Paul de Kock
Der Mann mit drei Hosen
Paul de Kock

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Achtes Kapitel.

Das Belvedere in Passy

Prosper trieb sein Pferd nach Kräften an; in Ermangelung von Sporen bohrte er ihm die Fersen in die Weichen, schrie ihm zu und zerrte es mit dem Zügel, so daß er die Strecke, die Passy von der Hauptstadt trennt, in kurzer Zeit zurückgelegt hatte. Er langte am Landhause des holländischen Bankiers an, es lag in der tiefen Straße neben der Kirchstraße; von einem auf dem Dache erbauten Belvedere genoß man eine wunderschöne Aussicht: man hatte alle Krümmungen der Seine, die umliegenden Landsitze und einen Theil von Paris vor Augen. In diesem Belvedere brachte Madame Derbrouck täglich mehrere Stunden zu. Sie ließ sogar oft die Wiege ihres Säuglings hinauftragen, und während sie über ihre Tochter wachte, kehrten sich ihre Blicke der Straße von Paris zu, woher sie ihren Gatten kommen zu sehen hoffte, welchen sie noch immer erwartete, denn ihre Dienstboten hatten ihr sorgfältig die schreckliche Nachricht verborgen gehalten, indem sie fürchteten, ihre Gesundheit werde in dem Zustande in welchem sie sich befand, einen bedeutenden Stoß erleiden, wenn sie den Tod ihres Mannes erfahre.

Prosper klopfte leise an das Hofthor, er wollte die Bewohner des Hauses nicht erschrecken und doch gehört sein.

Beim zweiten Schlag öffnete der Gärtner, welcher zugleich der Portier war, sein auf die Straße gehendes Fenster und fragte, wer klopfe.

»Ich, mein guter Hermann; ich Prosper ... kennst Du meine Stimme nicht?« – Ah doch! ... ich erkenne Dich, lieber Junge ... Ei, mein Gott! was thust Du zu dieser Stunde hier ... Du hast vielleicht kein Nachtlager? ... Warte, ich will Dir aufmachen.«

Der Gärtner zog seine Beinkleider an und öffnete das Hofthor; Prosper ging mit seinem Pferde hinein, band es im Hofe an und sagte zu Hermann: »Wo ist Deine Gebieterin?« – Oben ... Ich hoffe, die arme Dame schläft ... Ach! mein lieber Prosper! weißt Du, daß unser guter Herr ... – »Ich weiß Alles ... Ich habe in Melun diese schreckliche Nachricht erfahren! ... Aber seine Frau?« – Weiß es nicht ... seit drei Tagen haben wir, ich und die übrige Dienerschaft, es sorgfältig geheim vor ihr gehalten. Es könnte ihr in ihren Umständen ... als Frau, die säugt! großen Schaden bringen. – »O! Du hast Recht, Hermann! Ihr seid Alle brave Leute! ... ihr liebt eure Herrschaft sehr.« – Mein Gott! das ist ganz natürlich ... sie hat uns nur Gutes gethan! – »Ach! mein Freund, die Erkenntlichkeit ist heutzutage nichts Gewöhnliches mehr, sie ist eine seltene Tugend geworden. Allein ich muß durchaus mit Madame Derbrouck sprechen.« – Wie! diese Nacht noch? – »Ei! natürlich, sogar sogleich ... es ist keine Zeit zu verlieren, denn es handelt sich um ihre Rettung.« – O! mein Gott! steht ihr Gefahr bevor? – »Man wird bei Tagesanbruch ... vielleicht während der Nacht noch ... kommen, um sie zu verhaften.« – Sie verhaften! – »Ja, das Ungeheuer, welches den Mann angeklagt hat, hat auch die Frau angegeben. Es benützt den Schrecken, den es in seiner Sektion einflößt, zur Befriedigung seiner Privatrache, und auf solche Weise wagen viele vorgebliche Patrioten zu behaupten, sie dienen der Republik.« – Ach! diese Neuigkeit lähmt mir Arme und Füße. – »Jetzt ist nichts nöthig, als Muth und besonders Thätigkeit. Wir wollen die andern Dienstboten nicht aufwecken, es wäre ein Ueberfluß. Laß uns zur Madame hinaufgehen; Du klopfst leise an und rufst sie, um sie von meiner Ankunft zu benachrichtigen.« – Ja, ja! wir wollen hinauf.«

Der arme Gärtner hatte den Kopf verloren; er wollte sich beeilen, und wußte nicht mehr, was er that: er wollte eine Jacke anziehen, um nicht halb nackt vor seiner Gebieterin zu erscheinen, aber er fand seine Kleidungsstücke nicht; er war außer Stand, ein Licht anzuzünden. Endlich gelang es ihm mit Hülfe Prospers, seinen Anzug zu vollenden, und er stieg zitternd die Treppe hinauf, während er zu dem Jüngling sagte: »Wir wollen sachte auftreten, damit wir die arme Dame nicht plötzlich erschrecken.«

Prosper folgte dem Gärtner; als er sah, daß der Gärtner immer weiter hinauf ging, ohne im ersten Stock anzuhalten, wo Madame Derbroucks Gemächer waren, dachte er, der Schrecken habe ihn verwirrt gemacht, und er wisse nicht mehr recht, wo er sich befinde, daher zog er ihn an der Jacke und fragte:

»Wo gehen wir denn hin? wir sind schon über den ersten Stock hinaus?« – Ich weiß es wohl und gehe hin, wo wir hin müssen,« entgegnete der Gärtner, weiter hinaufsteigend.

