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Die tunesischen Juden von Tunis

Eben komme ich aus der Sahara, dort sah ich Berber, Neger, Beduinen, Kabylen, Ruarhi und andere mehr oder minder wilde Araberstämme bei tollen Schwerttänzen, bei ernsthaften Raufereien, bei Gericht wegen Blutrache. Aber ein solches Volk begegnete mir niemals wie die Juden von Tunis. Genau zu sein: wie die tunesischen Juden von Tunis, die Tuansa. Denn es gibt noch andere ansässige Juden in Tunis; davon später.

Wo leben sie?

Sie leben in der Altstadt, zwischen der Medina, in der die Araber ihre Wohnungen haben und in den gewölbten Labyrinthen der Suks ihre Waren erzeugen und verkaufen, und den offensiven Gäßchen der Prostituierten, von denen eines »Straße der Gänse« heißt. Das Judengetto, die Hara, ist nicht ummauert und überschneidet manchmal die beiden Nachbargebiete, bildet eine Enklave darin.

An der Moschee des Sidi Mahrez, deren viele kleine Kuppeln die hohe Mittelkuppel wie eine Familie umgeben, geht die Grenze des Judenviertels mit Recht haarscharf vorbei. Denn Sidi Mahrez, das Andenken des Gerechten sei gesegnet, war ein Marabut, der die Beni Izrael liebte und Einfluß genug besaß, um ihnen vor vierhundert Jahren beim Bey zu erwirken, daß das Verbot, sich außerhalb der Vorstadt Melassine anzusiedeln, aufgehoben wurde. So konnten sie in die Hara ziehen, und am Todestage von Sidi Mahrez zünden die Tuansa Kerzen an und beten. (Anderseits sind wieder am jüdischen Versöhnungstage alle Geschäfte geschlossen, auch die französischen und italienischen, die der einheimischen Christen und der Araber.)

Wie leben sie?

Keine Mauer umzäunt das Viertel, man erkennt es jedoch sofort. Schmutz und Lärm erfüllen seine Gassen, Kehrichthaufen und Tümpel erschweren die Passage, unerträglich ist der Geruch.

Bei den Arabern lag nichts dergleichen im Wege, denn sie säubern ihre Wohnungen einmal im Monat, der Mann ist fast niemals zu Hause, sondern im Geschäft, in der Moschee und hauptsächlich im Kaffeehaus, es gibt fast tausend maurische Cafés in der Altstadt, mit Matten auf der Erde, Märchenerzählern, Geschichtenvorlesern, Schachbrettern, Nargilehs, Dominospielen, aber kein einziges »Café à la rumi«, kein romanisches, wo die Juden sitzen könnten. Die sind daheim, und die reinlichkeitsbeflissenen Hausfrauen in der Hara fegen täglich, waschen täglich und – werfen dann den Unrat vor die Haustüre, unbekümmert darum, daß der Mistbauer längst die Gegend passiert hat.

Über altrömischen Portalen – Karthago war jahrhundertelang im Ramsch zu haben, und der Transport war billig! – sind ein Paar Ochsenhörner zum Zwecke des Glückbringens befestigt, tritt man durch ein solches römisch-koscheres Tor in ein armseliges Haus ein, so sieht man sich in angenehmen Kontrast zur Straße versetzt.

Wie tragen sie sich?

Ähnlich ihren Anrainern gehen sie gekleidet, besonders die ältere Generation. Die Männer haben die gleichen Kostümstücke wie die Araber, die rote Scheschia mit der buschigen Quaste auf dem Kopf, Gandurah und Burnus um den Leib geworfen. Nur der Sockenhalter fehlt ihnen, den jeder Araber hat, außer dem barfüßigen – der Sockenhalter ist der einzige Apparat der europäischen Zivilisation, den die Beduinen akzeptiert haben, und man findet ihn bis tief in die Sahara hinein.

Während jedoch die Araberfrauen ihr Gesicht mehrfach mit schwarzen Schleiern umwickeln, so daß bloß durch einen schmalen Schlitz dieser erschreckenden Larve die Augen hervorlugen, zeigen die Jüdinnen ihr Antlitz frei. Auf den Hinterkopf stülpen sie einen Zuckerhut, der nicht aus Zucker, aber doch ein Hut ist, ein goldbestickter noch dazu, und mit einem Band umwunden, dessen Ende auf die Schulter fällt. Sie tragen keine Röcke, sondern breite weiße Hosen, die oberhalb der Knöchel um die Wade geschlossen sind. Die Jugend allerdings beginnt bereits die Tracht der Väter zu verlassen und mehr noch die der Mütter, zum Etonköpfchen paßt kein Zuckerhut, auf Charleston reimt sich kein Pantalon.

