Paul de Kock
Der Mann mit drei Hosen
Paul de Kock

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Siebentes Kapitel.

Erste Vorstellung von Epicharis und Nero.

Prosper hatte die zehn Stunden, die zwischen Melun und Paris liegen, bald zurückgelegt; nicht ein Gendarme stellte ihn auf dem Wege, um seine Papiere zu visitiren, denn sein sonderbares Kostüm, seine alle Welt herausfordernde Miene und die Art seiner Bewaffnung verkündeten einen Mann, welchem es nicht darauf ankam, den ersten Besten, der ihm in den Weg treten würde, niederzuhauen. Man hielt ihn für einen Agenten der Regierung, und wenn er ein Gläschen Branntwein verlangte, während sein Pferd einige Augenblicke ausschnaufte, so bediente man ihn mit einem Eifer und einer Schnelligkeit, welche den Schrecken verriethen, den er einflößte.

Prosper langte vor seinem Hause an. Beim Eintritt forschten seine Augen nach Goulard, an welchem er Lust gehabt hätte, seinen von Durouleau erhaltenen türkischen Säbel zuerst zu probiren. Aber der Portier war nicht mehr da, ein altes Weib versah seine Stelle und hatte seine Loge inne. Prosper erkannte mit Abscheu jene alte Strickerin, die in den Sektionen perorirte, die Mutier Gueuleton, welche sich die Mutter der Kracher nennen ließ.

Der junge Mann hatte sein Pferd im Hofe abgestellt; er schaute nach den Fenstern von Maximus und seiner Mutter; die Läden waren geschlossen und man sah kein Licht, obgleich es bereits nachtete. Er kam zur Loge des Portiers zurück und entschloß sich, die Mutter Gueuleton anzureden.

»Bist Du jetzt an der Stelle unseres Portiers, Mutter Gueuleton?«

»Ach! schau, Du bist's, mein Sohn, mein Liebling, mein Schelm von Prosper!« entgegnete das alte Weib, ihren zahnlosen Mund öffnend, während sie eine ungeheure Prise in die Nase schob. »Woher kommst Du denn, kleiner Lump? um wieder Teufelsgeschichten anzurichten, und wieder irgend einem jungen Mädchen nachzulaufen? Denn Du bist ein Erzgalgenstrick für Dein Alter! Aber ich liebe die Galgenstricke ... Ach! der Teufel! wenn ich ein Mann geworden wäre, ich hätte eine Hochzeit gefeiert! Sapperment! weißt Du, daß Du da auf eine prächtige Weise angeschirrt bist? Ich habe Dich noch nie so im Staate gesehen ... Wo hast Du denn das Zeug alles gestohlen, denn verdient hast Du es sicher nicht? ... Deine Hose sticht mir recht ins Auge!«

»Mutter Gueuleton, es handelt sich jetzt nicht von mir, ich möchte gerne einige Auskünfte erhalten.«

»Kann schon sein, mein kleiner Messidor (Erntemonat) ... Ach! was für eine schöne Hose! Heiliger Sabbat! ... es ist doch heute nicht Dekadi, daß Pu so aufgeputzt bist.«

»Potz Henker! willst Du mir Antwort geben, alte Hexe?«

»Sei nicht böse, Stutzerchen, ich höre ja.«

»Ist es wahr, daß dieser gute Holländer ... der Bankier Derbrouck, hingerichtet worden ist? ...« – Ja, abgekürzt ist er Wort unleserlich mein kleiner ... Ich gestehe, er war ein sehr schöner Mann! aber die Verräther und Verschwörer müssen hin sein!« ... – »Er ein Verschwörer! ... er hat nie daran gedacht.«

»Aha! Du wirst das besser verstehen, als das Tribunal und der famose Fouquier-Tinville, der öffentliche Ankläger, der jeden Augenblick eine Anklage fertig hat? ... Ach! wie der die Guillotine versorgt! da geht das Geschäft nicht aus, auch sagt man, er wolle sie im Gerichtshofe selbst aufstellen lassen, da man durch das Hin- und Herführen der Verurtheilten zu viel Zeit verliert, und es nach seiner Ansicht noch nicht schnell genug geht.«

»Wer hat aber meinen Wohlthäter angeben können?« – Ei, Leonidas; er hat sich dessen mehr als einmal gerühmt. – »Goulard! ... der Niederträchtige? Wo ist er gegenwärtig? ...«

