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Chinesenstadt

Zwischen Fässern, Kisten, Ballen – Handwagen, Waggons, Lastautos – Masten, Kranen, Stricken – Körben, Säcken und Verschlägen – verhandeln Clerks, Notizbuch in der Hand, mit Kapitänen, verhandeln Kaufleute mit Steuermännern, während Arbeiter, schwere Last auf dem Nacken, schwere Last auf dem Karren, schwere Last in den Armen, die Kaistufen bergauf klimmen, die Landungsbrücken bergab.

Die West India Docks liegen noch östlicher als das schon hinreichend östliche Whitechapel, sind riesenhafte Binnenseen, quadratisch ummauert. Eine Armada von Warendampfern verstopft die Becken – wo hört das Deck auf, und wo beginnt der Laufsteg?, wo hört die Schrotleiter auf, und wo beginnt die Rampe?, was ist Laderaum und was bereits Schuppen?, wer ist Seemann und wer Hafenarbeiter? Der Kontakt Themse-London ist hier tausendfältig.

Lange nach Sonnenuntergang – Dunkelheit erschwert Zählung, Buchung und Beaufsichtigung der Waren – machen die verkrümmten, schweißdurchtränkten Dockers Feierabend.

Haben sie das Tor verlassen, vor dem die Zollbeamten in Polizeiuniform Wache halten, dann dürfen die Arbeiter ihre kurze Pfeife anstecken, hinaufeilen zur Herberge, zu Whisky und Gin, zu Tee und – Opium.

Seltsame Welt: West India Dock Road. Wenn man die Pferde der Straßenbahn zwischen den Schienen trotten sieht, so steigen Schatten längst vergangener Tage auf, man glaubt sich in eine Kleinstadt, eine idyllische Kleinstadt versetzt. Kann man angesichts des beinahe vorsintflutlichen Vehikels vermuten, in der größten Verkehrsstadt zu sein? Auch die Straße, die Boroughs »Poplar« und »Limehouse« scheidend, ist nicht London, sie ist eine Hafenstraße wie alle Hafenstraßen der Welt, ein Zwischendeck von Meer und Land, mit aller Nationen Flaggen bunt bewimpelt in Gestalt von polyglotten Wirtshausschildern.

Über Haustoren, in denen steile Holztreppen direkt aufwärts führen, ist gesagt: »Chinese and Japanese Seamen censed Boardinghouse.« Daneben wohl derselbe Text in Schriftzeichen, als hätte ein in Tusche getauchter Krummsäbel sie hingefochten und ein in Tusche getauchter Dolch gegen das gleiche Ziel gewütet. Man begegnet Chinesen, doch fast ebenso vielen Negern, Malaien und Indern.

Erst wenn wir nach Causeway einbiegen oder nach Pennyfields, ist die Internationalität vorbei: Hier ist das Reich der Mitte. Vor allen Türen lungern Chinesen, sie hocken in der für den Europäer ermüdenden tiefen Kniebeuge auf dem Fußsteig, sie schauen aus den Fenstern, sich mit ihren Landsleuten vor den Häusern unterhaltend. Alles ist voll von wachsgebosselten Gesichtern, deren Backenknochen aus der Haut springen und die Augen winkelig verschieben. Zöpfe gibt es nicht auf diesen Köpfen. Die Chinesen hier haben sich assimiliert, ihr Haar im Nacken nach amerikanischer Art kurzgeschoren, sie sind glattrasiert oder mit englisch gestutztem Schnurrbart.

Auf den Firmentafeln der mit Tee, gebackenen Fischen und anderen Nahrungsmitteln handelnden Geschäfte stehen nur die spinnenbeinigen Runen, die kein Weißer entziffert, und hinter dem Pult manipulieren Chinesen.

