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Memoiren eines Filmstatisten

Wie aber, fragt der Leser nicht ohne Berechtigung, wie aber sind Sie denn überhaupt nach Afrika gekommen?

Der Weg war so:

Ich saß im Kaffeehaus und dachte gerade nach, ob ich zu ihr nach Halensee fahren oder lieber das Fahrgeld sparen (einmal muß man doch mit dem Sparen anfangen) und mir dafür noch einen Kognak bestellen solle, als ein wildfremder Herr auf mich zutrat und mich fragte, ob ich für Januar frei sei. Dabei kniff er das linke Auge ein und musterte mich ziemlich unverschämt von rechts und links.

Ich verkniff gleichfalls ein Auge und mir eine beleidigende Antwort und erwiderte bloß, ich sei so frei, frei zu sein, für Januar und gegebenenfalls – für den halben Februar.

»Das trifft sich ausgezeichnet«, sagte der wildfremde Herr, »da kannst du Mittwoch mit uns nach Afrika fahren.«

Der wildfremde Herr, der mich duzte, zog sein Notizbuch hervor. Wie ich heiße. Ich nannte meinen Namen, worauf er sich gleichfalls vorstellte: »Garden.«

»Was ist es denn diesmal für eine Sache?«

»Grätz hat im Atelier gespielt, und du wirst bei den Außenaufnahmen seine Konterfigur machen.«

Garden bot mir außer den Reisespesen acht Mark pro Tag, aber er schien erwartet zu haben, daß ich zehn verlangen werde, denn als ich zehn verlangte, bewilligte er sie mir, gab mir einen Zettel, und morgen möge ich mich mit meinem Paß im Atelier einfinden, in Tempelhof.

Morgen fand ich mich im Atelier ein und wurde dem Regisseur vorgeschleift. Der stand gerade inmitten des Frauenhauses von Algier, das zwar aus Pappe, aber auch nicht von Pappe war, und brüllte die Paare aus dem Megaphon an: »Ihr benehmt euch ja wie auf einem Ball bei Kommerzienrats, vergeßt nicht, wo ihr seid!« Endlich benahmen sich die Paare so, wie es sich schickt für ein Frauenhaus in Algier, sie drehten sich und wurden gedreht, und als alle fertig waren, hatte der Regisseur Zeit, beguckte mich von rechts und links und sah, daß ich gut war, nur die Nase gefiel ihm nicht. »Die Nase müssen wir etwas kaschieren«, verfügte er zu Herrn Garden, »nehmen Sie jedenfalls alle Photos von Grätz mit.«

Am Mittwoch, dem 26. Dezember 1926, um acht Uhr abends fuhr das Ensemble in afrikanischer Richtung ab, erster Klasse, Schlafwagen. In der dritten Klasse saß nur der junge Hilfsoperateur und ein als Typ für diesen Film engagierter Mann, dessen Namen weder das Ensemble noch das internationale Kinopublikum kannte, der aber bald von sich reden machen sollte.

In Marseille, bei der ersten Aufnahme (»Einstellung«, sagen die Filmleute), kam mein Rücken zu solchen Ehren, daß mein Gesicht vor Neid erblaßte. Monsieur Jean Bradin fuhr auf dem Quai des Forges im Auto vor, das nach Algier abgehende Schiff zu besteigen. (Dort ist er für die Dauer des Films als Staatsanwalt tätig und bekämpft den Mädchenhandel in – filmisch – wirkungsvoller Weise.) Da sein Auto hält, springt ein Detektiv in Strohhut und typischem Detektivmantel herbei, um dem Chef aus dem Wagen zu helfen und nach ihm das Fallreep zu erklimmen. Von dem Detektiv wird das Publikum der beiden Hemisphären nur die hintere Partie sehen und nicht ahnen, daß diese Partie die des demnächst berühmt werdenden Filmdarstellers E. E. K. ist.