»Wie? sind die Zimmer der Madame Derbrouck nicht mehr im ersten Stocke?« – Ja, aber Du weißt nicht, mein braver Prosper, daß diese gute Dame seit der Verhaftung ihres Mannes den ganzen Tag im Belvedere ist, wo sie ihn früher zurückkehren zu sehen hofft, und seit drei Tagen ... gerade seit der Zeit, wo er guillotinirt worden ist ... hat sie sich ein Bett ins Belvedere hinauf bringen lassen ... sie schläft jetzt auch dort, damit sie, sobald sie erwacht, die Straße von Paris vor Augen hat!«

Prosper war stille gestanden, er vermochte nicht weiter zu gehen, denn seine Augen schwammen in Thränen, er sah nichts mehr und sein Herz war zerrissen. Nach einigen, dem Schmerze gewidmeten Augenblicken jedoch eilte er dem Gärtner wieder nach, indem er bei sich dachte: »Thränen sind hier nicht am Platze.«

Sie langten ganz oben im Hause auf einer Terrasse an, worauf das Belvedere errichtet war. Nun traten sie ganz leise vorwärts, um Madame Derbrouck nicht aus der Ruhe zu stören. Vor der Thüre standen sie stille und horchten, und alsbald vernahmen sie folgenden Gesang einer zarten Stimme:

»Du armer Jakob, als ich war bei Dir,
Empfand ich nicht der Noth Beschwerden;
Doch jetzo, da Du ferne bist von mir,
Fehlt Alles, Alles mir auf Erden.«

Es war die damals beliebte Romanze Jean-Jacques Rousseau's, welche Madame Derbrouck zur Wiege ihres Kindes sang, weil diese melancholische Melodie und der Inhalt dieses Liedes vollkommen mit der Traurigkeit ihres Gemüthes übereinstimmten.

»Sie schläft nicht!« sagte Prosper, »klopf' an die Thüre, Hermann.«

Der Gärtner gehorchte, und gleich darauf rief Madame Derbrouck mit bebender Stimme: »Wer ist da?« – Ich, Madame ... Ihr Gärtner, Hermann. – »Und was wollt Ihr so spät, mein guter Hermann?« – Ich bin nicht allein, Madame, Prosper ist bei mir, der junge Buchdrucker, er ist eben angekommen, und möchte gerne ... wegen sehr wichtiger Angelegenheiten ... mit Ihnen sprechen ... – »Wartet, ich will sogleich aufmachen.«

Madame Derbrouck öffnete in der That; da sie sich nicht niedergelegt hatte, befand sie sich noch vollständig in dem einfachen Anzuge, den sie den Tag über getragen. An der Blässe ihres Angesichtes, an dem schmerzlichen Ausdruck ihrer Züge, bemerkte man deutlich, daß die Leiden ihres Gemüthes, ihre Unruhe und die Nachtwachen ihre Gesundheit rasch zerstörten.

Prosper trat in Begleitung des Gärtners ein, begrüßte Madame Derbrouck achtungsvoll, und diese sagte: »Sie sind's, Prosper? ich habe Sie recht lange nicht mehr gesehen ... ich glaube seit jenem Abend nicht mehr, wo wir bei ihrem Freunde Maximus Bertholin zusammentrafen ... Ach! in derselben Nacht hat man meinen armen Gatten verhaftet ... Sie wissen es doch, daß er verhaftet ist?« – Ja, Madame, ich weiß es,« entgegnete der Jüngling, die Augen niederschlagend, um nicht den Blicken der Madame Derbrouck zu begegnen.

»Ja, mein Freund, sie haben meinen Gatten verhaftet! ... Und weßhalb? was hat er gethan? ... Ach! ich schwöre Ihnen, er hat niemals ein Complot gegen die Republik angezettelt. Er war mit Dumouriez bekannt, das ist wahr ... aber damals kämpfte Dumouriez für Frankreich ... und seit er zu den Ausländern übergegangen ist, hat mein Mann jede Verbindung mit ihm abgebrochen. Ach! ich bezweifle nicht, daß Derbroucks Unschuld an den Tag kommt! Auch hoffe ich jeden Augenblick ihn in meine Arme zurückkehren zu sehen ... und eben jetzt ... als Sie anklopften, empfand ich eine stürmische Bewegung! ... ich glaubte, mein Gatte komme zurück. Aber Sie sind ohne Zweifel da, um mir Nachricht von ihm zu bringen ... Sie haben ihn vielleicht im Gefängniß gesehen ... oder hat er Ihnen einen Brief für mich mitgegeben ... Ach! Sie thaten wohl daran, zu kommen, gleichviel um welche Stunde! ... Nun, Prosper, sprechen Sie doch!«

Prosper unterdrückte gewaltsam die Thränen, die sein Herz aufschwellten; er fand keine Worte mehr, sich auszudrücken; Madame Derbroucks Reden setzten seinen Muth auf eine eiserne Probe. Das Vertrauen dieser jungen Frau war so groß, die Liebe zu ihrem Gatten so wahr, daß man ihr durch die Zerstörung ihres Wahnes den Lebensfaden abschneiden konnte.

»Nun! Prosper, Sie antworten nicht?« fuhr Madame Derbrouck, über des jungen Mannes Schweigen erstaunt, fort.

Endlich sammelte sich dieser und begann: »Entschuldigen Sie, Madame, entschuldigen Sie ... ich bin nicht ... aus dem Grunde, den Sie sich vorstellen, in der Mitte der Nacht zu Ihnen gekommen ...« – Wie? ... Sie haben meinen Mann nicht gesehen? – »Nein, Madame, ich habe nur erfahren, daß man auch Sie verhaften wird, und bin hergeeilt, um Sie zu bewegen, noch vor Tag zu entfliehen.« – Mich verhaften? ... man will mich auch verhaften?« ... versetzte Madame Derbrouck mit einem Tone, worin sich mehr Erstaunen, als Furcht aussprach.

»Ja, Madame, ich weiß es ganz bestimmt; man kommt vielleicht noch vor Tag ... Sie werden also einsehen, daß keine Zeit zu verlieren ist. Ich werde Sie begleiten ... wohin? weiß ich selbst noch nicht! aber ich will Sie retten ... O! vertrauen Sie sich mir ohne Furcht!« – Ich danke, Prosper, ich danke mein Freund!« entgegnete die junge Frau mit melancholischem Lächeln. »Ach! ich zweifle weder an Ihrem guten Herzen, noch an Ihrem Muthe, aber ich kann Ihren großmüthigen Beistand nicht annehmen ... ich will nicht ...«

»Wie, Madame! ... Sie wollen sich einer ungerechten Verhaftung nicht entziehen? ...« – Nein! denn, wenn sie mich verhaften, werden sie mich hoffentlich mit meinem Manne vereinigen. Ich werde sie flehend bitten, mich in sein Gefängniß zu setzen; sie können mir's nicht verweigern, und somit wird, wie Sie sehen, diese Verhaftung, weit entfernt, ein gefürchtetes Unglück für mich zu sein, meine höchsten Wünsche in Erfüllung bringen! Ich bin recht verdrießlich, so lange von Derbrouck entfernt zu sein! und soll ihn jetzt wiedersehen! Ach! Prosper, ich habe nicht die geringste Lust, mich zu retten! und sehe im Gegentheil mit Freuden diese Männer ankommen, die mich zu meinem Gatten führen werden.«

