Timm Kröger
Eine stille Welt - Novellen
Timm Kröger

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Im Knickweg

Ein blanklackierter Stuhlwagen, zwei prustende, wohlgenährte Falben davor, ein Bauernehepaar, sonntäglich angezogen darauf, er mit einem schwarzen Hut und sie mit einem weißen Hut und roten Blumen, vergnügte Gesichter – offenbar auf freundschaftlicher Besuchsfahrt.

Ja, auf Verwandtenbesuch. Hans Tank hat eine kleine Landstelle, worauf zwei Pferde gehalten werden, für die es aber nicht einmal im Sommer immer zu tun gibt, zumal im Frühling nach Einbringung der Saat und Ausfahren der Komposterde und vor dem Surren der Sensen im Wiesengras. Darüber hat er oft geklagt. »Ich verdien' jeden Tag meine Kost«, hat er gesagt, »die Gelben sollten es billig auch«.

Und Heuer ist wieder die freie Zeit gekommen. Überall ist es frisch und grün aufgesproßt; die Gelben haben im Wischhof geweidet, dabei den Kühen das beste Gras weggenommen, und gestern zur Zeit der Mittagshitze sind Hans und Anna an den Falben, die einander die Fliegen abjagten, vorübergegangen, und Hans hat wieder davon angefangen, daß die Pferde nichts verdienten und den Kühen das beste Futter wegfräßen. Da hat Anna einen Augenblick nachgedacht und gesagt: »Weißt was, Hans? Wir haben immer in Kisdorf besuchen wollen. Nun tun wirs und fahren mit eigenem Fuhrwerk hin, spannen die Gelben an und nehmen einen tüchtigen Futtersack mit. Nicht wahr? Dann brauchen wir kein Eisenbahngeld auszugeben, und sparen den Kühen das Gras«.

In Kisdorf hatte Anna eine Schwester wohnen. Es war weit weg, im Segebergischen, aber Jahr für Jahr besuchten sich die Schwäger mit ihren Frauen, indem sie eine Stunde zu Fuß nach der Bahn gingen, zwei Stunden darin saßen und eine halbe Stunde mit dem Wagen des zu besuchenden Gastgebers fuhren. Nun sollte die ganze Tour mit eigenem Wagen gemacht werden, das komme nicht viel teurer und sei nebenbei ein groß Pläsier. Hans ist das erst wunderlich vorgekommen, aber dann hat es ihm eingeleuchtet. Und deshalb finden wir ihn und seine Frau auf der Landstraße.

Das Wetter ist fest geblieben. Zwei und eine halbe Stunde sind sie schon unterwegs, einmal haben sie Rast gemacht. Im Krug zum Föhrdener Pohl haben die Falben Futter und einen Eimer Wasser bekommen, nun zuckeln sie wieder behäbig auf sandiger, aber nicht zu loser Straße zwischen Hecken dahin. Und der Frühling schaute auf den Wagen und auf die, die darin saßen; lachend sah er auf sie herab, mit glühender Liebe als Sonne aus erhabener Höhe, in Gestalt weißgetürmter Wolken aus hoffnungsseligem Blau und überall verstohlen durch die Büsche des Wegknicks.

Dem Bauer wurde ganz übermütig zu Sinn. Nicht oft empfand er die Wohltat des Müßigganges. »Wer alle Tage so tun könnte wie heute«, frohlockte und seufzte er. »Wer es so haben könnte, jeden Tag auf Besuchswagen sitzen, die Federn janken lassen, den Futtersack hinterm Wagenstuhl, Geld in der Tasche, an den meisten Wirtshäusern vorbei, bei einigen ankehren, schäumendes Bier trinken und dann weiter in die schöne, große Gotteswelt hinein, durch Dörfer hindurch, die man gar nicht kennt, wo man die Häuser vor Kirsch- und Apfelblüten kaum sieht, Lerchen überm Kopf und Drosseln zur Seite – ja, wer es immer so haben könnte!«

»Das wäre wohl zuviel«, meinte Anna. »Wir haben es zu Haus für Alltag doch auch ganz gut. Ist es nicht so, Hans?«

»Nu ja, schlimm haben wirs nicht, aber wenn man daheim ist, kommt man vor Arbeit nicht zu sich selbst, ich nicht und du auch nicht. Und wenn mans auch gar nicht nötig hat, man hats nicht gelernt, faul auf der Bank zu liegen.«

Er sprach noch mehreres in der Art. Sagen wollte er, daß das Pflichtgefühl ihn zu Hause nicht zu der reinen Freude der nichts wollenden, nichts wünschenden Stunden, die ihn jetzt so warm durchriesele, gelangen lasse.