Wer aber kommt kurz nach Jean Bradin durch Kisten und Fässer zur Landungsbrücke geschlichen? Mister Warwick Ward, derzeit mit Filmgage als Mädchenhändler und Lieferant der Frauenhäuser in Algier tätig! Er wird von einem Mann begleitet, der gleichfalls ein Mädchenhirt, aber nur sein Gehilfe ist und daher um einige tausend Mark weniger Monatsgage bezieht. Dieser Mann – Filzhut, Sakko – hat scharfe ausgeprägte Züge, man kann ihn, da er nur kurz am Apparat vorbeihuscht, ganz gut für Paul Grätz halten, jedoch es ist ein anderer – kein anderer als der demnächst berühmt werdende Filmdarsteller E. E. K.

Dem Kinopublikum bleibt selbstverständlich die Tatsache verborgen, daß der sympathische Rücken des Mädchenhandelbekämpferassistenten untrennbar zu dem unsympathischen Gesicht des Frauenhausbelieferergehilfen gehört, und jedermann glaubt, zwischen dem Adjutanten des Engländers Warwick Ward und dem Adjutanten des Franzosen Jean Bradin werde sich bald ein Kampf bis aufs Messer entspinnen.

Ehrlich gesagt, dachte ich das auch und war neugierig auf das Resultat; denn wie Nestroys Holofernes hatte ich mich längst mit mir zusammenhetzen wollen, »um zu sehen, wer stärker ist: ich oder ich«.

Warwick Ward rief mich wiederholt aus dem Innern des Schiffes zu sich, um mich auf ein Mädchen namens Amélie aufmerksam zu machen; die reist aus einem französischen Kloster zu ihrer Mutter und ist von Mister Ward zur Verschleppung in ein bestimmtes algerisches Frauenhaus ausersehen, weil er noch nicht ahnt, was sich im fünften Akt begeben wird: Die Besitzerin des Frauenhauses ist die Mutter von Amélie, und – mehr ahne ich selbst nicht, da ein Filmkomparse (auch der beste!) das Filmmanuskript nicht zu lesen bekommt und jene Szene im Frauenhaus von Algier bereits in den Bereich der Atelieraufnahmen fiel.

Also, wie gesagt, ich wurde gerufen, ich erschien – das heißt, nur meine Hand tauchte am Stiegengeländer auf, und mit meinem filzhutbedeckten Hinterkopf gab ich mimisch zu verstehen, daß ich den Auftrag begriffen habe und auf den Leckerbissen aufpassen wolle. Die Aufgabe war nicht ohne Gefahr, denn als strohhutgeschmückter Assistent des Herrn Staatsanwalts wurde ich kurz darauf von diesem auf mich aufmerksam gemacht und hatte vor mir auf der Hut zu sein, sozusagen mit dem Strohhut auf der Filzhut.

Der Operateur, der schon zweihundertachtzig Filme mit Tausenden von Komparsen gedreht hat, behauptete jedesmal, sobald ich vor seine Linse kam, ich sei ganz eigenartig, jemand wie ich sei ihm noch nie begegnet. Dies war nicht schmeichelhaft gemeint, denn er schloß seine Feststellung mit dem Ausruf: »Du selten dämlicher Hund«, aber die Fehler, die ein Mädchenhändler begeht, sind keineswegs tragisch, wenn sich wenige Minuten später der ihn beobachtende Detektiv gleichfalls als selten dämlicher Hund erweist.

So verschwand ich beim Anlegen an der algerischen Mole im Gewühl von Arabern und Negern über Ankertrossen, Fässer, Kisten und Ketten derart ausgezeichnet, daß ich, in meiner Eigenschaft als Detektiv mich verfolgend, trotz meines Scharfblicks keine Spur von mir entdecken konnte. Das kränkte mich nicht, aber achtlos an einem alten Araber vorbeigehen zu müssen kränkte mich, denn privat wußte ich genau, daß dieser alte Araber niemand anderer sei als der von mir offiziell gesuchte Warwick Ward im Burnus. Der Operateur kurbelte mein ahnungsloses Vorbeigehen, und obwohl er diesmal an mir nichts aussetzte, verdroß es mich, vor der Kinomenschheit als selten dämlicher Hund dazustehen.