Prosper war wie vernichtet und erst nach einiger Zeit im Stande zu erwidern: »Aber, Madame, es ist nicht wahrscheinlich, daß man Sie mit Ihrem Gatten in ein Gefängniß schließen wird, das dürfen Sie nicht einmal hoffen.« – Warum sollte man es mir verweigern? bin ich nicht Derbroucks Frau? Ich werde sie so dringend bitten. – »Man wird nicht auf Sie hören!« – Doch; meine Zärtlichkeit für meinen Gatten kann kein Verbrechen in ihren Augen sein; sie wird sie im Gegentheil rühren. – »Aber Ihr Kind, Madame, Ihren Säugling wollen Sie somit verlassen? was wird aus Ihrer Tochter werden, wenn Sie sie der Mutter und Amme berauben?«

Madame Derbrouck blieb einen Augenblick in schmerzliches Nachsinnen verloren, und ihre Blicke wendeten sich kummervoll nach der Wiege ihrer Tochter; doch bald strahlte wieder Hoffnung auf ihrem Antlitz und sie rief aus: »Ich nehme sie mit, man kann mich nicht hindern, meinen Säugling mitzunehmen, das wird noch ein weiterer Grund sein, daß man meiner Bitte nachgibt und mich mit meinem Manne vereinigt. Ach! ich wiederhole es Ihnen, Prosper, weit entfernt, die Ankunft dieser Männer zu fürchten, wünsche ich sie von ganzer Seele sobald als möglich herbei! denn nun ist es ein Monat, daß Derbrouck von mir entfernt ist, und der Muth geht mir allmählig aus. Ich habe nichts als diesen einzigen Brief von ihm; er konnte mir nur einmal schreiben. Diesen Brief lese ich jeden Augenblick; er ist sehr traurig, obgleich man sieht, daß er mich trösten wollte ... Ach! er langweilt sich auch sehr, ferne von mir! Hier, hören Sie, Prosper, ich will Ihnen den Brief meines Mannes vorlesen.«

Madame Derbrouck zog ein ganz zerknittertes Papier aus ihrem Busen, näherte sich dem auf dem Tische brennenden Lichte, und las, jedes Wort dehnend, wodurch sie den Brief zu verlängern suchte, Folgendes:

»»Meine zärtliche Freundin, ich schreibe Dir aus dem Luxemburg, worin ich mit einer Menge Unglücksgenossen, die ebenso wenig strafbar sind, wie ich, verhaftet bin. Wie lange sind die Tage ohne Dich! und wann wird diese unverschuldete Gefangenschaft endigen? Ich kann es nicht erwarten, bis ich vor meinen Richtern erscheinen darf; ich habe es schon mehrmals verlangt, allein man hat mir stets mit ironischem Tone geantwortet: »›Du hast große Eile; die Reihe wird schon an Dich kommen.‹« Diese Menschen begreifen nicht, was man leidet, wenn man von Weib und Kind getrennt ist! Und auch Du, bin ich überzeugt, leidest sehr viel; allein gib Dich dem Schmerze nicht hin, denk an Deine Tochter, an unsere kleine Pauline; um ihretwillen mußt Du Muth haben. Lebe wohl, theure Gattin; noch in dieser Woche werde ich unfehlbar vor Gericht gestellt werden; ich hoffe folglich bald in Deine Arme zurückzukehren. Mein Kerkermeister versprach mir, für die Ueberlieferung dieses Schreibens Sorge zu tragen! belohne den Ueberbringer reichlich. Küsse die schöne Stirne meiner Tochter. Mein Gott! wann werde ich wieder bei Dir sein!««

Die junge Frau konnte das Lesen dieses Briefes nicht ohne Thränen vollenden; dann trat sie an die Wiege ihres Kindes, küßte es mehrmals auf die Stirne und flüsterte:

»Ach ja! er ist schon zu lange von uns weg, und ich fühle es, jeden Tag wird mein Muth schwächer. Ach! Prosper! Sie sehen, es ist hohe Zeit, daß man mich mit meinem Gemahl vereinigt.«

Der junge Mann erwiderte nichts mehr; denn er hätte der Frau des Bankiers gestehen müssen, daß ihr Gatte nicht mehr sei; er hätte jene Hoffnung zerstören müssen, die allein noch die Gattin und Mutter aufrecht erhielt, und ein geheimer Schauer, eine Todeskälte lagerte sich schon beim Gedanken an die Verzweiflung, welche diese schreckliche Enthüllung hervorbringen würde, auf Prospers Stirne.

Der alte Hermann schwieg ebenfalls; der arme Mann stand regungslos in einer Ecke des Zimmers und starrte mit den Augen auf den Boden, während Prosper, an das nach der Straße gehende Fenster gelehnt, in tiefe Betrachtungen versunken zu sein schien.

Eine ziemlich lange Zeit verstrich auf diese Weise. Madame Derbrouck saß an der Wiege ihrer Tochter, welche in der Umgebung von Personen, die von tausendfachen Sorgen gequält waren, ruhig und friedlich schlief; aber das Kind war ja erst elf Monate alt, und in diesem Alter kennt man nur erst die körperlichen Leiden, und hat an diesen schon genug.

Endlich bildete sich eine schwache Helle am Horizont; Prosper gewahrte sie und zitterte indem er ausrief: »Der Tag! ... der Tag bricht an, Madame! ...« – Um so besser, Prosper,« entgegnete die junge Frau lächelnd; »ich sehe ihm mit Freuden entgegen ... denn ohne Zweifel werden nun diese Männer bald erscheinen ... Nicht wahr, man hat Ihnen gesagt, daß sie diesen Morgen kommen werden? ... – »Ja, ja, Madame,« erwiderte Prosper mit erstickter Stimme, indem er hastig im Zimmer auf und ab schritt.