»Heute Abend?« – Ja, heute Abend. – »Im Theater der Republik ... Man spielt eine neue Tragödie, wie er mir gesagt hat, Epi ... Epichat ... Epi ... Dings, oder wie sie sonst heißt, ich weiß es nicht mehr, aber es epit sich.«

»Und die Bürgerin Derbrouck, die arme Frau! wie groß muß ihr Schmerz sein! ... sie ist ohne Zweifel von dem Schicksal ihres Mannes unterrichtet?« – Das kann ich Dir nicht sagen. Nur so viel weiß ich, daß die Frau des Bankiers am Tage nach der Verhaftung ihres Gatten nach Passy gegangen ist.«

»Hält sie sich noch dort auf?« – Ja, ja ... aber ich vermuthe, daß, wenn sie noch dort ist, sie nicht mehr lange dort bleiben wird.«

Bei diesen Worten schüttelte die Alte mit bedeutungsvoller Miene den Kopf.

»Was willst Du damit sagen? ... Du weißt Etwas, Mutter Gueuleton ... laß hören, sprich! ...«

»Vor allen Dingen, mein Sohn, weiß ich nicht, warum Du darauf beharrst, mich Mutter Gueuleton zu heißen, da ich Dir doch schon hundertmal gesagt habe, daß ich mich die Mutter der Kracher nennen lasse ... nach der berühmten Cornelia, die den Krachius gebar ... Du weißt? es waren Italiener aus Rom ...« – Darum handelt es sich nicht ... was weißt Du in Betreff der Bürgerin Derbrouck? Warum meinst Du, daß, wenn sie noch in Passy sei, sie nicht mehr lange dort bleiben werde? ... Gib Antwort ... ich will es haben ... oder sonst ...«

Mit diesen Worten zog Prosper seinen Säbel halb aus der Scheide, seine Miene nahm einen so fürchterlichen Ausdruck an, sein Blick war so entschlossen, daß die Alte, obgleich nicht leicht einzuschüchtern, doch eilig erwiderte: »Nun! weil man die Bürgerin Derbrouck auch verhaften wird ...«

»Verhaften ... wer hat Dir das gesagt?« – Ei, wer! Leonidas. Er hat sie auch angegeben ... er hatte heute den Befehl zu ihrer Festnehmung in der Tasche; allein er wollte ihn nicht selbst vollziehen. – »Dieser Mensch hat also der ganzen unglücklichen Familie den Tod geschworen?« – Weil sie conspirirt haben! ... Leonidas ist sehr bedeutend in der Sektion. – »Und Maximus hat dies geduldet? ... Maximus! ein so reiner, so geachteter Republikaner!«

»Er ist nicht mehr hier; er ist mit seiner Mutter, ich weiß nicht wohin, gereist ... Er fand keine Arbeit mehr ...« – Keine Arbeit mehr! wie? aber Hebert ... der Père Duchesne ... – »Hebert wurde am nämlichen Tage, wie der Bürger Derbrouck guillotinirt ...«

»Und Maximus ist nicht mehr hier, um mich aufzuklären, mich zu leiten! Gleichviel, ich werde meine Wohlthäterin retten! ... Du sagst, Goulard habe den Befehl bei sich ... und er ist diesen Abend im Theater der Republik?«

»O! dessen bin ich gewiß ... er hat von dem Bedienten des Bürgers Legouvé, dem Verfasser des Epi ... Epichat ... kurz des Trauerspiels, ein Billet bekommen.«

»Genug, Mutter Gueuleton! habe Acht auf mein Pferd, gib ihm zu fressen.« – Bah! Du hast jetzt ein Pferd? Ei, wie bist Du dazu gekommen? – »Ich werde es wahrscheinlich diese Nacht brauchen. Adieu, ich gehe ins Theater der Republik.«

Prosper barg seine Pistolen in den innern Taschen seiner Jacke und begab sich eiligst in den Palast Egalité, wo das neue Stück gespielt wurde. Man hatte ihm gesagt, Goulard befinde sich im Schauspielhause, und er wollte ihn dort treffen, selbst wenn er hätte auf alle Plätze gehen, jeden Zuschauer stören und sogar das Stück unterbrechen müssen.

