Paul de Kock
Der Mann mit drei Hosen
Paul de Kock

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Fünftes Kapitel.

Die Tochter eines Emigranten.

Prosper hatte, tief schlafend, während der Nacht nichts gehört, und trat am folgenden Morgen, als er bei Tagesanbruch das Haus verließ, nicht mehr zu Maximus ein, weil er sich schon am Vorabend von ihm verabschiedet hatte. Er hatte nur den Portier gesehen, der schon auf war und wie ein Spion in einem Winkel des Hofes stand, von wo aus er die Fenster eines jeden Miethsmannes beobachtete, um irgend ein Zeichen oder ein paar Worte zu erlauschen.

Als Goulard den hinausgehen sah, der ihn gestern beinahe erwürgt hatte, begnügte er sich mit einem Lächeln; allein es lag in seinen abstoßenden Zügen ein triumphirender, freudiger Ausdruck, den der junge Mann bemerkt und der ihn einen Augenblick in Schrecken gesetzt hatte. Ein plötzlicher Gedanke beruhigte ihn jedoch wieder; er erinnerte sich, daß man ihm am Vorabend gesagt hatte, Fräulein Trevilliers sei aufs Land gegangen, und das Landhaus, wohin sich die Tochter des Emigranten zuweilen begab, lag gerade ganz in der Nähe von Melun.

Und nun wollen wir berichten, wie die romantische Leidenschaft entstanden war, welche dieser bisher so tolle, so leichtsinnige Jüngling für ein Frauenzimmer gefaßt hatte, das durch Stand und Vermögen in weiter Entfernung von ihm gehalten worden wäre, wenn man damals Werth auf die Geburt gelegt hätte, und die Glücksgüter nicht so häufigem Wechsel unterworfen gewesen wären.

Camilla von Trevilliers war noch nicht sechzehn Jahre alt, allein sie war bereits schön, groß und wohlgestaltet; ihr Wuchs war schon elegant und anmuthig, obgleich sie in ihrem stolzen Gange, in ihrem Blicke und in der Art, ihren Kopf zu tragen, etwas hatte, was eine adel- und geldstolze Dame verkündete, eine Dame, die weiß, daß sie schön ist, und meint, Jeder müsse überglücklich sein, ihr seine Huldigungen darzubringen. Ihre großen, schwarzen Augen, die zwei, für eine weibliche Stirne fast zu dichte Brauen beschatteten, strahlten oft verächtlich und höhnisch; wenn aber ein wohlwollender, zärtlicher Ausdruck sie milderte, so war es schwer, ihrer Macht zu widerstehen.

Der Graf von Trevilliers, Camilla's Vater, war einst einer jener Ausgelassenen am Hofe, die Alles dem Vergnügen und der Gunst aufopferten. Frühzeitig Wittwer geworden, hatte sich der Graf wenig um seine Tochter bekümmert, deren Erziehung er einer Gouvernante mit dem bestimmten Befehle übertragen hatte, niemals gegen Camilla's Willen zu handeln; dieser hatte er für alle möglichen Fächer Lehrer gehalten, ihr aber zugleich gestattet, nur das zu lernen was ihr gefiele.

Camilla hatte von dieser Erlaubniß Gebrauch gemacht; kapriziös und phantastisch, wie sie war, gab sie sich zuweilen einige Wochen mit angestrengtem Eifer den Studien hin, in anderen dagegen that sie durchaus nichts; eine Zeit lang leidenschaftlich für Musik eingenommen, gab sie diese auf, um sich der Malerei zu widmen, die sie später ebenfalls wieder liegen ließ. Das Resultat davon war eine jener Erziehungen, wie sie in damaliger Periode häufig vorkamen; man hatte von Allem eine oberflächliche Kenntniß, wußte aber nichts gründlich.

Indessen kam die Revolution heran. Der Graf von Trevilliers, der wunderschöne Güter in Frankreich besaß, beeilte sich, zu emigriren, indem er seine Tochter nebst ihrer Gouvernante in seinem sehr schönen Landgute in der Gegend von Melun zurückließ.