Seine Frau stieß ihn neckisch mit dem Ellbogen. »Jedes Jahr mal mit den Gelben nach Kisdorf, ist das gar nichts?«

Hans Zank antwortete nicht, er konnte nicht gleich mit sich darüber einig werden, ob er noch mehr vom Leben zu verlangen berechtigt sei.

Da fing seine Frau wieder an: »Fahr mal an den Knick heran, ich will ein paar von den Blumen abreißen, die riechen so stark, und der Saft schmeckt so süß.«

Ihr Mann konnte gar nicht riechen, aber er tat so, wie Anna wollte, und Anna pflückte im Vorbeifahren einen kleinen Strauß von Geißblattblüten und -blättern.

»Die mag ich so gern, sie sehen aus wie Hände, die was Liebes tun wollen. Ist es nicht so, als ob ein Engelskind die Fingerlein ausstrecke, Glück zu geben oder zu empfangen? Sieh mal, Hans!«

Hans besah die Blumenhände eine Weile und zeigte dann auf einen weit und kratzig und dabei frisch und weich in den Weg hineingeschwungenen, buntbesäten Heckenrosenstrauch. »Ich mag die lieber«, sagte er und lächelte seine Frau mit einem Anflug von schämiger Blödheit an. »Die haben Ähnlichkeit mit dir.«

Anna lachte. »Du tünst, Hans!« antwortete sie.

Den Vorwurf nahm er schweigend hin. Wenn er dergleichen sagte, wie eben, wenn solche Gedanken herausplatzten (er hatte sie öfters), dann mußte er immer, nicht nur von Anna, auch von anderen hören, daß er tüne, daß er Unsinn spreche. Da glaubte er es denn auch selbst. Wo gab es auch im Dorfe oder sonst auf der Welt wohl einen Mann, der Blumengesichter und Frauengesichter verglich? Und nun war es wieder geschehen. Verstohlen schaute er auf seine Frau. Als er sie vor sieben Jahren genommen hatte, da war sie noch nicht so braun verbrannt gewesen und noch nicht so voll und noch nicht so rund, da hatte sie feiner ausgesehen, und deshalb war er gerade darauf gekommen, sie mit einer Heckenrose zu vergleichen. Nun paßte das nicht mehr so wie damals, sie war zu viel ohne Hut in der Sonne gegangen, hatte auch viel gebuttert und gearbeitet. Aber ihr blauer Augenaufschlag, ihr voller, gläubiger Blick gab (dabei mußte er bleiben), ihr Gesicht sagte etwas, was er in dem Blumengesicht der Heckenrose wiederfand.

Zu Hause hätte er wohl nicht so gesprochen; hier aber, weit weg vom Haus, im fremden Heckenweg, in fremder Natur, in voller Freiheit, wo alles abfiel, was sonst immer in ihm pochte und heischte, hier war es doch anders; gerade nun und gerade hier glaubte er das, was er gesagt, gut verantworten zu können. »Lat scheeten!« dachte er und fuhr in den blühenden Frühling hinein.

Es war ein milder, sonniger Tag, und unserm Hans wurde im dicken Bauernzeug ganz warm. Die Hufe der sanft trabenden Gelben warfen Staub auf, nicht viel, aber doch etwas. ,Der ganze Tag liegt vor uns', dachte Hans, ,vier Stunden noch, dann haben wirs. Warum die Gelben quälen?' Er ließ die Pferde im Schritt gehen, steckte die Peitsche ein und lehnte sich mit Behagen zurück.