Zum Glück für Prosper, dem es nie einfiel, daß er auch Geld nöthig haben könnte, hatte sein freigebiger Wirth statt seiner daran gedacht und dem Jünglinge eine Thalerrolle in die Jacke geschoben. Dieser bemerkte es mit Vergnügen, als man ihm sein Billet abforderte; glücklich, hier auf kein Hinderniß zu stoßen, nahm er einen der ersten Plätze und trat in den Saal, als eben das neue Stück begann.

Das Haus war voll; denn sogar mitten in diesen Schreckenstagen, wo Jeder für sich und die Seinigen zittern mußte, behielten die Franzosen stets ihren Geschmack am Theater bei; sie verlangten Schauspiele nach den Blutgerüsten, die sie übrigens eben auch als Schaustücke betrachteten; des Morgens hatte man gezittert, des Abends belustigte man sich; man konnte noch über die Vaudevilles lachen, die sich leichte Scherze über die Mißbräuche des Tages erlaubten; Piis, Barré, Radet fingen an, ihren Ruf und glückliches Triumvirat zu begründen; kurz, die große öffentliche Noth störte die großen Erfolge auf dem Theater nicht, denn der Räuberhauptmann Robert hatte ungeheures Glück gemacht und Nikodemus im Monde wurde zweihundertmal aufgeführt.

Prosper ging in den Gängen des Saales auf und ab und verlangte, daß man ihm eine Loge aufschließen solle.

»Es gibt keinen Platz mehr!« antworteten ihm die Logenaufschließerinnen.

»Keinen Platz mehr! Donnerwetter! ich muß einen haben, denn ich habe ein Billet dazu, und lasse das Stück nicht anfangen, wenn man mir keinen Platz verschafft.«

Der Lärm, den Prosper in den Gängen verursachte, zog einen Controleur herbei. Der anmaßende Ton des jungen Mannes imponirte, sein Säbel erschreckte, und sein ganzes Wesen schüchterte ein. Der Controleur sah eine gemiethete Loge, worin sich nur drei Damen befanden, er bat sie um die Erlaubniß, eine wichtige Person von der Regierung zu ihnen herein zu lassen. Die Damen wagten nicht, sich zu weigern, und zitterten, als sie einen jungen, wunderlich ausstaffirten Mann in ihre Loge treten sahen, dessen Angesicht schmutzig und feuerroth war (denn der Reisende hatte sich nicht die Zeit genommen, sich vorher zu reinigen), und der, während er sich auf seinen großen Säbel stützte, jeden Augenblick den Griff desselben streichelte.

Ganz von dem Beweggrund eingenommen, der ihn hergeführt hatte, vergaß Prosper, sich bei den Damen zu bedanken, die ihm einen Platz in ihrer Loge eingeräumt hatten; schon schweiften seine Blicke nach allen Richtungen, in der Hoffnung, Goulard zu entdecken, und sich wenig darum bekümmernd, daß er die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog, legte er, rücksichtslos gegen die beiden, die Vordersitze einnehmenden Damen, jeden Augenblick seinen Arm auf die Brüstung der Loge und beugte den halben Leib über sie hinaus, um sich besser nach allen Seiten umsehen zu können.

Indessen hatte das Trauerspiel seinen Anfang genommen; man wollte Talma hören, dessen Ruf damals im Entstehen war, und Monvel, welcher bereits den seinigen hatte. Prosper machte unaufhörlich Lärm, wenn er sich umdrehte, vorbeugte oder gar über die Loge legte. Einige Bst! einige Still hatten sich schon hören lassen, aber Prosper achtete nicht darauf, sondern fuhr fort, unruhig zu sein und sich zu bewegen, indem er im Saale herumsah, statt auf die Bühne zu sehen. Endlich ließ eine Stimme folgende Worte vernehmen: »Wird die rothe Hose dort oben nicht bald ruhig sein?«

Diese Stimme drang aus dem Parquet. Prosper, der sie gehört hatte, beugte sich vor und betrachtete mit unverschämter Miene die Menschenmasse, welche sich unter ihm befand.