»Ich werde ihnen sagen, sie sollen mich sogleich in's Luxemburg führen; denn nicht wahr, im Luxemburg sitzt mein Mann? ...«

»Aber, Madame,« rief Prosper, wie von einem plötzlichen Gedanken erleuchtet, aus: »es ist mir, als ob ich ... ja ... ich habe sagen hören, man thue nur Männer in dieses Haus ... die Frauen sind anderswo eingekerkert ... also sehen Sie wohl ein, daß Sie Unrecht haben, sich verhaften zu lassen ... Sie werden durch Ihre Gefangenschaft nicht mit Ihrem Gatten vereint werden.«

»Sie täuschen mich, Prosper; Sie sagen dieses nur, um mich zur Flucht zu bestimmen; aber ich bin überzeugt, daß die Frauen auch ins Luxemburg kommen ... und wenn ich meinen Gatten nur durch ein Gitter, nur eine Stunde, nur einen Augenblick des Tages sehen darf ... ach! so ist es immer weit besser, als wenn ich ferne von ihm sein muß.«

Mehrere heftige Schläge an die Hausthür drangen bis zu den im Belvedere versammelten Personen.

»Sie sind's!« rief Madame Derbrouck mit freudigem Gefühle, während der alte Gärtner sein Gesicht mit beiden Händen bedeckte und Prosper auf einen Stuhl niedersank, indem er flüsterte: »O mein Gott! ... und ich konnte sie nicht retten!«

»Nun! Prosper,« fragte Madame Derbrouck, »warum dieses Entsetzen? ... Muß ich Ihnen mit dem Beispiele des Muthes vorangehen? ... Kommen Sie, lassen Sie uns hinunter gehen ... man muß diese Herren nicht warten lassen ... Mache ihnen auf, Hermann ... Prosper, wollen Sie so gut sein und die Wiege meiner Tochter hinabtragen? ... die arme Kleine! sie schläft immer fort; wir wollen Acht geben, daß wir sie nicht erwecken.«

Prosper hatte die Wiege genommen, und folgte Madame Derbrouck in ihre Zimmer im ersten Stocke, wo sie die Commissäre der Republik mit Ruhe erwartete.

Der alte Hermann machte auf: die übrigen Dienstboten waren bereits, durch die Schläge an die Thüre aus dem Schlafe geschreckt, auf den Beinen. Bald war der ganze Hof mit Gendarmen angefüllt, und drei Männer, wovon einer den Verhaftsbefehl in Händen trug, erschienen vor Madame Derbrouck.

»Bürgerin, Du mußt uns folgen,« begann einer der Beamten; »hier ist der Befehl, kraft dessen wir verpflichtet sind, Dich als verdächtig ins Gefängniß abzuführen.«

»Ich erwartete euch, Bürger,« antwortete ruhig die junge Frau; »ich wußte, daß man mich diesen Morgen verhaften werde ... und seh't ... ich habe schon meine Zurüstungen gemacht.«

»Ah! Du wußtest es ... und bist nicht geflohen!« versetzte der Commissär erstaunt. »Gut ... das beweist, daß Du Vertrauen in die Gerechtigkeit des Revolutionstribunals setzest ... Das kann Dir bei den Richtern von Nutzen sein.«

»Und warum hätte ich fliehen sollen? ... Die Gefangenschaft kann mich nicht erschrecken, da sie mich mit Allem, was mir theuer ist, vereinigen wird. Aber vor allen Dingen werdet Ihr mir gestatten, mein Kind mitzunehmen, nicht wahr? Meine Tochter ist erst elf Monate alt, ich säuge sie ... ich kann mich nicht von ihr trennen ...«

»O! Kinder von elf Monaten! ... was soll die Republik mit diesen anfangen?« rief einer der drei Beamten aus, der unter der Last seines Bauches und seines dreifachen Kinnes beinahe zu erliegen schien, während er zugleich überall herum, hinter den Vorhängen und unter den Möbeln spähte. »Nein, nein, Du mußt Deine Puppe hier lassen!«

»Mich von meiner Tochter trennen!« schrie Madame Derbrouck, indem sie auf die Wiege zueilte und sie mit den Armen umschloß. »O! niemals ... Bürger, ihr habt vielleicht Kinder; ach! um ihretwillen flehe ich euch an, laßt mich meine Tochter mitnehmen!«

Der Beamte, welcher zuerst gesprochen hatte, und dem Anschein nach einiges Gewicht über seine Begleiter hatte, schien von dem Schmerze der jungen Mutter gerührt und sagte gegen seinen Collegen gewendet: »Warum sollte man der Bürgerin ihren Säugling entreißen? Sie erfüllt eine der heiligsten Pflichten, und die Republik kann es nicht mißbilligen, wenn wir Rücksicht auf ihre Lage nehmen.« Der dicke Mann verzog bloß sein Gesicht, wackelte mit dem Bauche und entgegnete barsch: »Wie Du willst! Aber die Gefängnisse mit Wickelkindern anfüllen! ... es fehlt schon an Raum für die Großen.«

»Du kannst Deine Tochter mitnehmen, Bürgerin,« antwortete der oberste Beamte, gegen Madame Derbrouck gekehrt.

»Ach! ich danke euch! ich danke euch, Bürger!« rief die junge Frau mit sanftem Lächeln gegen die sie Verhaftenden aus; »und nun habe ich nur noch eine Bitte an euch zu richten ... und ich hoffe gleichfalls, daß ihr mir sie nicht abschlagen werdet!«

»Worin besteht sie, Bürgerin?«

»Mein Mann ist auch Gefangener ... er ist im Luxemburg ... Schon seit einem Monat ist er verhaftet, und diese Zeit wurde mir sehr lang! ... wollt ihr wohl die Güte haben, mich mit ihm einzuschließen ... oder wenn es mir nicht gestattet wird, dasselbe Zimmer mit ihm zu theilen, daß ich wenigstens nicht gar zu weit von ihm wegkomme ... daß ich ihn bisweilen von meinem Fenster aus sehen und mit ihm sprechen könne ... Ach! Bürger, versagt mir diese Gnade nicht ... bringt mich in dasselbe Gefängniß mit meinem Gatten.«

Während die junge Frau sprach, sahen sich die drei Beamten schweigend und mit überraschter Miene an; zwei schienen gerührt, aber derjenige, welcher zuvor schon die junge Mutter von ihrem Kinde hatte trennen wollen, rief jetzt unmuthig aus: »Was leierst Du uns da vor von Deinem Manne ... und demselben Gefängnisse ... Ist nicht Dein Mann der Bankier Derbrouck, jener Holländer und Freund des Dumouriez? ...« – Ja, Bürger ... – »Nun! der ist ja schon vor vier Tagen guillotinirt worden! ...«

Als die unglückliche Frau diese entsetzlichen Worte vernahm, gab sie keinen Laut von sich, aber alles Blut wich ihr aus dem Angesichte, und sie wäre zu Boden gestürzt, wenn Prosper nicht herbeigeflogen wäre und sie in seinen Armen aufgefaßt hätte.