Aber nach kurzer Zeit wurden alle Besitzungen des Grafen sequestrirt, und die junge Camilla, gezwungen, das väterliche Schloß zu verlassen, war genöthigt, sich in ein kleines Landhaus zu flüchten, welches ihre Gouvernante von ihren Ersparnissen in der Gegend gekauft hatte. Und da dieses Landhaus nur eine halbe Stunde von dem schönen Besitzthum entfernt war, in welchem die Tochter des Grafen das Licht der Welt erblickt hatte, so liebte es Camilla, sich in der Nähe dieses Schlosses zu ergehen, welches das Eigenthum ihres Vaters gewesen war, und dessen Anblick sie an die ersten Spiele ihrer Kindheit erinnerte. Immer lenkte sie ihre Schritte nach dieser Richtung, wenn sie einen Ausflug machte; dann blieb sie traurig vor dem Gitter des Parkes stehen und betrachtete von ferne die schönen belaubten Alleen, wo sie zuvor so oft umhergerannt war und gespielt hatte; da schwoll ihre Brust, ihr Herz zog sich zusammen ... aber sie weinte nicht, denn sie hatte Muth und Stolz, und wollte nicht, daß die Landleute ihre Thronen stießen sähen.

Ueberdies wiederholte ihre alte Gouvernante unaufhörlich: »Seien Sie ruhig, gnädiges Fräulein, Alles das dauert nur eine Zeitlang ... das ist ein Sturm, der vorübergeht; Ihr Vater wird wieder zurückkehren, seine Güter wieder in Besitz nehmen; diese schöne Herrschaft wird einst wie viele andere wieder Ihnen gehören, und Sie nach Herzenslust in den herrlichen Alleen umherspazieren und laufen können wie ehemals.«

Camilla seufzte, ohne zu antworten; obgleich noch sehr jung, überließ sie sich doch keinen eiteln Hoffnungen, und ihre frühzeitig gereifte Vernunft sah klarer, als die sechzig Jahre ihrer Gouvernante.

Wählend eines dieser Spaziergänge um die Mauern ihres väterlichen Schlosses war Camilla zum ersten Male von Prosper gesehen worden, der häufig zum Besuche seines Pathen, des alten Komödianten, nach Melun ging und manchmal mit ihm in der Umgegend herumschlenderte.

Camilla zählte damals erst fünfzehn Jahre, aber sie war durch ihre Schönheit, ihre elegante Taille und ihre edle Haltung schon auffallend.

»Das ist ein recht hübsches Frauenzimmer,« sagte Prosper zu seinem Pathen; »kennen Sie dieselbe?« – Ja, das ist die Tochter eines Vormaligen (Adeligen), oder wenn Du lieber willst, des Grafen von Trevilliers. – »Welch' schöne Augen! welch' schöne Brauen!« – Sie würde auf dem Theater bewundernswürdig zu Fürstinnen oder sonst vornehmen Rollen passen! – »Lieber Pathe, Sie sehen überall nur Theater!« – Nimmt Dich das Wunder? Dort habe ich mein Leben zugebracht, und seit ich es verlassen habe, besteht mein größtes Glück darin, noch daran zu denken. Ueberdies, mein kleiner Prosper, ist hienieden Alles Komödie ... wenn nicht gar Tragödie ... wie in unserer Zeit zum Beispiel.«

»Diese junge Dame ist sehr schön, aber sie sieht traurig aus.« – Sie hat Grund dazu; sie spaziert um den Park des Schlosses herum, das noch vor kurzer Zeit ihrem Vater angehörte, seit seiner Auswanderung aber eingezogen worden ist. – »Armes Mädchen ... welch reizende Taille!« – Ei, Du Schelm, Du möchtest gerne den Liebhaber bei ihr spielen, diese Rolle würde Dir nicht mißfallen!«

In diesem Augenblicke gingen Camilla und ihre Gouvernante, die sich auf dem Rückwege befanden, an ihnen vorüber; der alte Schauspieler, der ein wenig mit der Gouvernante bekannt war, begrüßte die Damen, welche freundlichst dankten; Prosper verbeugte sich und wollte ein Gespräch anknüpfen; allein sie setzten, ohne auf ihn zu achten und ohne ihm zu antworten, ihren Weg weiter fort.