»Ja, mit Dir spricht man, Bürger!« rief eine andere Stimme. »Sei ein bischen ruhig, und laß uns die Tragödie hören und beurtheilen! deßhalb sind wir hergekommen.«

»Und ich bin wegen etwas Anderem hergekommen!« entgegnete Prosper mit drohendem Tone: »und der erste unter euch, beim Teufel! der mich zur Ruhe nöthigen will, darf nur heraufkommen, dann will ich schon mit ihm fertig werden.«

Diese dem ganzen Publikum hingeworfene Drohung imponirte der Menge. Man hat schon oft Beweise erlebt, daß ein entschlossener Mann sich ganzen Haufen widersetzen und ihnen die Stirne bieten konnte; auch hier blieb dieses ganze von Menschen angefüllte Parterre von Staunen ergriffen über die Herausforderung, die ihm ein Einziger ins Gesicht schleuderte; man betrachtete mit Erstaunen den sonderbaren Menschen, der dem Saale Gesetze vorschreiben wollte, und ließ, ohne ihm weiter zu erwiedern, das neue Stück fortspielen, indem man sich bemühte, dasselbe trotz des Geräusches, welches der Mann in der rothen Hose verursachte, zu verstehen.

Da Prosper von dem Platze aus, worauf er sich befand, den Gegenstand, den er suchte, nicht entdecken konnte, so entfernte er sich aus der Loge und schlug wüthend die Thüre hinter sich zu.

Die drei Damen waren entzückt, den jungen Lärmer nicht mehr zum Nachbar zu haben; das Publikum glaubte, die rothe Hose sei aus dem Theater fortgegangen, Jeder gratulirte sich, endlich einmal das Trauerspiel anhören zu können, und bald darauf belohnte ein stürmischer Applaus die von Epicharis an den Dichter Lucan gerichteten Verse, den sie mit in die Verschwörung gegen Nero hineinzieht:

»Mehr als ein gut' Gedicht,
gilt eine gute That.«

Aber der Beifall des Publikums wurde abermals durch den Lärm gestört, der beim Eingang ins Orchester entstand. Es war Prosper, der sich dorthin begeben hatte und durchaus Platz verlangte, obgleich man ihm wiederholte, es sei Alles voll, und zum Beweis auf eine Menge Personen hinzeigte, die ganz dicht aufeinander gedrängt am Eingange stehen mußten.

Prosper gab den ihm vorgebrachten Gründen kein Gehör; er stieß den Billetabnehmer auf die Seite und sagte zu ihm: »Laß mich in Frieden! Ich habe auf alle Plätze bezahlt ... Wenn ich nicht genug gegeben habe, so nimm, hier sind Thaler, ich kann noch mehr bezahlen, aber in den Gängen bleibe ich nicht stehen.«

Damit hatte der junge Mann bereits die Thüre geöffnet; ohne über die Menschenmenge zu erschrecken, die den Eingang des Orchesters anfüllte, theilte er einen Ellenbogendruck rechts, einen Fauststoß links aus, und verschaffte sich auf solche Weise Bahn, während die von ihm herumgestoßenen Personen schrieen:

»Aber, Bürger, nimm Dich doch in Acht ... Du trittst mir auf den Fuß.«

»Bürger, Du bohrst mir Deine Faust in den Rücken ... Ich will hoffen, daß es nicht absichtlich geschieht.«

»Glaub', was Du willst, mir gilt's gleichviel,« brummte Prosper, indem er fortwährend seine Füße und Fäuste agiren ließ.

»Hast Du Deinen Platz im Orchester, Bürger?« – Könnte wohl sein. – »Dann tritt man aber im Zwischenakte ein und nicht, wenn das Stück schon angefangen hat; so darf man das Schauspiel nicht stören ...«

Prosper drängte sich immer weiter vor; er war bereits bis zu den Sitzen gekommen, er strebte aber nach der Mitte des Saales, weil er hoffte, von dort aus Goulard entdecken zu können. Nun schlich er sich durch die Reihen der Sitzenden durch, tappte aufs Gerathewohl auf die Füße, die er unterwegs fand, achtete weder auf die Klagen der Einen noch auf das Fluchen der Andern, bis das Parterre, welches endlich müde war, diesen Menschen mit der ungeheuern Mütze in den Reihen des Orchesters spazieren gehen zu sehen, ihm zornig zurief: »Sitzen! sitzen!« – Ganz richtig,« entgegnete Prosper mit höhnischer Miene gegen das Parterre gewendet; »ich werde mich setzen, weil ich am Gehen genug habe.«

