewand, war doch jede Falte ein Teil von ihr. Es umarmte, es schützte, es schmückte den lieblichen Leib, es hob die prächtige Figur aus Druck und Enge. Sie sproß wie ein schlanker junger Eschenstamm.

Ich weiß kaum noch, war ihr Haar blond oder brünett? Frag nach Augen, frag nach Gesicht: ich sag, ich weiß nicht. Die stumme Sprache ihrer in allen Schlag- und Sonnenlichtern spielenden Miene riß mich hin, raunte mir zu, über die Köpfe der Menge hinweg, durch Zigarrendunst und Qualm hindurch: Komm, küsse mich!« – Ich haschte nach ihren Augen – unsre Blicke begegneten sich. Es leuchtete in ihrem Antlitz auf. War das die Liebe ihrer Seele?

O über den tückischen Kobold! Jetzt rächte sich der Liebesgott wegen Verspottung seiner romanhaften Jünger. Jetzt schlug er mich selbst mit der göttlichen Blindheit, mit der Unfähigkeit, folgerecht zu denken, und was ich sonst Liebenswürdiges dem Burschen nachgeredet hatte.

An der Diele unter den Hilgen standen die Kühe und sahen naiv und verwundert ins Gewühl. Und auf den Hilgen im Heu, hinter einem Ständer, stand er selbst. Ich habe seine Locken gesehen und sein schadenfrohes Gesicht. ›Hab ich dich endlich!‹ stand darin. Ich hörte das Klingen der Sehne, das Schwirren des Pfeils. Mein Herz zuckte im leisen Weh, es lag mir schwer in der Brust. Ja, das war die verhöhnte, die verspottete Liebe!

Die Musik begann; die Musik rauschte und lockte, aber die Saaldiele blieb leer. Zwei Minuten lang blieb sie leer, dann schritt der Joppenträger Wilhelm hervor und wählte – meine Liebe. Ihr Blick schien was zu suchen, als sie ihre Hand auf seinen Arm legte. Es folgte dichtes Gewühl, und das Ährengold ging von Hand zu Hand.

Meine Augen verfolgten sie. Wie wand sich ihr gelbes Kleid durch die Paare! Und wenn die aufgestaute Menge jeden Ausweg zu versperren schien, siegend und fröhlich schaffte es Bahn.

In den Pausen sah ich meinen Freund, glühend vor Lust, Aufregung und Grog. »Weshalb tanzest du nicht? Und wie du aussiehst! Als ob dir der Kohl verhagelt! Du, die Gelbe, Anna von Leesen, prachtvoll, was? Und wie sie tanzt!«

Da bot ich meinen Mut auf. Als ich über den Tanzboden schritt, grüßte mich ihr Auge. Aber zwischen Lipp und Kelchesrand ... sie wurde mir von einem Knecht weggeschnappt. Der robuste Bursche schlug mit einer Sicherheit, die mir fast übernatürlich vorkam, von unbändiger Lust mit dem Hacken auf den Brettersaal.

Der Rheinländer ›Jule, wasch dich, putz dich, kämm dich schön!‹ machte aus der Menge ein schwingendes Chaos. Das war ein Juchzen und Jauchzen, der Tanzboden dröhnte, und darüber die alberne Klarinette.

Mich ergriff ein tiefes Weh. Dies rohe Lustigsein, dies Fröhlichsein um jeden Preis! Mir klangs wie die Sage von einem schönern Stern, nach dem man sich in Sehnsucht verzehrt.

»Wir sind vergnügt und habens gar nicht nötig«, erklang ein Singsang irgendwoher aus den Räumen des Hauses. Jawohl! Für das Singen und Springen entfiel jeder Grund.

Wenn ich ganz verzweifelte, tröstete mich merkwürdigerweise am ehesten die Vorstellung von der Größe der Welt. Auch jetzt flog ich in den unendlichen Raum. Die Erde rollte schweigend um die Sonne. Und in Holdorf vergaß man Himmel und Erde im tobenden Tanz.

»Wir sind vergnügt und habens gar nicht nötig!« Die Klarinette rief, bei Klarinettenklang hab ich immer ein weinerliches Gefühl. Heute zumal versenkte sie mich in ein Meer von Weh. Ich entfernte mich still aus dem lärmenden Hause, vergrub mich in die Gebüschgruppen des Gartens, saß auf einsamer Bank und weinte ob meiner jungen Liebe, so heftig und heiß, wie nur je der berühmte weiland Eugen von Waldenhorst, ,der lebendig Begrabene', geweint hatte. Ich schämte mich meiner Tränen nicht, denn auch Eugen hatte geweint und war ein größerer Räuber als ich.

Hier im Westen, Geliebte! Die alten Fichten! Sie machen verdutzte Gesichter. Ists nicht, als ob sie uns verwundert nachsehen, als glaubten sie mich wiederzuerkennen, trauten aber ihren Augen nicht? Sie neigen ihre von Weststürmen gebeugten Kronen dem Sonnenaufgang zu, die eine ein Regenschirm mit geknickter Rippe, die andere ein Künstler, dem der Sturm die Mähne über die Stirn geworfen hat.

Bei ihnen brach ich am folgenden Tage den weichen Acker mit dem Pflug.