Da fragte Anna: »Weeßt, wokeen du lik sühst?«

»Nä, wokeen denn?«

»Als Vater und Mutter erst vier Wochen im Dorf wohnten und ich dich zum ersten mal sah, wie du zu Vater kamst und bestelltest, daß die weiße Kuh im Moorgraben liege, da sahst du aus wie 'ne grüne Nuß, und eigentlich mochte ich Wilhelm Haupt, der jeden Tag mit mir rum jachterte, lieber leiden. Da warst du noch grün, nun aber bist du ganz braun und reif geworden.«

»Holl din Mund!« Er lachte laut und legte seine große Hand auf ihre Lippen. »Holl din Mund!« wiederholte er, »nu tünst du mehr as ik.«

Ausdrücklich verwahrte Anna sich nicht, im stillen aber dachte sie: stimmen tut es doch. Was für ein Unterschied zwischen damals und jetzt! Damals ein unreifer, grüner, schlandriger Junge; mager wie ein Reck – und nun? Er ist voller und fester und brauner geworden. Auch das Haar sieht dunkler aus, nur nach der Nackengegend hin, wo die Mütze nicht mehr reicht, hat die Sonne es hell gemacht, am dunkelsten ist es in der Mitte. Aber das alte gute Gesicht damals und heute.

Es war so, wie sie dachte. Als sie Hans kennen lernte, mochte sie sein Äußeres eigentlich nicht. In dem Punkt konnte er sich mit Wilhelm Haupt, der so volles braunes Haar hatte und braune Augen, nicht messen, aber sie hatte ihn sonst so gern. Er war so gut und so fröhlich bei allem Ernst, während aus Wilhelm Haupts Munde immer nur Spaßiges, zu viel Spaßiges kam. Schade freilich war es, daß so schwer an Hans heranzukommen war. Verliebtheit sprach aus seinem Wesen, aber er war so blöde, so unfrei, es war nichts mit ihm zu machen. Koketterien und Ermunterungen – alles prallte ab. Schließlich mußte sie ihn aufgeben und, damit ihr nur nicht alle Felle wegtrieben, Wilhelm Haupt Hoffnung machen. Das half, denn da legte Hans los, da schrieb er wenigstens einen Brief, über den Schwester Stine, die jetzt in Kisdorf wohnt, damals so viel gelacht hat, daß sie, um die so heiß geworben wurde, ernstlich bös werden mußte: »Ein Umstand nötigt mich, die Feder Anzufassen. Mit Betrübtem Herzen mache ich Dich mein Innres auf, ich wollte es so gern Mündlich sagen, aber ich kann es nich –« Und so weiter.

Und als sie ihm den folgenden Tag in Peter Hödts Schmidts Redder begegnete, sagte er kein Wort. Eine Weile wartete sie, was wohl kommen werde, aber wie sie sah, daß nichts komme, wie er mit bebenden Lippen vor ihr stand, da machte sie der Sache ein Ende, fiel ihm um den Hals und sagte: »Ja, Hans, ik will dat.« So nahm sie ihn. Und wenn er noch einen Tag länger mit dem Brief gewartet hätte, dann hätte Wilhelm Haupt sie gekriegt; durch Schwester Stine hatte er schon sagen lassen, daß er Sonntag kommen wolle, das Jawort zu holen.

Erst hat Wilhelm Haupt sich geärgert, soweit ein Mann wie Wilhelm sich überhaupt ärgern kann, dann aber hat er sich gefunden und die schmucke Wiebke Iff genommen. Und im Grunde passen Wilhelm Haupt und Wiebke Haupt, früher Wiebke Iff, auch viel besser zusammen. Sie wohnen im Nachbardorf und oft treffen sie sich nicht mit Hans und Anna, aber wenn – dann spaßt Wilhelm immer, daß Hans ihm zuvorgekommen sei, und tut es sogar, wenn seine Frau dabei ist. Und dann lacht Wiebke noch mehr als er und schlägt ihn mit beiden Händen in den Nacken, und Wilhelm macht sich krumm, und immer ist dann großer Spaß und groß Gelächter.

»Holl din Mund«, hatte Hans zu Anna gesagt, als sie behauptet, er sei eine Nuß. »Holl din Mund, du –« Er hatte seine große Hand auf ihren Mund gelegt. Aber das genügte nicht, unter der Hand sagte sie in einem fort: »Es ist doch wahr, und ich tüne nicht.« Da half es nicht, da mußte er die Falben gehen lassen, wie sie wollten, und das Leitseil um die ,Toppen' der Wagentrommel winden, da mußte er es tun, nämlich seine Frau in beide Arme nehmen und sie küssen. Und da der Mund noch immer weiter pappelte, mußte er es so stark machen, daß er es nicht mehr konnte.