Selbst die Zigarrenläden mit englischer Aufschrift blieben von der Umgebung nicht unbeeinflußt: In den Schaufenstern sind zwischen die unterschiedlichen Sorten von Kautabak, Pfeifentabak, Zigarettentabak und Fertigware allerhand exotische Sonderbarkeiten gebreitet, als Pfand oder als Tauschobjekt hinterlassen: Bernsteingötzen, bronzegegossene Statuetten, Schirme aus Bambus und rosa Seide, lackierte Dosen, zart gemalte Blumen und Vögel auf wahrhaft echtem Japan-Bütten, Papierfächer, Schwerter mit einem aus Speckstein geschnitzten Griff, porzellanene Pagoden und jadene Buddhas, kopfnickend, Augen herausstreckend.

Das Gros der Chinesen hält sich nur vorübergehend in London auf. Fast ausschließlich Heizer, bleiben sie so lange hier, als ihr Dampfer in den Docks liegt; auf britischen Schiffen werden nicht weniger als achtundfünfzigtausend Chinesen, Javaner und Malaien als Kesselheizer und Hilfsarbeiter verwendet, und die Zahl steigt – den zur Abwehragitation angelegten Statistiken der britischen Schiffsarbeiterorganisationen zufolge – jährlich um siebentausend Mann.

Überdeutlich sieht man den Burschen, Männern und Greisen ihre verdorrende Tätigkeit und ihren erbärmlichen Lohn an. Ist ihre gelbe Gesichtsfarbe von der ewig glühenden, kohlenstaubdurchsetzten Luft der Kesselräume nicht noch fahler gefärbt, scheinen ihre mongolisch eckigen Wangen durch die Kärglichkeit der Nahrung nicht noch tiefer gehöhlt, sind ihre vom Hocken gekrümmten Beine nicht dünn wie die von Kindern, die an Rachitis leiden, der englischen Krankheit!

Auch sie, diese zu Skeletten gewordenen Lohnsklaven, diese sagenhaft genügsamen Kulis, wollen sich auf dem Festland, in der Weltstadt amüsieren – nur knapp ist das Intervall zwischen der mehrmonatigen, mühevollen, eintönigen Fahrt und der neuerlichen Einschiffung.

Frech frisierte Mädchen, von der Mode nicht ergriffen (vielleicht wagen sie es nicht, dem alterprobten Geschmack ihrer Käufer zu trotzen), große Reifen aus schierem Gold in den Ohren, nachgedunkelte Ringe unter den Augen, wie von Steinlen gezeichnet, pirschen sich an die Chinamen heran, kennen viele mit Namen, wechseln chinesische Worte mit ihnen und erlangen ab und zu das, was diese armen Geschöpfe Glück nennen müssen.

Wieso haben sie Glück bei den Chinesen, die doch eine zärtlichere, reinlichere Prostitution kennen? Oder blühen auch die Kirschblüten des Yoshiwara nur dem, der mehr Geld hat als ein Kuli des Kessels?

Es scheint so, denn echte Geishas, von Zeit zu Zeit hierher importiert, verkuppelt der schlaue Assimilant Tschang Tu-tao in seinem von Europäern frequentierten Haus an reiche Lebemänner, die sensationslüsterne Sexualität mit der Eigenschaft vereinigen, ihn der Polizei nicht zu verraten.

Obwohl einige hundert Chinesen als Dockarbeiter, Kaufleute, Straßenhändler, Teehausbesitzer und Pensionswirte in London ständigen Wohnsitz genommen und Mädchen ihrer Heimat geheiratet haben, bekommt man Chinesinnen nie zu Gesicht.

Dieses Haus dürfte ein Teehaus sein, unaufhörlich gehen Männer ein und aus. Auf der Holztreppe begegnet uns ein Chinese, starrt entgeistert. »That's a tea house?« fragen wir. Er kann nur nicken. Dann kehrt er um und folgt uns.

Die Tür öffnend, sind wir inmitten von Nebelwolken; Zigarettenrauch erfüllt das Zimmer, und aus der durch eine Matte halbabgetrennten Liegekammer dringt beizend und süßlich der Geruch der weichen Masse, die drei auf Strohsäcken hingestreckte Gäste zu Kügelchen kneten, über die Lampe halten und dann in den breiten Kopf der Pfeife drücken. Auf dem Fußboden, teils an der Wand, teils in der Mitte des Raumes, hocken Menschen, viele spielen eine Art Domino, ku-pe-ai, auf dem niedrigen Sofa drängen sich, dem Kamin zugekehrt, mindestens zehn Männer sitzend aneinander.