Zwischen dem Pflüger und seinen Rossen waltet das Verhältnis der Vertraulichkeit. Der Zuruf des Hüh! und Hoh! klingt zu den Pferden sanft und väterlich hinüber; dafür nicken sie ihm bei der Wendung mit kindlich ergebenem Gruß. Und gleichförmig wendet sich der Faden kollernder Ackerschollen über der Pflugschar blinkende Scheibe. Ich hatte zu denken und zu sinnen. Welch ein Tag lag hinter mir, und welch eine Nacht! Musik vor den Ohren und trunkner Gesang, und in der Brust ein krankes, ein sehnsüchtiges und doch so fröhlich es Herz.

Die Gildenfeier hatte einen besseren Ausgang gehabt, als der Anfang versprochen. Ich hatte die Unfreiheit doch noch abgeschüttelt und mich der Gefeierten genähert. Sie war meine Gildenbraut geworden, und am Schluß hatte ich sie nach Hause gebracht. Was für eine Nacht, was für ein Morgen! Mitternacht war längst vorüber, das Lichtstümpfchen in ihrer Kammer erloschen, ich aber saß noch immer schwärmend in ihrem Garten, nach ihrem Fensterchen sehend, die Sterne anrufend, bis sie verglühten. Auf der Dachfirst schwatzten die Stare, Nachttau tropfte von Blatt und Baum, ein leiser Wind kühlte Wange und Stirn, löschte aber nicht die Glut ihrer Küsse von meinen Lippen. Ich war noch zur Stelle, als der heraufsteigende Morgen den ersten Lichtschimmer auf die Fensterreihe warf. Ironisch glitzerte es über das vieläugige, verwitterte Haus, und in den Giebeln leuchtete es wie Spott über meine erste, meine junge, meine arglose Liebe.

 

Natürlich behielt das alte Haus recht. Anna ist die Frau meines Freundes Wilhelm; seit der Holdorfer Gildefeier verfloß etwa ein Jahr, da war die Verlobung fertig.

Es lagen mancherlei Gründe dafür vor, daß es so kommen mußte, aber ich will davon schweigen und von dem, was mich innerlich bewegte, nur so viel sagen, daß mir sogar die Lage der Erdachse im Weltenraum gleichgültig geworden war. Ich glaubte kaum noch daran, daß die Erde sich überhaupt bewege. Meine Gedanken standen still, still stand auch die Erde.

Pastor Nissen in Holdorf hat das Brautpaar aufgeboten. Wie ich bezeugen kann, geschah es nach Vorschrift und Ordnung, war ich doch selbst zugegen. Als er den Segen des Allmächtigen auf das zukünftige Ehepaar herabflehte, da litt es mich nicht mehr. Ich stand auf. Und wenn ich auch störte und wenn ich auch auffiel, ich mußte hinaus. Zu Boden gedrückt unter den Blicken eines Kirchspiels, ging ich den langen Steig entlang, verließ die Kirche und schritt hinaus auf die Heide.

Wie viele Seelen besitzt der Mensch wohl? Als ich die Dorfstraße entlang ging, dachte ich daran, daß der Weg gebessert werden müsse, daß es jetzt eile, die Buchweizensaat zu bestellen, daß der Pastor Nissen einen Höcker auf der Nase habe und eigentlich ein häßlicher Mann sei, daß Kaiser Napoleon nichts tauge, daß ich sehr hungrig sei, Lammfleisch mit Kohl aber vorzüglich schmecke. Daneben der Gedanke, daß noch niemals ein Mensch so unglücklich gewesen sei wie ich, und daß ich mich von Rechts wegen totschießen sollte.

Die Gedanken trieben allerlei Unfug, schossen Purzelbäume, blickten sich verwundert an, brachen in Weinen aus und erstickten dann in berstendem Gelächter. Und den Gedanken entsprach mein Gebaren. Ich fühlte meine Augen übergehen und fuhr mit dem Ärmel über mein Gesicht. Dann kicherte ich leise in mich hinein. Und als ich auf der Heide stand, kam es mir widersinnig vor, mich wegen einer Sache zu grämen, die kein Gram ändere, ein Mädchen besitzen zu wollen, das einen andern vorziehe. Die angeerbte Verständigkeit erwachte, und Anna, die Einzige, wurde zu einem Mädchen wie andere mehr, verwandelte sich in eine meßbare Größe.

Als ich auf der Heide stand, zwischen Neudorf und Holdorf bei meinem Fichten, dem Regenschirm und dem Künstlerhaar im Lupinenfeld, nahm die Erde ihre Drehung und Bewegung wieder auf. Erst langsam, jankend und seufzend, als wäre die Achse eingerostet – dann schnell und schneller, als ob viel versäumt und nachzuholen sei. Und ich stand auf der drehenden, fliegenden Erde zwischen Neudorf und Holdorf auf der Heide, kreiste mit ihr um die Sonne, und die Sonne durchflog mit uns und allen Trabanten den unendlichen, den ewigen Raum. Und auf der Sonne thronte Gottvater, lächelte gütig und nickte mir zu.

So fand ich mich wieder. In Regen und Wind. Der Sturm knackte in Fichten und Föhren und rauschte im niedrigen Eichengestrüpp. Der Regen gischte mir ins Gesicht (so war es mir recht), grauer Wolkenschleier verhüllte Heide und Wald und Moor und Brook. Die Wohnungen der Menschen versanken! ... O köstliche Einsamkeit!

 

Dorf und Kirche lagen vor den Reisenden. Der Wagen schaukelte im Sand, von dem Heiderücken hinab langsam zu Tal. Aber noch einmal mußte Karsten halten. Das Doktorpaar sah nach der Heide zurück, nach den windzerfaserten Kronen der alten Fichten.


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