Was ist ihre Gerichtsbarkeit?

Es gibt keine tunesische Staatsangehörigkeit, es gibt keine tunesische Nationalität, es gibt nur Untertanen Seiner Hoheit des Beys von Tunis. Sie unterstehen in persönlichen und Familienangelegenheiten dem Urteil ihrer Religionsgemeinschaften, die Christen dem Bischof, die Mohammedaner dem Scheik-Islam und die Juden dem rabbinischen Tribunal.

Die Zahl der christlichen Untertanen ist sehr gering, und die »Officialité«, der bischöfliche Gerichtshof, tagt selten. Gebäude und Prozeßordnung der »Châara« in der Rue du Divan sind bizarr; von einem Thronsessel für den Bey, der natürlich nie »besetzt« ist, verlaufen halbkreisförmig längs der Wand niedrige Sofas. Auf der einen Seite, rechts vom leeren Thronsessel, sitzt der Scheik-il-Islam, neben ihm drei Muftis und neben diesen der Kadi als Vertreter der Exekutivgewalt; vor ihnen stehen die Parteien von hanefitischem Ritus. Gleichzeitig wird auf der anderen Seite desselben Zimmers gegen Parteien von malekitischem Ritus verhandelt; dort, links vom Bey-Stuhl, hocken der Basch-Mufti und drei Muftis. Im Arkadenhof: eine winzige Loge, in der der Scheik-il-Islam für die Parteien zu sprechen ist.

Jenseits ein Gefängnis. Es ist einzigartig – nicht wegen der breiten Mauerbänke, nicht wegen der schlanken Säulen in der Gemeinschaftszelle und auch nicht deshalb, weil es darin stinkt, wie wenige Arrestlokale der Welt stinken; dies ist kein Wunder, denn außer einem Doppelgitter verschließt noch ein Deckel das Fenster des Schachtes, der in der Mitte der Zelle in die Welt des Lichtes führt. Also weshalb ist dieses Gefängnis so eigenartig? Weil der Aufenthalt darin nicht entehren soll.

Ich traf in dem übelsten Geruch den heitersten Muselman an. Er ist schon sechs Tage eingekastelt, weil seine Frau sich beschwert hatte, daß er sie mißhandle. Scheidung gibt's nicht, der Ehemann kann die Gattin ihren Eltern zurückgeben, wenn sie ihm nicht mehr paßt. Unserem Freund aber paßte sie. Das paßt wieder dem Kadi nicht, der auf dem Standpunkt steht, eine Frau, die einem paßt, hat man nicht (allzusehr) zu prügeln, und eine Frau, die man prügelt, paßt einem nicht, und man hat sie den Erzeugern retourzusenden. Zwingen kann allerdings kein Kadi (in Familiensachen), und so sperrt er unseren Freund ein, damit er sich's überlege. Der hat sich's bereits überlegt! »Zurückgeben werde ich sie nicht, aber verhauen, daß sie ewig an mich denken wird.« Die Verwirklichung dieses Entschlusses wird sicherlich noch einige Tage dauern, aber was stört den liebenden Ehe- und Muselman ein wenig Kerker mit viel Gestank?

Die Juden kommen in Angelegenheiten des Statut personnel, Erbrecht, Adoption, Paternitätsgeschichten, Alimentationen, Heiratsdingen vor das Rabbinatsgericht, den Bit-Eddine in der Rue de Tanneurs, wo gleichfalls ein leerer Thronsessel ist für den Oberrabbi und drei besetzte Lederstühle für die zu Richtern bestellten Rabbiner. In Sachen des öffentlichen Rechts ist für alle Eingeborenen das Wesirat, die Uzara, zuständig – wo die Muslimen meist recht, Christen und Juden meist unrecht bekommen.

Welches sind ihre Gesetze?