»Ihr habt sie getödtet! Ihr habt sie getödtet!« rief der Jüngling, Madame Derbrouck auf ein Bett tragend, während ein Kammermädchen herbeieilte, um sie ins Leben zurückzurufen.

»Noiroud!« sprach der Oberbeamte zu dem Dicken, »Du hättest nicht nöthig gehabt, der Bürgerin den Tod ihres Mannes auf eine so barsche Art mitzutheilen!«

»Konnte ich mir vorstellen, daß er ihr unbekannt war,« versetzte der Bürger Noiroud, seine Augen auf eine einfältige Weise herumrollend. »Ein Mann, der vor vier Tagen hingerichtet wurde! ... Das weiß man doch, das schreit man ja in allen Straßen aus. Ich glaubte, sie sage das nur zum Spaße! ...«

»Was fangen wir aber jetzt an; diese Frau ist in einem bedenklichen Zustande!«

»Bah! bah! das gibt sich unterwegs im Wagen, die frische Luft wird ihr gut thun!«

»Im Wagen!« schrie Prosper hastig, zwischen die Commissäre tretend. »Wäret ihr im Stande, eine sterbende Frau wegzuführen, sie besinnungslos in ein Gefängniß zu schleppen, damit sie dort hülflos ohne Freundesnähe den Geist aufgebe! O! Bürger, das könnet ihr nicht thun, denn dann wäret ihr keine Menschen, sondern Tiger! ...«

»Was will der von uns?« entgegnete Noiroud, Prosper mit erstaunter Miene anblickend, »das ist, ich wette drauf, ein Epaulettenträger,Damals ein Schimpfname. ein Anhänger Ronsins.« – Was ich will? daß Du die Bürgerin hier in ihrem Hause lassest; sie kann sich nicht aus demselben entfernen, sie wird nicht entfliehen, dafür stehe ich; aber ins Gefängniß nach Paris geht sie nicht.«

»Ah! Du stehst dafür, und wer steht für Dich? Wer bist Du überhaupt, daß Du so stolz sprichst?«

»Ein wahrer Republikaner, ein braver Sansculotte, der weder Dich noch sonst Jemand fürchtet! Wollen wir hinunter gehen und uns im Hofe den Schädel zerschlagen? komm' nur, es ist gleich vorbei; ich habe ein Paar prächtige Pistolen.«

Der Bürger Noiroud machte ein Gesicht, in welchem sich keine Lust zu der vorgeschlagenen Partie aussprach, er sah seine Kollegen an, und der Obercommissär sprach zu Prosper: »Bürger, ich glaube an die Reinheit Deiner Gesinnungen. Ich gestehe, der beklagenswerthe Zustand dieser jungen Frau rührt mich; allein, was sollen wir beginnen? wir haben den Befehl, sie zu verhaften und nach Paris zu führen.« – Und wenn ich vom Wohlfahrtsausschuß eine Erlaubniß auswirkte, diese Frau unter Aufsicht eines Wächters in ihrem Hause zu lassen? – »O! dann verstände sich's von selbst. Dazu müßte man aber nach Paris gehen, ein Mitglied des Ausschusses aufsuchen und ...« – Dafür laßt mich sorgen. Ich habe ein Pferd unten, ihr müßt hier eure Siegel auflegen. Erwartet mich! ... o! versprecht mir, eine Stunde auf mich zu warten! ... In einer Stunde, schwöre ich, bin ich zurück. – »Nun denn, es sei! ... eine Stunde wollen wir warten ...«

Prosper achtete kaum auf diese letzten Worte, schon war er im Hofe auf seinem Pferde; er nöthigte das arme Thier, sich in Galopp zu setzen, verschwand auf der Straße nach Paris, und Hermann rief, ihm mit den Augen folgend, aus: »Armer Junge! möchte es ihm gelingen!«

Während die Regierungsbeamten die Möbeln durchstöberten, die Papiere durchsuchten, und überall, wo sie es für nöthig hielten, die Siegel anlegten, blieb Madame Derbrouck immer noch besinnungslos; vergebens war ihre Dienerschaft um sie bemüht, sie kehrte nicht zum Leben zurück, und der Bürger Noiroud, der im Ab- und Zugehen seine Blicke nach ihrem Bette warf, sagte achselzuckend: »Ich glaube, der junge Bursche mit der rothen Hose macht eine überflüssige Reise ... diese Aristokratin wird todt sein, ehe er zurückkehrt.«

»Arme Frau!« rief Hermann aus, »es wäre vielleicht besser für sie, wenn sie die Augen nicht mehr aufschlüge! ... aber ihr Kind! ihre arme Tochter!«

Die Zeit verstrich; die Siegel waren gelegt, der dicke Noiroud schaute auf die Wanduhr und sagte: »Es ist eine gute Stunde, daß wir hier sind ... der Andere kehrt nicht zurück. Die Frau macht auch kein Ende ... man muß sie in den Wagen tragen lassen. Ich habe keine Lust, einen ganzen Tag hier zu bleiben. Ich habe in Paris zu thun ... man spricht in meiner Sektion ... es sind ohnehin nicht zu viel Redner dabei, und ich bin einer davon. Ich will fort.«

»Noch einen Augenblick, Noiroud,« versetzte der Obercommissär, auf seine Uhr sehend, »ich habe dem jungen Sansculotten versprochen, eine Stunde auf ihn zu warten ... und es fehlen noch fünf Minuten dazu!«

»Du bist heute sehr gemäßigt, Herr Kollega! Wenn Du auf diese Weise der Republik dienst! ...«