Die nächsten Wochen verbrachte ich sozusagen auf dem Anstande. Jeden Morgen zog ich ein Kostüm an, zerlumpte Sandalen, zerlumpten Haïk, zerlumpte Hängehosen, zerlumpten Burnus und zerlumpten Turban, und sogar der Schminkkasten, mit dessen Inhalt ich mich braun und greisenhaft und orientalisch malte, war zerlumptes Zeug. Ich spielte einen arabischen Bettler – so glaubte ich, in Wirklichkeit war ich jedoch noch immer jener uns vom Schiff her bekannte Mädchenhändler, der nur seinen europäischen Anzug und seinen Filzhut mit dieser morgenländischen Gewandung vertauscht hatte.

Das wußte ich keineswegs, kannte ich doch meine Rolle nicht, hielt mich für einen erbeingesessenen Bettelmann, aber nach der Aufnahme sagte mir der Regisseur, ich hätte gerade die Verstellung wunderbar herausgebracht, trotz des arabischen Kostüms müsse jeder auf den ersten Blick erkennen, daß ich kein wirklicher Araber sei.

Vor diesem unverhofften Erfolg saß ich zwei Wochen auf der Kasbah, dem Elenden- und Prostituiertenviertel Algiers, geschminkt und kostümiert im Auto, harrte des Augenblicks, da man mich rufen werde. Vor dem schuß- und zielbereit aufgestellten Apparat wartete der Operateur auf seine allerprominenteste Mitarbeiterin: auf die Sonne. Die hatte Starlaunen, kam nicht.

Einmal nur in diesen endlosen vierzehn Tagen ertönte der Schrei nach mir, ich sprang herzu, nun fand man plötzlich, meine Runzeln, die morgens noch richtig gewesen waren, seien ganz verlöscht, schnell wurden sie nachgezogen, aber inzwischen hatte sich die Sonne verkrochen, als sei sie über mich erschrocken.

Um so größeren Erfolg hatte ich bei der Straßenjugend, kein europäisch, also exotisch genug gekleideter Darsteller, kein kurzgeschnittenes Frauenköpfchen und kein kurzgeschnittenes Frauenröckchen erregten solches Hallo wie mein landesüblicher Habitus. Schreiend umgab mich all das, was von Berbern und Arabern Algiers in Gemeinschaft mit ihren je drei Frauen in den letzten vierzehn Jahren legitim gezeugt worden ist, und überdies die innerhalb dieser fruchtbaren Epoche geborenen Kinder der Mädchen aus den blaugetünchten Liebeshäusern.

Die Polizei schritt mit Gummiknüppeln ein, und das Auto, das mich, den Liebling des Volkes, barg, war so belagert, daß an Straßen-, Markt- oder sonstigen Verkehr nicht gedacht werden konnte und sich Geschäftsstörungen ergaben. Deshalb wurde ich, wenn die Sonne für den Rest des Tages gar keine Spiellaune zu äußern schien, nach Hause geschickt, ich entledigte mich der Lumpen, schminkte mich mehrere Stunden lang ab, setzte mich hungrig in den Speisesaal – um im selben Augenblick vom hereinstürmenden Hilfsoperateur zum Ankleiden und Anschminken und Antreten befohlen zu werden.

Endlich gelang es uns, während dieses Fangballspiels mit der natürlichen Jupiterlampe eine Runde zu gewinnen, ich saß an einem Felsenwinkel, im Hintergrund die Gesamtansicht von Afrika, ich und die Kurbel bewegten uns, Warwick Ward schlenderte unauffällig vorbei, gab mir einen Wink, ich verstand (nichts) und machte mich eilends auf, die schöne Amélie von ihrer dicken Begleiterin abzudrängen.