»Dein erster Versuch fiel nicht glücklich aus,« sagte der alte Brillancourt mit sarkastischer Miene, »Du bist aber auch noch zu jung für das Fach, welches Du übernehmen willst.«

»Wohlan, mein Pathe, Sie sollen sehen, daß ich Beifall finden und mich aufschwingen werde,« entgegnete Prosper.

Hierauf fing der Jüngling so zu laufen an, daß er den Damen voraus kam; an einem ziemlich hohen Baume kletterte er mit Gewandtheit hinauf, setzte sich auf einen schwachen Ast, schaukelte einen Augenblick darauf und fiel alsbald auf die Erde, weil der Ast gebrochen war.

Die Damen stießen einen Schreckensschrei aus; der Komödiant zuckte mit den Achseln und brummte: »Wenn er das sich aufschwingen heißt?« Dann eilte man auf den Jüngling zu, der auf dem Rasen lag, die Augen verdrehte und Gesichter schnitt.

Camilla war die jüngste, die schnellste, sie langte zuerst bei Prosper an, und während sie ihm ein Riechfläschchen vorhielt, welches sie immer bei sich trug, fragte sie ihn: »Haben Sie sich verwundet, mein Herr? (Camilla wollte nicht Bürger sagen.) Wo thut es Ihnen weh?«

Prosper betastete sich allenthalben ein wenig und antwortete sodann: »Ich glaube, daß mir nur der Fuß wehe thut, es wird vielleicht nur eine Verrenkung sein.« – Eine Verrenkung, das ist schon arg genug! Warum klettern Sie auch auf einen Baum hinauf, und schaukeln sich auf einem so schwachen Ast? – »Um Sie zu hören ... um mit Ihnen zu sprechen ... um das Glück zu genießen, welches mir in diesem Augenblicke zu Theil wird ... O! das ist mit einer Verrenkung nicht zu theuer erkauft.«

Die schöne Camilla blieb wie versteinert! sie war durchaus nicht auf diese Erklärung eines ganz jungen Mannes gefaßt, den sie zum ersten Male sah; sie erröthete, nahm eine strenge Miene an und gab Prosper keine Antwort, aber im Innern ihrer Seele fühlte sie sich geschmeichelt, daß er auf solche Weise sein Leben ausgesetzt hatte, um mit ihr zu sprechen; es lag in dieser Handlung eine Ueberspanntheit, die zugleich Liebe, Einbildungskraft und Muth bewies, drei Dinge, wofür die Frauenzimmer eine große Schwachheit haben.

Die Gouvernante und der alte Brillancourt kamen herbei; Prosper suchte sie zu beruhigen, er stand auf und wollte gehen, als er aber auf seinen linken Fuß trat, schnitt er verzweifelte Grimassen; man war zwar nicht mehr fern von Melun, mußte sich aber doch noch hinbegeben. Es wäre unmenschlich gewesen, Jemand, der so beschwerlich ging, nicht seinen Arm anzubieten. Papa Billancourt wollte seinen Pathen unterstützen, aber der Arm eines achtzigjährigen Mannes ist eine schwache Stütze; die Gouvernante führte daher Prosper auf der einen Seite und Camilla mußte sich entschließen, ihn auf der andern zu führen; sie war die Jüngste und Stärkste, daher befahl sie ihm immerfort ernstlich: »Stützen Sie sich auf meinen Arm, mein Herr; fürchten Sie nicht, mich zu ermüden, ich bin stark!«

Der Jüngling machte von dieser Erlaubniß Gebrauch; er stützte sich fest auf die linke Seite, während man ihn auf der rechten kaum fühlte; Fräulein von Trevilliers konnte es nicht übel nehmen, daß er ihren Arm sehr stark drückte, da sie ihm zur Stütze diente; aber wenn Prosper es wagte, einen Blick auf sie zu werfen und ihren Augen zu begegnen suchte, so wendete sie sich schnell ab und sagte mit trockenem Tone: »Geben Sie Acht, mein Herr, wo Sie Ihren Fuß hinsehen!«

Man langte in Melun vor der Wohnung des alten Schauspielers an; dort entfernten sich die Damen, nachdem der junge Mann und sein Pathe sich bei ihnen bedankt hatten.