»Ich diene ihr vielleicht besser als Du, denn ich mache sie nicht verhaßt.«

Der Redner wußte nichts zu entgegnen, und in demselben Augenblick vernahm man einen lauten Lärm im Hofe; es war Prosper, der zurückkehrte, und der, um noch zu rechter Zeit anzulangen, sein Pferd genöthigt hatte, ohne Unterlaß zu galoppiren; beim Hereinreiten in den Hof fiel das arme Thier nieder, um nie mehr aufzustehen, allein Prosper eilte rasch zu den Commissären, hielt ein Papier in der Hand, welches er ihnen vorwies und rief aus: »Hier ist die Erlaubniß! ... ich habe es durchgesetzt ... Ich habe mich dem Ausschusse vorgestellt, und zu den anwesenden Mitgliedern gesprochen, was, weiß ich nicht mehr ... nur das weiß ich, daß sie mir zuhörten, ohne mich zu unterbrechen ... und als ich fertig war, unterzeichnete und überreichte mir einer dieses Papier mit den Worten: »Diene der Republik wie Deinen Freunden, dann kann sie auf Dich zählen.«

»Ja ... dieses Papier ist in Ordnung,« sagte der Oberbeamte, »die Bürgerin kann in ihrem Hause bleiben, man gibt ihr nur einen Wächter bei, den ich erwählen darf, und dazu ernenne ich den Portier des Hauses. Vorwärts, Kameraden, wir können gehen.«

Prosper ergriff die Hand des Beamten und drückte sie innig in den seinigen; dies galt für tausend Worte des Dankes; diese beiden Männer hatten sich verstanden.

»Gehen wir,« sagte der Bürger Noiroud, »es war übrigens nicht der Mühe werth, uns um Nichts in Bewegung zu setzen.«

Wenige Augenblicke darauf war kein Beamter mehr im Hause und die Dienerschaft segnete Prosper, daß er die Wegführung ihrer Gebieterin verhindert hatte.

Der junge Mann begab sich an's Bett und vereinte seine Bemühungen um Madame Derbrouck mit denen der Uebrigen. Seit einigen Minuten schien ein convulsivisches Athemholen das Ende dieser Krisis anzudeuten; Alle wünschten und fürchteten den Augenblick, wo die Unglückliche zur ganzen Erkenntniß ihres Unglücks erwachen werde. Dieser Moment trat indeß ein. Madame Derbrouck schlug die Augen auf, richtete sich halb in die Höhe, blickte um sich, stieß einen Schmerzensschrei aus, indem sie sagte: »Ach! nein, nein! es ist nicht möglich! sie haben ihn nicht gemordet ... es ist ein Traum ... ein schrecklicher Traum, den ich gehabt habe! ...«

Alle Umstehenden vergossen Thränen; die junge Frau begriff nun wohl, daß ihr Unglück kein Traum war. Jetzt wurde ihr Blick starr, und ihre Vernunft hätte sie vielleicht verlassen, aber Prosper, der diesen Augenblick voraussah, eilte zur Wiege, nahm das Kind heraus und bot es der Mutter hin.

Beim Anblick ihres Kindes traten wieder Thränen in Madame Derbroucks Augen, sie drückte ihr Kind an's Herz und rief aus: »Ja ... ja ... Sie haben Recht, Prosper ... ich muß für sie leben ... ich muß diesen fürchterlichen Schlag ertragen, damit Pauline keine Waise werde ... Ach! ich will mich bemühen, mein Leben zu erhalten ... obwohl es ohne ihn ein endloser Schmerz sein wird ... Aber liebe Tochter ... arme Kleine ... liebes Kind, theures Kind ... sie haben Deinen Vater umgebracht!«

Die arme Mutter konnte nicht endigen, Thränen erstickten ihre Stimme, und Alle um sie her antworteten nur durch Schluchzen.

Nachdem dieser erste Anfall von Verzweiflung einem ruhigeren Schmerze gewichen war, entfernten sich die Dienstboten, und Madame Derbrouck sprach zu Prosper: »Wie kommt es, daß ich noch hier bin? Waren nicht Männer da, um mich zu holen?«

»Doch, Madame; aber ich war in Paris beim Wohlfahrtsausschuß, um die Erlaubniß auszuwirken, Sie als Gefangene in Ihrem Hause zu lassen ... Ich habe gesagt, Sie säugen Ihr Kind, und man hat meinen Bitten nachgegeben ... Es gibt noch Leute, welche die süßesten Gefühle der Natur achten. Man hat Ihnen gestattet, in Ihrem Hause zu bleiben ... Und der Mann ... der Erste der mit Ihrer Verhaftung beauftragten Commissäre ... ebenfalls gerührt von Ihrer Verzweiflung, hat den Portier zu Ihrem Wächter ernannt ... wodurch Ihnen deutlich genug zu verstehen gegeben ist, daß Sie ohne Schwierigkeit fliehen können.«

»Ich danke, Prosper, ich bin Ihnen viel schuldig, mein Freund ... Ach! das unselige Ereigniß war Ihnen ohne Zweifel bekannt ... Sie wußten, daß mein Mann nicht mehr lebte ... und wagten nicht, es mir zu sagen ... nun begreife ich die Ursache Ihrer Traurigkeit, Ihres dumpfen Schweigens, als ich Ihnen sagte, ich würde so glücklich sein, wenn ich wieder zu meinem Gatten käme ... Und sie haben ihn umgebracht! Ach! und er hatte doch nichts verschuldet! Sie wissen es wohl ... Aber, ich habe versprochen, Muth zu haben ... ich werde mich bestreben, für meine Tochter zu leben ... Allein ich will nicht fliehen, ich will hier bleiben und hier mein Schicksal erwarten. Sie müssen recht müde sein, lieber Freund, nach so viel Unruhe und Anstrengung, die Sie meinetwegen hatten. Gehen Sie, legen Sie sich zur Ruhe; gehen Sie, ich bitte Sie, denken Sie an Ihre kostbare Gesundheit; bedenken Sie, daß Sie jetzt meine ... und ach! ich fürchte sehr, dieses Kindes einzige Stütze sind ... Gehen Sie, lieber Freund, Hermann wird, ich zweifle nicht daran, sorgen, daß Ihnen nichts abgeht.«

Prosper gab den Bitten der Madame Derbrouck nach; er fühlte außerdem ein großes Bedürfniß zu schlafen; seitdem er von Melun hergerast war, hatte er keine Sekunde ausgeruht; mag man gleich nur achtzehn Jahre alt und kräftig sein, man merkt doch, daß man nicht von Eisen ist.