Die tunesischen Juden von Tunis richten sich nach dem Talmud, und nach diesem wird auch vor ihrem Tribunal Recht gesprochen. Nun sagte mir zwar ein Richter vom französischen Appellationsgericht, der seine freien Stunden dazu benutzt, um den Verhandlungen des Bit-Eddine beizuwohnen, und der Hebräisch und Arabisch gelernt hat, um den Prozessen folgen zu können, besagter Richter also behauptete, der Talmud sei das eindeutigste und logischeste aller Gesetzbücher, und da es nebenbei das älteste ist, so sei nicht einzusehen, warum keine rechtshistorische Lehrkanzel sich mit dem Talmud befasse.

Weil der Talmud so alt ist und so unverändert geblieben, ist man verblüfft, ihn als staatlich geltendes Gesetzbuch in Kraft zu finden. Man muß sich zum Beispiel wundern, daß bei Juden des zwanzigsten Jahrhunderts, die zwar in Tunis leben, aber doch die gleiche Religion wie die des europäischen Westens haben, die Bigamie gestattet ist – bei kinderloser Ehe kann der Gatte eine zweite Frau heiraten, ohne die erste zu verlassen.

Den Begriff der Scheidung gibt es nicht; der Mann darf die Frau ohne Angabe von Gründen ihren Eltern zurückerstatten, die Frau jedoch kann den Wunsch, aus der Ehe entlassen zu werden, nicht vor Gericht vorbringen, da dieses nicht einmal einen so freundlichen Arrest der Mürbemachung besitzt wie das mohammedanische Tribunal.

Allerdings sehen sich die Eltern einer Braut rechtzeitig vor, daß ihnen die Tochter nicht nach einigen Jahren mies und alt retourniert wird: In der Ketuba, dem Heiratsvertrag, wird normiert, welchen Preis der Schwiegersohn als Abnutzungsgebühr zu bezahlen hat, wenn er einmal seine Frau heimsenden sollte; erlegt er diesen Betrag, ist er nicht mehr verheiratet, und am selben Tage kann er eine neue Ehe schließen.

Eine noch merkwürdigere Einrichtung ist die »Halitza«, der zufolge beim Tode eines Ehemannes dessen jüngerer Bruder verpflichtet ist, die Witwe zu heiraten. Unterläßt er es, um ihre Hand anzuhalten, hat sie eine Reihe von Gemeindeältesten einzuladen und in deren Gegenwart an ihren Schwager die Frage zu richten, ob er die Halitza erfüllen will; lehnt er ab, so ist sie gehalten, ihren Schuh vom Fuß zu nehmen und dem Ungehorsam-Ungalanten ins Gesicht zu schlagen, ohne daß er sich wehren darf. Mit dieser materiellen und symbolischen Handlung ist der Geschlagene der öffentlichen Verachtung preisgegeben. Weshalb aber, wird man fragen, erscheint denn der Mann überhaupt zu seiner Verprügelung? Er muß erscheinen – widrigenfalls er von der Polizei des Beys geholt wird, die die Beschlüsse des rabbinischen Tribunals exekutiert.

Diese Urteile entscheiden oft über Millionenbeträge, zum Beispiel ging vor kurzem nach dem Tode des reichsten tunesischen Bankiers dessen einziges Kind, die Tochter, leer aus, da nach dem Talmud Frauen nicht erbberechtigt sind.

Wer achtet sie?

Mit ihren Nachbarn leben die Tuansa in tiefstem Frieden, von dem Antisemitismus, den man bei den Söhnen Sems in den Saharadörfern beobachten kann, ist unter den Arabern im Grabbezirk des Sidi Mahrez nichts zu spüren, ja, es gibt sogar solche, die ihre Kinder in die Schule der Alliance Israélite, Rue Malta-Srira, schicken. Andererseits bemüht sich eine Mission der englischen Hochkirche um die Bekehrung der Juden und unterhält auf der Place des Potiers eine Schule. In ihren Suks nähen die Juden coram publico Burnusse und europäische Kleider, Gewölbe an Gewölbe, sie verfertigen auf einer Bühne ziselierten Schmuck, viele sind Zimmermaler, viele verkaufen Teppiche und Parfüms und Stickereien, viele sind Großhändler und reich, bei Araber und Christ geachtet.

Und wer verachtet sie?