Und der alte Brillancourt sprach alsdann: »Weißt Du, daß dieses junge Frauenzimmer für die Tochter eines Vormaligen sehr gefällig war? Das ist schön von ihr, denn sie ist von Natur stolz und spricht mit Niemand.« – Und es ist um so schöner von ihr, als es mir nicht entfernt einfiel, nur die geringste Verrenkung zu haben!« entgegnete der Jüngling, vor seinem Pathen eine Pirouette machend.

Der Greis blieb einen Augenblick sprachlos vor Staunen, aber dann lachte er bis zu Thränen, indem er ausrief: »Köstlich! prächtig! ausgezeichnet gespielt! O! mein Freund! wie vortrefflich würdest Du Dich zu Liebhaberrollen, liederlichen Burschen und Marquis eignen! Ich hatte Dich früher falsch beurtheilt, aber ich sehe jetzt ein, daß Du viel Anlage zu einem Komödianten hast.«

Und solchermaßen hatte Prosper die Bekanntschaft des Fräuleins von Trevilliers gemacht, und so oft er zu seinem Pathen ging, suchte er der reizenden Camilla auf dem Spaziergange zu begegnen; dies war aber nicht so leicht: seit der Begebenheit mit der Verrenkung ging sie weniger aus; man konnte meinen, sie habe schon eine Ahnung von der Sehnsucht und den Qualen gehabt, die sie erweckte, und, weit entfernt, die Liebe zu ermuntern, die sie eingeflößt hatte, im Gegentheile gewünscht, vergessen zu werden.

Aber im siebzehnten Jahre vergißt man das Frauenzimmer, welches unsere erste Liebe erweckte, nicht. In diesem Alter ist dieses Gefühl eine Religion, eine Abgötterei oder vielmehr ein Wahnsinn, wovon man erst durch das Uebermaß des Glücks genest. Prosper träumte unablässig von Camilla; er suchte sich allerdings zu zerstreuen, indem er irgend einer hübschen Arbeiterin nachlief, wenn er einer begegnete, allein diese Zerstreuung war nur vorübergehend, und die wahre Liebe erlosch nicht.

Man kann sich die Freude des armen Verliebten denken, als er eines Tages in Paris beim Nachhausegehen, Camilla und ihre Gouvernante, einige Schritte weit von seiner Wohnung entfernt, in ein Haus hineingehen sah. Kaum waren sie eingetreten, als er ihnen nachlief und sich in einen großen Hof einschlich; er erkundigte sich bei der Thürhüterin und erfuhr, daß die Tochter des Grafen von Trevilliers in der That seit längerer Zeit in einem prachtvoll möblirten Logis wohne, welches sonst ihr Vater inne gehabt hatte, und welches darum noch nicht unter Siegel gelegt worden sei, weil es in jener Zeit so viel Angeklagte, Verdächtige, Verhaftete und Emigranten gab, daß man nicht an Alles denken konnte.

Nun hatte Prosper nicht mehr nöthig, nach Melun zu reisen. Er ging vor dem von Camilla bewohnten Hause in seiner Straße auf und ab, und seine Blicke nicht von den Fenstern des zweiten Stockwerks abwendend, bemühte er sich, Diejenige durch die Scheiben zu sehen, für die er beinahe den Hals gebrochen hätte.

Aber Camilla trat nie an das Fenster. Da sie nur wilde Gesichter um sich her sah und nur unheimlichen Blicken begegnete, die sie, wie es schien, strafbar finden wollten, weil sie die Tochter eines Emigranten war, so schloß sie sich mit ihrer Gouvernante ein und zeigte sich ihren Nachbarn so wenig als möglich.

Prosper wünschte indeß, die schöne Camilla möchte erfahren, daß er ihr Nachbar sei; denn wenn man Stundenlang nach den Fenstern eines Frauenzimmers lorgnettirt, das sich nicht blicken läßt, so ist es noch eine Beruhigung, sich sagen zu können, sie weiß wenigstens, daß ich da bin, und betrachtet mich vielleicht, ohne sich zu zeigen.