Hermann führte den jungen Mann in ein kleines Zimmer, worin sich ein gutes Bett befand. Prosper legte sich nieder und verfiel alsbald in einen tiefen Schlaf.

Einige Stunden der Ruhe genügten Prosper; er hätte sich jetzt wieder im Stande gefühlt, in gestrecktem Galopp nach Melun zu jagen, wäre sein Pferd nicht todt gewesen. Aber beim Hinuntergehen, um sich nach Madame Derbroucks Gesundheit zu erkundigen, begegnete ihm Hermann mit blassem und bestürztem Antlitz.

»Was ist für ein neues Unglück begegnet?« rief Prosper aus. »Sprecht, was ist wieder geschehen?«

»Ach, mein Gott! meine arme Gebieterin empfindet einen neuen Schmerz!« entgegnete weinend der Gärtner, »und ich fürchte, alle diese Leiden zusammen werden die arme Frau tödten! Eben hatte sie ihr Kind bei sich, und es fing an zu schreien; da erinnerte sie sich, daß sie ihm seit heute Nacht die Brust nicht mehr gereicht hatte; schnell wollte sie diese Vergessenheit wieder gut machen; aber stellen Sie sich ihren Jammer, ihre Verzweiflung vor! ... sie hatte keine Milch mehr! Die arme Mutter ist nicht mehr im Stande, ihr Kind zu säugen. Zwar, da dieses schon elf Monate alt ist, kann man es wohl mit etwas Anderem aufziehen, das haben wir auch Madame gesagt, und es hat auch in ihrer Gegenwart Alles, was man ihm darbot, getrunken; aber dessen ungeachtet empfindet Madame Derbrouck einen großen Schmerz, und ich fürchte sehr, sie möchte deßhalb recht krank werden.«

»Hermann, man muß einen Arzt holen ... geh, schaffe sogleich einen an; ich will unterdessen Madame Derbrouck zu trösten und zu beruhigen suchen.«

Der Gärtner ging eiligst fort, und Prosper trat, nachdem er sich vorher bei dem Kammermädchen erkundigt, ob er hinein dürfe, in Madame Derbroucks Zimmer; er fand sie, ihr Kind an ihre vertrocknete Brust haltend und Ströme von Thränen vergießend, als sie sah, daß ihre kleine Pauline dort nach einer Nahrung suchte, die sie ihr nicht mehr gewähren konnte. Der junge Mann suchte die arme Mutter zu trösten, allein diese schüttelte traurig das Haupt und sprach: »Ich kann meine Tochter nicht mehr nähren; Sie sehen daher, lieber Freund, daß es unnöthig ist, daß ich lebe, und daß der Himmel mir gestattet, zu meinem Gatten hinüberzugehen.«

»Ach! Madame, was sprechen Sie da!« rief Prosper aus, »reicht eine Mutter ihrem Kinde nur körperliche Nahrung? gilt denn die Sorgfalt, welche sie auf dasselbe verwendet, und wodurch oft seine Gesundheit erhalten wird, gilt die Bildung seines Herzens, die Aufklärung seines Geistes, das Bestreben, es vor Lastern zu behüten, während man den Keim zu Tugenden in es zu legen sucht .. für gar nichts? Nicht alle Mütter sind im Stande, selbst ihre Kinder zu säugen, die Natur verweigert ihnen zuweilen diese Gunst; aber alle haben die Verpflichtung, die ersten Schritte derselben und ihren Eintritt ins Leben zu leiten, damit sie sich mit Ehren darin zu benehmen wissen, und deßhalb, Madame, glaub' ich nicht, daß eine Mutter je ersetzt werden könne.«

Madame Derbrouck seufzte und küßte schweigend ihre Tochter. Der Arzt erschien alsbald. Er fand, daß die junge Frau ein heftiges Fieber hatte, und empfahl ihr Ruhe und Seelenfrieden ... jene Mittel, die man wohl verschreiben kann, aber in den Apotheken nicht findet.

Die kleine Pauline nahm ohne Schwierigkeit alle Nahrungsmittel, welche man ihr darreichte. Prosper machte Madame Derbrouck hierauf aufmerksam, und wiederholte ihr, der Arzt habe erklärt, es sei nichts für die Gesundheit ihres Kindes zu fürchten. Die junge Mutter lächelte schwermüthig, und reichte Prosper die Hand, indem sie zu ihm sagte: »Mein Freund, ich bin Ihnen schon so sehr verpflichtet, geben Sie mir einen letzten Beweis Ihrer Ergebenheit.« – Reden Sie, Madame, befehlen Sie über mich. – »Wohlan! entfernen Sie sich nicht mehr aus dem Hause, verlassen Sie mich nicht, bis ich vollständig hergestellt bin; denn es ist mir, als ob Sie mir noch einen großen Dienst leisten könnten ... wollen Sie?« – Ich bleibe, Madame, o! ich bleibe, so lange Ihnen meine Gegenwart von Nutzen sein kann.«

Madame Derbrouck schien durch dieses Versprechen beruhigt, und Prosper verließ ihr Zimmer, nachdem er sie vorher dringend gebeten hatte, sich ein wenig Ruhe zu gönnen. Er ging in den Garten hinab, und während er in den Alleen herumspazierte, die der holländische Bankier mit ausländischen Pflanzen und Gesträuchen hatte ausschmücken lassen, dachte der Jüngling an Camilla, die er in Melun zurückgelassen, wo sie auch großen Gefahren ausgesetzt war; aber die Liebe durfte nicht über die Dankbarkeit siegen, und trotz seines lebhaften Verlangens, über Camilla zu wachen, galt Prosper sein Versprechen heilig; er war fest entschlossen, so lange bei Madame Derbrouck zu bleiben, als sie seine Gegenwart wünschen würde.

Am folgenden Tag schien die Wittwe des Bankiers gefaßter, aber aus ihren Augen leuchtete eine düstere Glut, und das Fieber hatte nicht nachgelassen. Der Arzt kam wieder, befühlte den Puls, schüttelte den Kopf mit unzufriedener Miene und rieth, wie gestern, strenge Ruhe und Stille.