Mit diesen Worten ließ sich der junge Mann auf eine Bank nieder; da aber kein Platz leer war, so mußte er nothwendig auf den Schooß einer Person herabsinken, und diese Person stieß einen Schrei aus, indem sie rief: »O! Bürger, Dein Säbelgriff reißt mir den Bauch auf ... Gleichheit! Brüderschaft! Du erstickst mich ... Wirst Du denn auf meinem Schooße sitzen bleiben?« – Wo Teufels soll ich mich denn hinsetzen? – »Aber ich meine, mein Schooß sei doch kein Platz.« – Ei, potz Tausend! warum nicht, wenn's keinen andern gibt. – »Aber ich sehe nichts mehr.« – Was schadet's? – »Aber ...« – Willst Du einmal stille sein?«

In diesem Augenblicke betrachtete ein Herr neben der Person, worauf Prosper saß, diesen letztern aufmerksam und begann: »Ich täusche mich nicht ... ich habe Dich sonst schon gesehen .. Ich kenne Dich ... Wir haben uns, wenn ich nicht irre, bei dem Bürger Maximus Bertholin getroffen.«

Bei diesem Namen blickte Prosper seinerseits den Sprechenden an und erkannte Poupardot, den er in der That bisweilen bei Maximus gesehen hatte.

»Du irrst Dich nicht, Bürger, ich erkenne Dich auch, Du bist ein Freund von Maximus ... der Bürger Poupardot.« – Derselbe ... und Du? Prosper Bressange ... Aber diese Mütze ... und Dein ganzes Kostüm ... gibt Dir ein verändertes Aussehen. Ah! Du willst das neue Stück des Bürgers Legouvé sehen? ... bis jetzt scheint mir's gut ... nur einiges Schleppende könnte ...« Ein unter Prosper hervordringendes Stöhnen erinnerte sodann Poupardot, daß Derjenige, der ihn in's Theater begleitet hatte, sich in einer äußerst unbequemen Lage befinde, und etwas dichter zu seinem Nachbar von der andern Seite hinrückend, sagte er zu dem eben Gekommenen: »Bürger Prosper, wir müssen suchen Dir ein bischen Platz einzuräumen, denn Du wirst nicht während des ganzen Schauspiels auf dem armen Picotin sitzen bleiben wollen.«

»Wie! ich sitze auf dem Bürger Picotin!« rief Prosper, sich umkehrend aus: »Ei der Tausend! ... es thut mir leid, daß ich nicht lieber auf seiner Frau sitze, denn ich erinnere mich, daß sie sehr hübsch ist; allein, aus Rücksicht für Deine reizende Gemahlin ... sieh ... will ich es versuchen, auf jedem von Euch zur Hälfte zu sitzen, da trifft's dann den Mann kaum einen Centner.«

Und so unter zwei Uebeln das kleinere wählend, behalfen sich die beiden Freunde mit ihrem aus den Wolken gefallenen Schooßkind, und konnten so doch wenigstens die Schauspieler sehen.

Die Ruhe war nun hergestellt. Das Stück nahm mitten unter den Beifallsbezeugungen des Publikums seinen Fortgang. Poupardot war ganz Auge, ganz Ohr; er wollte keinen Vers verlieren. Was Picotin betrifft, so incommodirte ihn seine neue Nachbarschaft; er warf von Zeit zu Zeit einen Seitenblick auf Prosper und seinen Säbel und bei jedem neuen Blick versuchte er weiter von ihm wegzukommen.

Da Prosper mitten im Saale saß, so brauchte er Niemand mehr zu stören, um nach allen Seiten hin zu sehen, aber er drehte sich beständig um und schenkte dem Stücke nicht die mindeste Aufmerksamkeit, da er nur Goulard unter den Zuschauern suchte.

»Das ist schön! herrliche Verse!« sagte Poupardot hie und da zu Prosper unter der auf ihm ruhenden Last tief aufathmend, worauf ihm dieser erwiderte: »Er muß doch da sein! ... Mutter Gueuleton hat mich's versichert ... O! ich muß ihn entdecken.« Poupardot, der nicht begriff, in welcher Beziehung die Mutter Gueuleton zu dem Trauerspiele stehen könne, hörte auf, Prosper seine Eindrücke mitzutheilen, und da er an dem physischen und moralischen Eindruck, unter dem er selber litt, genug hatte, sagte er zu sich: der junge Mensch muß nicht recht bei Trost sein, oder etwas im Kopfe haben.