Besonders lieb wäre es dem Jüngling gewesen, wenn er zu der Tochter des Emigranten hätte sagen dürfen: »Wenn Ihnen irgend eine Gefahr drohte, wenn man Sie beschimpfte, wenn man Sie verhaften wollte, so bin ich da, hier gegenüber in den Mansarden; geben Sie mir ein Zeichen, lassen Sie mich holen, und ich werde herbeifliegen und Sie vertheidigen. Ich bin allerdings noch jung, aber ich habe Kraft und Muth; ich fürchte Niemand, habe nichts zu verlieren, und schere mich den Kuckuk um die Welt; unter solchen Umständen wiegt ein Mann oft viere und auch noch mehr auf.«

Um aber dieses Camilla sagen zu können, mußte er sich ihr nähern, sie sprechen. Vergebens zerkaute sich Prosper die Nägel, während er aus seiner kleinen Dachluke im sechsten Stockwerk nach den Fenstern der Wohnung hinabsah, welche den Gegenstand seiner Liebe umschloß. Wenn sich zufällig die Tochter des Grafen am Fenster zeigte, während er sich zu seinem Dache hinauslegte, so hustete, sang und schrie er. Aber umsonst, seine Stimme verhallte in der Luft und drang nicht bis zu dem jungen Mädchen, wenigstens achtete diese nicht darauf, und erhob ihre Blicke nicht bis zu den benachbarten Dächern. Einmal gerieth Prosper auf den Einfall, sich von seiner Dachluke auf die Straße hinabzuwerfen, was allerdings ein ziemlich sicheres Auskunftsmittel gewesen wäre, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Da man indeß keine Garantie hat, daß man von einem Falle aus der sechsten Etage so leicht wieder aufsteht, wie von einem Falle von einem Zweige, so besann er sich eines Bessern, besonders wenn er dabei in Erwägung zog, daß sich umzubringen nicht das sicherste Mittel gewesen wäre, Camilla zu beschützen.

Eines Tages, als Prosper wieder lange am Fenster stand und beständig an ein Mittel dachte, um mit dem jungen Mädchen zu sprechen, welches jetzt auch nicht mehr nach Melun ging, da man mitten im Winter hielt, bemerkte er gegenüber von sich in einem Hause, das mit dem von Camilla bewohnten zusammenstieß, einen seiner Bekannten, einen jungen Buchdrucker, am Fenster eines kleinen Mansardenstübchens.

Plötzlich fuhren ihm tausend der wunderlichsten Gedanken durch den Kopf. Er betrachtete einige Zeit das Dach von Camilla's Hause; von seinem Freunde aus konnte man auf Katzenart leicht hinüberklettern. Dann suchte Prosper die Kaminröhre aufzufinden, welche mit dem Gemache in Berührung stand, in das er zu gelangen wünschte; das Resultat seiner Berechnungen war, daß eine große, mitten auf dem Dache befindliche Kaminröhre unfehlbar aus dem zweiten Stockwerke kommen müsse. Kurz, Alles wohl ermessen und wohl überlegt, verließ der junge Mann seine Stube und kletterte wohlgemuth zu seinem Geschäftsgenossen hinauf.

»Guten Tag, Binet,« sagte Prosper, zu seinem Freunde hineinschlüpfend, der mit einem gebratenen Apfel und einer Kartoffel Mittag machte (das Brod war damals sehr theuer).

»Schau, Du bist's Prosper! ... ah! Du wußtest nicht, daß ich Dein Nachbar bin ... ich bin erst seit Nonidi hier ... Willst Du mit mir speisen? ... genire Dich nicht ... wir theilen mit einander ...«

»Nein, Binet, ich danke Dir ... behalte Dein Diner, es ist nicht zu viel für Dich ...«

»Ach, mein Gott! gegen das Ende der Dekade wird der Beutel leicht und die Taschen klappen zusammen.«

»Ich werde Dir alsbald ein anderes Essen bezahlen ... und bin der Ueberzeugung, daß Du es annimmst ... denn das, was Du jetzt issest, kann Dich nicht daran hindern. Ich habe noch zwei Vierundzwanzigsousstücke baares Geld, die wollen wir mit einander verzehren, und dafür werden wir ein prächtiges Mahl bekommen. Aber vorher bist Du so gefällig und lässest mich auf das Dach Deines Hauses hinausklettern.«