An beiden Seiten des Weges ein hoher Knick. Und die Falben immer langsam im Gleise, immer im Schritt. Und es wäre alles in Ordnung gewesen, wenn der Weg nicht eine Biegung gemacht und um die Biegung herum nicht ein flott jagender Wagen, ein Leiterwagen, entgegen gefahren wäre.

»Hollt, stopp!« schrie der Fuhrmann. Da ließ Hans seine Anna, rollte mit rascher Hand die Leine vom Toppen und zog sie scharf an und brachte die Gelben zum Stehen, just früh genug, einen Zusammenstoß zu verhüten.

»Dar gung na eben god«, kam es von dem anderen Gefährt. Und dann eine volle Lache – »Ha, ha, Jung, Hans Tank, büst du dat? – Wat hev ik sehn? Ja, ja, dat kummt vun de Liebe!«

Es war ein stattlicher, brauner Mann, einer mit leuchtenden Augen und mit einem Gebiß, das auch leuchtete, aus Mund und Bart herausleuchtete, eine frische, blonde, kichernde Frau saß prall neben ihm auf dem Sitzbrett.

Und beide Wagen hielten, Seite an Seite. Der braune Mann noch immer lachend und sich aufs Knie schlagend. »Deern, Anna, dor hest awer'n Hitzigen kregen! So dull harr 'k ni kunnt.« Und zu seiner Frau gewendet, sagte Wilhelm Haupt: »Wieb! Wenn ik Anna Witten kregen harr, in der Hinsicht, wat Küssen un Ficheln anbedräpt, dor glöv 'k, weer ik god ut wesen.«

Hans fand vor Scham kein Wort; alles hatten Wilhelm Haupt und seine Frau mit angesehen. Anna aber faßte sich rasch, lachte und sagte: »Kommt bi ol Lüd mal mit vör. Bi ju ok wiß. Is ni so, Wieb?«

»O, ja«, entgegnete Wieb, »all Vierteljahr mal. Awer to Hus. Bi Peer un Wagen, bat kennt wi ni.«

Aber das konnte der ehrliche Wilhelm nicht hingehen lassen. »Ni bi Per und Wagen? Un vergangn Week, as wi Gras för de Kalwer holn deen? Wat passeer do? – Nä, Wicb. all wat rech is.«

»Dor weern keen Peer vör.«

»Un Himmelfahrt, as wi vunt Ringrieden keem? Weern dor do ok keen Peer vör?«

»Ja, do..«

»Ümmer bi de Wahrheit bliewen, Fru, wenn 't ok swar fallt! All Vierteljahr? Mehr ni? Kanns da beswörn?«

»Na, dat kann 'k ni«, gestand Frau Wieb.

»Awer, wenn 'k de kregen harr«, und Wilhelm Haupt zeigte mit Hand und Peitsche nach Anna, »dor weer keen Dag hingahn ...«

Das Weitere verschluckte er und steckte den Kopf zwischen die Schultern, denn Wieb trommelte ihren kräftigsten Marsch auf seinem Rücken. »Hest ok son Wievstück, Hans?« fragte er dabei zwischen Lachen und Prusten.

»Wer wece, wat kommt, Wilhelm?

So spaßte man, dann kam ein halb ernsthaftes Gespräch, worin Auskunft über Ziel der Fahrten gegeben wurde. Und darauf verabschiedete man sich, die Wagenlenker hoben die Peitsche.

»Dat mutt 'k seggn«, lobte Wilhelm, »'n Staat is't mit ju beidn achter de Gelen. Awer, Anna, Passers weern wi ok warn, dat harr sik ok god makt mit di un mi.«

Frau Wieb fing wieder an zu trommeln und Hans entgegnete: »Schön harr sik dat makt, awer beter is beter.«

Beide Wagen kamen in Bewegung. Bei dem Gelächter drang Wiebs helle Stimme noch einmal durch: »Dat schall wahr bliewen, beter is beter.«

Anna wendete sich um. Wieb trommelte wieder. Wilhelms Kopf war nur angedeutet, so krumm und ›ducknackt‹ saß er, aber aus dem Schütteln, aus allem merkte man, so ein Spaß, das war was für ihn: vor Lachen wußte er sich nicht zu lassen.


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