Picotin hütete sich wohl, mit Prosper zu sprechen; er suchte sich möglichst unter seinen Knieen wegzuspielen, was ihm auch nach und nach gelang, da durch fortwährendes Drücken endlich der Erste auf der Bank freiwillig aufstand. Nun fing aber für den armen Picotin eine andere Calamität an. Sein unleidlicher Nachbar, der jetzt bequem saß, sah ihn öfters an und lispelte ihm zu, was er aber nicht zu bemerken schien, sondern starr auf die Bühne blickte. Endlich wurde jedoch Picotin genöthigt, seinem Nachbar zu antworten, weil ihm dieser einige leichte Rippenstöße versetzte, indem er zu ihm sagte: »Bist Du taub, Bürger?« – Ich! Bürger ... o! nein, im Gegentheil ich schmeichle mir ein vortreffliches Gehör zu haben ... – »Ich habe Dich aber schon mehrmals angeredet, und Du gibst mir keine Antwort.« – Sonderbar, ich habe nichts gehört. Drum deklamiren auch die verfluchten Schauspieler so laut, daß man sich nebenbei gar nicht unterhalten kann. – »Ich fragte Dich, ob Du Goulard kennest ... ob Du ihn hier gesehen habest?« – Goulard ... wer ist Goulard? – »Ein Lump, ein Schuft! dem ich hoffentlich heute Abend noch Arm und Bein zerschlagen werde! ...« – Bürger, ich kenne diesen liebenswürdigen Menschen durchaus nicht, und bitte Dich, überzeugt zu sein, daß ich mich auch gar nicht nach seiner Bekanntschaft sehne.«

Prosper erkundigte sich nicht weiter bei Picotin, aber war trostlos und in Verzweiflung, den Gesuchten nicht finden zu können. Das Stück näherte sich dem Ende. Nero stand auf der Bühne; Talma, dem die Darstellung dieser Rolle übertragen war, erntete eben einen unermeßlichen Beifall, bei den Worten:

»Ein Dolch! und dies allein in seinem tiefen Fall
Bleibt Cäsar übrig noch von seinen Reichen all'!«

als im gleichen Augenblicke Prosper einen Freudenschrei ausstieß und sich mit dem Ausrufe erhob: »Dort ist er, er ist's! O! dort beim Eingange in die Gallerie ... dieses Mal wird er mir nicht entrinnen!«

Damit stürzte er sich von Neuem durch die Sitzenden und schickte sich an, sich auf die nämliche Art, wie er hereingedrungen, einen Ausweg aus dem Orchester zu verschaffen. Allein diesmal war die Geduld des Publikums zu Ende; der ganze Saal erhob sich in Masse gegen den Störer seines Vergnügens; man verlangte die Bestrafung seiner Unverschämtheit; man forderte die bewaffnete Macht zu Hülfe. Zwei Gendarmen erschienen beim Eingang zum Orchester, eben als es Prosper verließ, und der eine derselben wollte seine Hand an den Kragen Prospers legen indem er sprach: »Im Namen der Freiheit verhafte ich Dich!«

Prosper betrachtete den Gendarmen, zuckte mit den Achseln und entgegnete ihm: »Mein Freund, Du sagst da eine entsetzliche Dummheit! Im Namen der Freiheit willst Du mir die Freiheit rauben, mich verhaften ... Versteht man unter Freiheit nicht vor allen Dingen das Freisein, folglich, daß man sprechen und machen kann, was man will?«

Der Gendarm ganz verwirrt, sann einen Augenblick nach und sagte sodann:

»Nun, dann verhafte ich Dich ... im Namen der Republik ...« – Ah! das ist ein Unterschied! Und ich prügle Dich im Namen der Freiheit.«

Und indem Prosper dem Gendarmen, der eben einen Schritt vorwärts gemacht hatte, um den jungen Mann zu ergreifen, ein Bein stellte, faßte er ihn zugleich und legte ihn der Länge nach auf den Boden, gab seinem Kameraden einen tüchtigen Fauststoß, stürzte sich in den Gang hinaus und verschwand unter der herzuströmenden Menge, die ihm einen Durchgang ließ, indem sie sagte: »Bah! laßt ihn gehen! ... er scheint ein wackerer Sansculotte zu sein! er hat etwas zu viel getrunken, das ist Alles! er war heute nicht aufgelegt, das Stück zu sehen.«

Prosper hatte sich so schleunig vom Theater entfernt, weil er bedachte, daß sich arretiren zu lassen, nicht der rechte Weg sei, Goulard zu züchtigen und Madame Derbrouck zu retten; er hoffte, der Gesuchte werde sich nach dem Theater nach Hause begeben, und beschloß, ihn in der Nähe seiner Wohnung auf der Straße zu erwarten.