»Auf das Dach hinausklettern? ... bist Du von Sinnen? ...« – Nein, aber verliebt, was ungefähr das Nämliche ist. – »Und deßhalb willst Du auf den Dächern herumklettern! Bist Du in eine Katze verliebt?« – O! nein ... warum nicht gar! wenn meine Schöne eine Katze wäre, so liefe ich nicht ihr, sondern sie mir nach. Es muß Dir genug sein, wenn ich sage, daß ich auf diesem Wege zu dem Gegenstande meiner Liebe zu gelangen hoffe; das Uebrige, denke ich, kann Dir gleichgültig sein.«

»Mein Gott! so geh' aufs Dach, ich habe durchaus nichts dagegen, nur thäte es mir leid, Dich auf die Straße herunterpurzeln zu sehen, denn Du wärest des Todes!«

»Ich purzle nicht herunter ... ich kenne die Dächer ... ich gehe vorzüglich auf dem Eise und hier ist's nicht schlüpfriger. Geh' und erwarte mich bei dem Traiteur an der Ecke des Boulevards, ich werde bald zu Dir kommen.«

Mit diesen Worten zog Prosper seine Schuhe aus, die er in die Tasche seiner Jacke steckte, schwang sich dann aufs Fensterkreuz hinauf, stieg mit einem Fuße hinaus, drehte sich links und rutschte auf den Knieen fort. Sein Freund rief ihm nach: »Sei vorsichtig, sehe nicht in die Tiefe, es würde Dich schwindlig machen!«

Prosper hörte nicht auf seinen Freund, sondern strebte vorwärts. Bald kam er in die Nähe des Nachbarhauses, und mittelst Uebersteigung eines kleinen Mauerwerkes befand er sich sofort darauf. Dort war sein Pfad minder gefährlich, weil das Dach fast eben war. Der Jüngling suchte sich inmitten aller der ihn umgebenden Kaminröhren zu orientiren; endlich erkannte er die von seinem Fenster aus wohlbemerkte, schritt auf sie zu, erreichte sie, und beschloß, in dieselbe hineinschlüpfend, sich darin hinabzulassen, indem er bei sich dachte: »Ich war zwar niemals Schornsteinfeger, aber es kann doch kein Hexenwerk sein, einen Kamin hinabzuklettern.«

Der Weg war indessen nicht so leicht, als Prosper vermuthet hatte, und er stieß überdies auf ein Hinderniß, welches die Schornsteinfeger gewöhnlich nicht antreffen; ehe sie nämlich den Kamin fegen, werden immer alle Feuer abgelöscht, und in dem, durch welches der junge Mann hinabkletterte, brannte zwar nur ein mäßiges, aber dessen ungeachtet hätte der Rauch den angehenden Schornsteinfegersjungen fast erstickt, wenn er sich nicht, um schneller hinabzukommen, entschlossen hätte, mit einem Male hinabzurutschen.

Der junge Verliebte hatte sich aber in seinen Berechnungen geirrt; statt in dem zweiten Stock, in Fräulein von Trevilliers Gemach anzukommen, war er in den dritten, zu einer etwa vierzigjährigen Dame hinabgefallen, die hier allein mit ihrem Stubenmädchen wohnte, zwei Dritttheile ihres Lebens mit Schlafen und den dritten mit ihrer Toilette und den Bemühungen zubrachte, ihre Frische und Festigkeit zu erhalten, die sich zugleich mit ihrer Fettleibigkeit zu entfernen drohten.