Nicht aber bei den anderen Juden von Tunis, den Livornesern. Die leben gleichfalls seit vielen hundert Jahren in Tunis, aber sie sind nicht Untertanen des Beys, sondern haben die Staatsangehörigkeit des Landes behalten, aus dem ihre Ahnen eingewandert sind. Nicht alle stammen aus Livorno, obwohl selbst für die, die direkt aus Livorno stammen, in ihrer toskanischen Heimatstadt kein Platz mehr wäre, die Urheimat von vielen »Livornesern« (arabisch: »Grani«) sind andere Länder der Mittelmeerküste; deren Gesetzen unterstehen sie, teils dem französischen, wenn sie Franzosen oder Korsen sind, teils dem englischen, wenn sie Malteser, teils dem italienischen, wenn sie Italiener, Sardinier oder Sizilianer, nicht aber, wenn sie Tripolitaner sind.

Auch die Livorneser sind Sephardim (aschkenasische Juden gibt es in Tunis nicht), auch sie betten ihre Toten in sechs Kleidungsstücken und ohne Sarg in die Erd (so sprechen die Araber und die Tuansa das Wort Erez, das heißt Erde, aus). Auch in ihren Synagogen sind die Thorarollen in runden Kästchen aus Holz aufbewahrt, und von der Decke hängen mehr als hundert Votivampeln an Ketten und in Ringen, die den tunesischen Silberschmieden Ehre machen und oft das Meisterwerk eines Sohnes zum Andenken an seine verstorbene Mutter sind. Auch sie illustrieren – wie alle Araber und wie die Tuansa –, wenn sie einander die Hände reichen, die gegenseitige Adoration (Verehrung), indem sie nachher ihre eigene Hand zum Munde (ad orem) führen.

Was unterscheidet die Grani von den Tuansa?

Aber die Livorneser tragen nicht nur Sockenhalter, sondern auch europäische, kurfürstendammeske Kleidung, Alte und Junge, Herren und Damen. Im Kriege dienten sie in ihren respektiven Heimatländern, während die tunesischen Juden des ganzen Landes (und die Araber aus den fünf größten Städten Tunesiens) keine Dienstpflicht leisten müssen – dieses ewige Privileg haben sie vor grauen Jahren für irgendeine finanzielle Rettung erhalten, und es macht dem Protektor des Landes schweres Unbehagen, er möchte, gerade in diesem einen Punkte, eine volle Gleichstellung aller Kolonialvölker mit den Bürgern der französischen Republik herbeiführen!

Weshalb denn, wenn man fragen darf, hassen sie einander?

Die Grani, die zumeist Ärzte, Advokaten, Großkaufleute und Bankdirektoren sind, verachten die tunesischen Landsleute und Glaubensgenossen aus tiefster Seele, aus vollstem Herzen und mit aller Macht. Sie haben ihre eigenen Rabbiner, ihre eigenen Synagogen, ihre eigenen Wohlfahrtsinstitutionen und ihren eigenen Friedhof, und die Ehe eines der Ihren mit einer Tochter des Gettos, mag diese noch so reich und der Livorneser noch so arm sein, gilt als schimpfliche Mesalliance.

Ihnen erscheinen die Gettoleute als wilde, unzeitgemäße Gestalten. Sie werfen ihnen vor, daß sie sich bei der Beerdigung eines Rabbi so heftig um die Ehre prügelten, den Leichnam tragen zu dürfen, bis dieser zur Erde fiel, und seither die Polizei bei ihren Leichenbegängnissen ausrücken muß.

Sie werfen ihnen vor, in ihren Synagogen gehe es wie in Kaschemmen zu – ich aber sah noch niemals eine Kaschemme, in der ein solcher Lärm und ein solches Chaos geherrscht hätte wie in der Sla Kebira, der Großen Synagoge von Tunis, noch nie sah ich, daß Gäste eines Wirtshauses ihre Stühle auf den Schanktisch stellten, hier, in der Sla, saß man auf dem Podium kreuz und quer und brüllte fromme Worte.

Die Tuansa (Subjekt) hingegen verachten die Grani (Objekt), weil diese sich assimiliert haben, sich nicht schämen, Soldaten zu sein, sondern sich außerdem einreden lassen, es sei ehrenvoller, sich »Mario« zu nennen, wenn man Mordechai heißt, und vor allem, weil es weniger livornesische als tunesische Juden gibt und weil die Jugend der Tuansa den Livornesern nachahmt.

Des Tuansi Tochter will keinen Zuckerhut auf dem Kopfe tragen und zeigt die Hosen nur, wenn sie in ihren kurzen Röcken mit gekreuzten Beinen in der Straßenbahn sitzt, des Tuansi Sohn trägt zwar noch den Fez, aber er legt ihn ab, wenn er Fußball spielt oder Charleston tanzt.


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