Eilends? Im Film wird vielleicht dem Erhalt meines Auftrages die Ausführung unmittelbar folgen. Aber diese zwei Sekunden entsprechen der Realität von mehr als einer Woche. Wir waren es müde, uns dem Geiz der Sonne und der Verschwendung des Regens zu unterwerfen, und fuhren über das Atlasgebirge, das der Kopf, durch El-Kantara, das der Mund der Wüste ist, dieser geradezu in den Bauch. In Alt-Biskra wurden bildhafte Partien ausbaldowert, man kurbelte Liebesszenen und Haßszenen, Passagen in der Sahara (die sich bei dieser Gelegenheit weniger wüstenecht erwies als das Wüstenfilmgelände von Rehberge bei Berlin), den Überfall auf eine Karawane mit tödlicher Verwundung des Filmhelden und seine Transportierung in ein Zelt. (Dort war er lange vorher gestorben – schon bei der Atelieraufnahme in Tempelhof.)

Auch mein Stündchen schlug. An einer Stelle des Oasendorfs, wo sich die schmalen Häuserfronten aus Torf und Lehm zu einem kleinen Platz weiten, kam ich, der vor einer Filmsekunde an der Mittelmeerküste einen Befehl erhalten hatte, nach zehn Tagen in der Sahara herangeeilt. Ich wandte mich, als ich im Bilde war, noch einmal nach meinem Auftraggeber um und machte ihm ein Zeichen, daß ich ihm gleich Spielraum für seine Tätigkeit schaffen werde. Unter uns gesagt, sah ich Warwick Ward gar nicht, seine Partie war mit jener Szene auf der algerischen Kasbah beendet gewesen, unmittelbar darauf war er nach Nizza gereist. Ich winkte dem Abwesenden einverständnishaft zu und rannte zu einem maurischen Brunnen, kauerte mich an den Rand.

Jeder Zoll ein arabischer Bettler, wartete ich der Dinger, die da kommen sollten. Es waren Mademoiselle Amély und ihre korpulente Gesellschafterin, die letztere bettelte ich an, sie entnahm dem Handtäschchen eine Münze für mich – so glaubhaft schien ich ihr, aber, haha, ich war kein Bettler, ich war ein Mädchenhändler, der sich zum Schein als Räuber gebärdet, um das junge Mädchen von der Begleiterin zu trennen. Der dicken Gouvernante entriß ich die Tasche, Großaufnahme 50, und schoß mit der Beute davon, in unerhörter Schnelligkeit, aber natürlich hübsch langsam, damit der Operateur seinen Apparat auf eine schöne Perspektive mit Palmen und einem Minarett einstellen könne. Die korpulente Frau jagte mir nach, ich verschwand in einer Mauerlücke, sie schaute lange durch und sah mich nicht. Sie konnte mich nicht sehen – so gut hatte ich mich versteckt, einem plötzlichen, schlauen Einfall folgend!

Worin bestand nun mein plötzlicher, schlauer Einfall? Zwei Tage später sollte ich das erfahren. Ich war – eigentlich hatte ich nichts anderes von mir erwartet! – in eine Karawanserei gesprungen und hielt mich hinter dem Höcker eines liegenden Kamels verborgen. Während mich aber das Kinopublikum sehen wird, wenn ich vorsichtig hinter dem Kamelrücken auftauche und mit mimisch meisterhaft ausgedrücktem Hohn die geraubte Handtasche schwinge, hat die dicke Gesellschafterin zu ihrer Schutzbefohlenen zurückzueilen versucht – zurück, du rettest Amély nicht mehr, sie ist bereits ins Frauenhaus verschleppt worden, mitten hinein in das wüste Treiben der Atelieraufnahme. Meine Szene in der Karawanserei war schwierig, da die Kamele, durchwegs bissig, nicht duldeten, daß ihnen ein Berliner Kinokomparse den Buckel entlangrutsche, ja auch nur hinter ihrem Buckel liege, noch dazu ohne besonderes Honorar. Nachdem viele Meter verdreht worden waren, fand sich doch ein Kamel, das sich phlegmatisch als Versteck eines Komödianten mißbrauchen ließ.

Damit war die Rolle des gutmütigen Kamels beendet, ich konnte nach Hause gehen, mich abschminken, mein Komparsenhonorar und das Geld für die Rückfahrkarte in Empfang nehmen – es reichte nur für die dritte Klasse. Das war zwar von vornherein ausgemacht, aber von vornherein konnte man meine filmische Begabung nicht kennen. Jetzt mußte ich es als Ungerechtigkeit empfinden.


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