Die Dame war so eben in ein Bad gestiegen. Man hatte drei Fläschchen Kölnischwasser, ein Fläschchen Lavendelwasser, zwei Töpfe Mandelteig, sechs Tassen Milch, Kleie und Essenz von Rosenseife hineingethan. In diesem Allem saß die Dame, rieb sich am ganzen Körper, kneipte sich dann in die Waden oder was Anderes und murmelte mit befriedigter Miene: »Es ist fest, es ist noch sehr fest! ... und meine Haut ist so zart wie Atlas ... Ich begreife nicht, warum ich magerer werde ... ich schlafe doch täglich sechzehn Stunden ... Die Bäder werden mich wieder fetter machen ... so hat mich der Arzt versichert ... Reiben wir jetzt die Haut ...«

Plötzlich entsteht ein großes Geräusch im Kamine, und es fällt etwas bis zu der Badwanne herein; es war Prosper, der mit Ruß bedeckt, mit aufgeschürfter Nase, ein Loch im Kopfe und mit theilweise versengten Haaren herabschoß, aber noch glücklich genug, nicht ganz und gar erstickt zu sein, sogleich wieder aufsprang, einen Bockssprung im Zimmer machte und ausrief: »Sackerlott! ich werde kein Schornsteinfeger, das erhitzt zu arg.«

Als die im Bade befindliche Dame den mit Ruß bedeckten, aus dem Kamine herabgefallenen Menschen sah, fing sie entsetzlich an zu schreien, und in der Voraussetzung, es sei ein Dieb, der sich in ihr Zimmer eingeschlichen habe, vergaß sie ihre Situation, ihre Nacktheit, stand auf und sprang aus der Wanne heraus, ergriff in der Eile das erste beste Kleidungsstück, welches ihr unter die Hände kam, schlüpfte mit den Armen in die Aermel und rannte in ihr Zimmer mit dem Ausruf: »Zu Hülfe! Wache! es ist ein Mensch bei mir herunter gefallen ... Haltet den Dieb!« Unglücklicherweise war das Kleidungsstück, welches die Dame ergriffen, eine Nachtjacke, woraus erfolgte, daß zwar ihr Oberkörper bedeckt, ihr übriger Leib aber vollständig nackt war. Als nun das Stubenmädchen ihre Gebieterin nur mit einem Nachtleibchen bedeckt umherrennen sah, glaubte sie, dieselbe habe einen Fieberanfall und schrie ihrer Seits: »Zu Hülfe! meine Herrschaft hat ein Bad genommen, worin zu viele Geschichten waren, das muß ihr in den Kopf gestiegen sein! sie läuft ganz nackt im Zimmer herum.«

Während das Stubenmädchen und die Gebieterin mit einander schrieen, beeilte sich Prosper, der sogleich seinen Mißgriff eingesehen hatte, den Ausgang zu suchen, und indem er der Dame im Nachtleibchen, im Augenblicke, als diese auf die Flur hinauseilen wollte, einen Stoß gab, daß sie sich um sich herumdrehte, gewann er ihr den Vorsprung ab und flog schnell eine Treppe hinab. Dort machte eben ein junges Mädchen eine Thüre auf, um zu erforschen, woher das Geschrei käme.

Es war Camilla. Prosper eilte auf sie zu und flehte: »Um des Himmels willen, retten Sie mich! Verbergen Sie mich einen Augenblick ... Man hält mich für einen Dieb, während ich nur ein Verliebter bin. Nur zwei Minuten Aufenthalt bei Ihnen, um mich ein wenig zu reinigen, dann kann ich ganz ungestört wieder fortgehen.«

Trotz des Rußes, der einen Theil seines Gesichtes bedeckte, hatte Camilla doch den jungen Mann erkannt, der, um mit ihr zu sprechen, sich von einem Baume herabgeworfen hatte; die jungen Mädchen haben ein scharfes Auge. Sie lauschte einen Augenblick; das Geschrei wurde lauter und kam näher; Gebieterin und Zofe befanden sich auf der Flur, die Hausbewohner traten allmählig aus ihren Thüren; Camilla zögerte nicht länger, und obgleich sie in diesem Momente allein zu Hause war, ließ sie Prosper eintreten und verschloß sorgfältig die Thüre hinter ihm.