Vierzehn Tage verflossen: Madame Derbrouck beklagte sich nicht mehr, aber sie wurde außerordentlich schwach, ihre Stimme ganz matt, und ihre Augen erhielten nur durch das Fieber zuweilen einen vorübergehenden Glanz.

Nach Verlauf dieser Zeit verlangte die junge Frau, die nicht mehr im Stande war, ihr Bett zu verlassen, ins Belvedere gebracht zu werden, wo sie so lange ihren Gatten erwartet hatte.

Man beeilte sich, ihren Wünschen zu willfahren. Sie wurde ins Belvedere hinaufgetragen, und die Wiege ihrer Tochter neben sie hingestellt; Prosper wich fast nicht mehr von ihrer Seite, und wenn er die Kranke betrachtete, sah er ein abermaliges Unglück voraus, welchem alle seine Sorge nicht vorbeugen konnte. Aber obgleich ihn sein Herz oft an Camilla erinnerte, obgleich ihn die Unruhe über ihr Schicksal fast verzehrte, kam ihm doch nie der Gedanke, die arme Kranke zu verlassen.

In einer Nacht, da sich Madame Derbrouck noch kränker fühlte, gab sie Prosper einen Wink, sich ihr zu nähern, dann nahm sie ihn bei der Hand, drückte sie in ihren glühenden Händen und sagte zu ihm: »Ich habe Sie gebeten, hier zu bleiben ... weil ich zum voraus ahnte, daß ich bald sterben werde, und ich fühle, daß ich mich nicht getäuscht habe.«

Prosper wollte sie unterbrechen, sie winkte ihm aber zu schweigen, und fuhr fort: »Lieber Freund, alle Aerzte der Welt vermöchten mich nicht dem Leben wieder zu geben. Ich habe den Tod empfangen, als ich den meines Gatten erfuhr. Ich bin nicht zu beklagen, wohl aber meine Tochter, die so jung schon Waise wird, und kein Vermögen hat; denn was wir hier besitzen, wird verkauft werden! Mein Mann hat zwar Gelder bei einem Bankier in Antwerpen und hat kürzlich ein prächtiges Landgut in der Touraine gekauft, aber das ist Alles, was ich weiß, denn ich war nicht mit dem Gange seiner Geschäfte vertraut, und überdies wurden bei seiner Verhaftung alle Papiere hinweggenommen. Wenn nun der Bankier in Antwerpen kein ehrlicher, rechtschaffener Mann ist, so kann er läugnen, Gelder von meinem Manne in Verwahrung zu haben ... Mein Gott! die Kraft verläßt mich ... Prosper, wollen Sie über meine Tochter wachen, sie schützen, Elternstelle bei ihr vertreten? Ihnen, mein Freund, vertraue ich meine Pauline an ... Ach! ich verlange viel von Ihrer Freundschaft für uns ...«

»Madame,« rief Prosper aus, »ich bin stolz auf das Vertrauen, welches Sie in mich setzen, und mein ganzes Leben soll dem Zwecke gewidmet sein, es zu verdienen! Ja, ich will für Ihre Tochter Sorge tragen und über sie wachen, wenn es das Schicksal verlangt ... aber Sie werden nicht sterben, Madame; o! nein, fassen Sie Muth, der Himmel wird Sie Ihrem Kinde erhalten.«

Madame Derbrouck versuchte zu lächeln, zu antworten, aber was sie eben gesprochen, schien ihre wenigen Kräfte erschöpft zu haben. Ihre Augen schlossen sich, und einige Stunden lang schien sie einer sanften Ruhe zu genießen. Prosper hoffte, daß sich die Kranke nach ihrem Erwachen besser befinden werde, aber gegen Morgen ergriff ein heftiges Fieber Madame Derbrouck; als sie die Augen aufschlug, blickte sie verwirrt um sich, dann wollte sie sich aus dem Bett erheben und ans Fenster gehen, um zu sehen, ob ihr Mann zurückkomme, ob sie ihn nicht auf der Straße wahrnehme.

Diesem Delirium folgte eine schreckliche Abspannung; nur von Zeit zu Zeit machte sie eine Bewegung, als ob sie ihr Kind nehmen wollte, sie glaubte es an ihrer Brust zu halten, und bildete sich ein, sie säuge es noch.

Und mitunter murmelte sie die Romanze vom armen Jakob, weil sie da ihr Kind in den Schlaf zu wiegen glaubte.

Aber gegen Abend hatte sich Fieber und Delirium gelegt, und bald darauf war die Unglückliche mit dem Gatten, den sie so sehr geliebt, vereint.

Nachdem Prosper reichliche Thränen über das Schicksal dieser Frau geweint hatte, welcher das Loos eine so ruhige, heitere Zukunft zu versprechen schien, und die so jung und unglücklich sterben mußte, fragte er sich, was er noch länger in Passy machen sollte. Er bat Hermann, ihm ein Päckchen mit den notwendigsten Effekten für die kleine Pauline zusammen zu machen, und sagte, das Kind in seine Arme nehmend, zu dem alten Gärtner: »Ich nehme die Waise mit mir, die mir anvertraut worden! Von nun an muß ich sorgfältig über diese arme Kleine wachen. Sie ist erst ein, ich erst achtzehn Jahre alt. Ich bin etwas jung, um Vaterstelle bei ihr zu vertreten, aber das ist eins, ich hoffe, des Vertrauens werth zu sein, welches ihre Mutter in mich gesetzt hat ... Lebe wohl, mein guter Hermann.«

Der Gärtner wollte Prosper zurückhalten und sagte: »Aber dieses Haus gehört Herrn Derbrouck, und Alles, was darin ist, ist das Erbtheil seiner Tochter.« – Nein, lieber Freund, Herr Derbrouck ist verurtheilt worden und seine Güter werden zum Voltheil der Nation verkauft. So geht man in unsern Tagen zu Werke. Aber sei nicht in Sorgen wegen dieser Waise ... so lange Prosper lebt, wird es der Tochter meiner Wohlthäter an nichts fehlen.«

Und Prosper kehrte mit den Päckchen Effekten und dem Kinde in den Armen nach Paris zurück.


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