Eine halbe Stunde verging, und wieder eine; Prosper fürchtete schon, der Portier möchte die Nacht in irgend einer Schenke zubringen, denn das Theater mußte schon lange aus sein; er wußte nicht, was er anfangen sollte, als er schwere Tritte auf der öde gewordenen Straße hörte. Prosper horchte und bebte vor Freuden, denn er glaubte den Mann, den er erwartete, zu erkennen. Er stellte sich einige Schritte vom Hofthor entfernt auf; man kam näher: es war Goulard.

Prosper trat vor und versperrte ihm den Weg.

»Was gibt's ... ich habe keinen Sou mehr ... ich habe Alles versoffen, was ich bei mir hatte!« begann Goulard; »Du kannst also nichts bei mir stehlen.« – Ich bin kein Dieb ... sieh mich recht an, Goulard ... diese Laterne leuchtet hell genug ... Du mußt mich erkennen ... – »Horch! diese Stimme ... man könnte glauben, der leichtsinnige Strick von Prosper ...« – Ja, es ist in der That Prosper, der einige Wochen von Paris abwesend war, und zu spät kommt, um seinen Wohlthäter zu retten, der aber nicht duldet, daß Du die unglückliche Frau desselben verhaften lässest. – »Was leierst Du mir da vor? Laß mich in Frieden ... ich gehe heim, ich will mich schlafen legen ...« – O! nein, Du entrinnst mir nicht! – »Was soll das heißen? willst Du mich etwa mit Gewalt zurückhalten?« – Ja ... – »Zu Hülfe ... zu ...« – Still! ... schweig, Elender, oder ich zerschmettere Dir das Gehirn!«

Damit zog Prosper eine seiner Pistolen aus der Jacke und setzte die Mündung auf Goulards Stirne.

Der Portier fing an zu zittern, schrie nicht mehr und flüsterte in unterwürfigem Tone: »Ich schweige. Was wünschest Du von mir?« – Du hast meine Abwesenheit benützt, um den Bankier Derbrouck verhaften zu lassen. – »Nicht ich ...« – Du lügst. – »Er war strafwürdig ...« – Das ist nicht wahr, Du wirst Lügen erfunden haben, um seine Richter zu täuschen; doch kurz, da es nun zu spät ist, ihn zu retten, so gib mir wenigstens den Verhaftsbefehl heraus, den Du gegen seine Frau erhalten hast. – »Gegen seine Frau ... wer hat Dir das gesagt? ...« – Du hast sie auch angeklagt, Du brauchst Dich nicht zu verstellen, und hast einen Befehl erhalten, sie verhaften zu lassen ... – »Ich schwöre Dir ...« – Soll ich Dich niederschießen? – »Nun ja! es ist wahr ... aber diesen Befehl ... habe ich nicht mehr.« – Was hast Du damit angefangen? – »Ich habe ihn den Gerichtsbeamten übergeben.« – Du hast ihn übergeben ... und wann? – »Gerade, heute Abend, bevor ich in das Theater der Republik ging.« – Also wird die Bürgerin Derbrouck ... – »Morgen bei Tagesanbruch verhaftet werden.« – Ha! Ungeheuer! ich sollte Dich umbringen ... aber ich bin kein Meuchelmörder. Hier nimm eine dieser Pistolen ... vertheidige Dich ... – »Ich mich auf Pistolen schlagen ... ich will nicht ...« – Vertheidige Dich, sag' ich Dir ... – »Ich duellire mich nicht.« – Du willst mich lieber angeben ... aber heute Abend wenigstens nicht mehr, ich will Dir für's Laufen thun.«

Und den Lauf seiner Pistole nach unten richtend, drückte er ab und zerschmetterte Goulards Bein, der unter Verwünschungen niedersank. Der junge Mann eilte schnell ins Haus hinein und suchte sein Pferd, welches er im Hof angebunden fand.

»Nun, mein Söhnchen, mein Jüngelchen!« rief ihm Mutter Gueuleton zu, »theile mir doch auch etwas von dem Trauerspiele Epichat ... Epi ... Dings mit. Man hat mir gesagt, es sei von der Mutter der Kracher die Rede darin.«

Aber ohne diesem Weibe zu antworten, stieg Prosper auf's Pferd und schlug im Galopp den Weg nach Passy ein.


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