»O! tausendfachen Dank, Fräulein!« rief der Jüngling aus: »wie glücklich bin ich ...«

Camilla ließ ihn nicht vollenden, sondern fiel ihm mit noch immer strengem Ton in die Rede: »Sie kommen also aus einem Kamine, mein Herr?« – Ja, Fräulein. – »Was bedeutet das, mein Herr, sind Sie Schornsteinfeger geworden?«

»Ja, Fräulein, aber nur für heute, um Sie zu sehen ... um nochmals einen Versuch zu machen, mit Ihnen zu sprechen ... Ich kletterte auf den Dächern herum ... von dort in einen Schornstein hinein ... Ich hoffte, bei Ihnen niederzufallen ... aber ich täuschte mich ... ich fiel zu einer Dame herein, die sich eben badete, Furcht bekam und mich für einen Dieb hielt.« – Aber wenn ich Sie auf diese Weise bei mir hätte ankommen sehen, würde ich mich ebenso gefürchtet haben, wie diese Dame. – »O! nein, Fräulein ... denn Sie hätten mich erkannt ... und wissen wohl, daß ich kein Dieb bin ... sondern, daß ich Sie liebe ... Sie anbete ... Ich wohne hier in dieser Straße, beinahe gegenüber von Ihnen ... Dies wollte ich Ihnen zu wissen thun ... damit Sie ... wenn Sie vielleicht meiner bedürfen ... O! ich wäre so glücklich, wenn ich Ihnen in etwas dienen, nützlich sein könnte ... Aber Sie erschienen nie an Ihrem Fenster, Sie gingen nie aus ... Sie gehen nicht mehr aufs Land nach Melun ... Und, meiner Treu, in meinem Aerger ... in meiner Trostlosigkeit ... entschloß ich mich, über die Dächer zu klettern, um es zu versuchen, auf diesem Wege bis zu Ihnen zu gelangen.«

Wenn man, um sich uns zu nähern, zweimal sein Leben aufs Spiel setzt, indem man sich von der Höhe eines Baumes herabstürzt und dann auf den Dächern herum klettert, so möchte es uns schwer fallen, nicht an die Aufrichtigkeit der Neigung zu glauben, die wir eingeflößt haben. Die Tochter des Grafen schien einen Augenblick ergriffen, aber bald wieder ihre gewöhnliche Miene annehmend, führte sie Prosper zu einem Wassergefäß und sagte zu ihm: »Waschen Sie sich das Gesicht, die Hände ... reinigen Sie Ihre Kleider ... bürsten Sie sich ab ... Weiter brauchen Sie nicht ... machen Sie schnell.«

Prosper gehorchte; als er fertig war, kam Camilla zu ihm her; sie hielt ein Stückchen englisches Pflaster, welches sie abgeschnitten hatte, in der Hand, und klebte es auf die Kopfwunde des jungen Mannes. Dieser wollte ihr danken, sie ließ ihm aber keine Zeit. Sie geleitete ihn zur Thüre, öffnete sie und sagte zu ihm: »Gehen Sie, mein Herr, es ist Niemand auf der Treppe ... und außerdem sind Sie nicht mehr zu erkennen.«

Prosper wollte sprechen, danken, einige verliebte Worte stammeln, allein man schenkte ihm kein Gehör mehr. Er stand außen, und man hatte die Thüre hinter ihm geschlossen. Nun ging er die Stiege hinab zum Hause hinaus, ohne daß Jemand den vermeintlichen Dieb in ihm vermuthete, und eilte zu dem kleinen Traiteur, wo ihn sein Kamerad erwartete, mit dem er die zwei Vierundzwanzigsousstücke verzehrte, und dabei ausrief: »Ach, mein Freund! ich schwimme im Uebermaß des Entzückens ... ich habe sie gesehen ... ich habe mit ihr gesprochen.« – Und Dir dabei die Nase geschunden. – »Ei! was liegt daran! Sieh, dieses Pflaster hat sie mir auf meine Nase gelegt ... aber es gehört auf mein Herz ... und soll mich nie wieder verlassen.«

Damit riß Prosper das Pflaster von der Wunde ab, küßte es und schob es sorgfältig in seine Brust, sein Kamerad lachte, speiste für zweie und murmelte: »Was macht man doch für Dummheiten, wenn man verliebt ist.«

Nun, da wir die ganze Geschichte von Prospers Liebe kennen, wollen wir ihm nach Melun folgen, wohin, wie er erfahren hatte, Camilla am Abend vorher zurückgekehrt war.


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