Als wären sie Figuren eines Krippenspiels, alle Köpfe an einem Scharnier beweglich, wenden sie sich dem weißen Eindringling mit einem Ruck entgegen, schauen uns mit hemmungsloser Intensität an, berühren fast unser Gesicht mit dem ihren, aber ihre Mienen sind keineswegs drohend, eher ängstlich, und selbst in unseren Nacken bohren sich forschende Blicke.

Ein junger Chinaman, vielleicht der Wirt, vielleicht der Sohn des Wirtes, bringt Stuhl und Tischchen, fragt, tief sich neigend, nach unserem Begehr. Durch die Bestellung einer Tasse Tee glauben wir den Besuch eines Teehauses genügend zu legitimieren. Dem Wirt, der den Tee an unserem Tisch bereitet, strecken sich Hände entgegen, empfangen Teeblätter, stopfen sie in ihre Pfeife, als hätte es niemals Tabak gegeben.

Einer springt auf, wie vom Geist des Konfuzius erleuchtet, eilt auf uns zu und sprudelt den Satz hervor, den er schon hundertmal gesprochen, den einzigen Satz, den er in englischer Sprache kennen muß: »You want firemen?« Das ist ein Signal. Alle Gäste drängen auf uns ein: »You want firemen?«

Uns wird angesichts dieses Pandämoniums gelber Gestalten, dieses gemeinsamen Hoffnungsschreies von Stellungslosen, schwül zumute. Wir wehren ab, nein, wir suchen keine Heizer.

Enttäuscht schleichen sie wieder zu ihren Sitzen.

Niemand außer uns trinkt Tee. Warum steht der Diwan so nah am Kamin? Sind die darauf sitzenden Gäste dem offenen Feuer aus Gewohnheit zugekehrt? Haben sie die Plätze schon für die Stunde belegt, da im europäischen London die Lichter verlöschen, das Tor des Teehauses versperrt, die Holzkohle im Kamin und die Opiumpfeifen entfacht werden, die Räume diesseits und jenseits der Matte sich vereinigen und man in die knisternde Glut starren kann? Der Rost wird dann zur Bühne aller Träume, auf ihr wird aller Phantasien und aller Wünsche Erfüllung gespielt, in zarten Farben steigt das Glück auf, aus Rauch geschaffen, verwandelt sich immer wieder, um zu verschwinden, wenn der Rausch zu Ende ist, der Genuß dieser genußlos lebenden Menschen, die goldene Freiheit dieser gelben Sklaven.

Wonach schmecken die dünnen Täfelchen, die uns als Gebäck vorgesetzt werden? Der Wirt, der uns unausgesetzt beobachtet, merkt unser nachdenkliches Verkosten. »Kokosnuß«, erklärt er.

Nach Bezahlung von drei Pence verlassen wir das Teehaus durch Spießruten der Blicke. Ein Chinese folgt, aus dem Haustor lugt er uns nach. Sie wittern überall Spione, denn sie haben viele Feinde.

An den Ecken ihrer Straßen kleben Plakate, die den Chinesen drohen, sie einschüchtern sollen. »Get ready!« ruft es in großen Lettern den englischen Matrosen, Heizern, Trägern, Dockbediensteten und Transportarbeitern zu. »Seid bereit zum Kampfe gegen das Eindringen der mongolischen Lohndrücker auf britischen Schiffen! Wappnet euch gegen die gelbe Gefahr! Bekämpft sie, oder ihr werdet bald alle brotlos sein! Die Agitation muß so lange andauern, bis ihr die Invasion der Kulis nach Großbritannien niedergeworfen habt. Haben wir die Chinesen in China bezwungen, warum soll es uns zu Hause nicht gelingen?«

Darunter eine Zeichnung: Über die Landungsbrücke verlassen Europäer, traurig und gebückt, ein Schiff und wandern direkt in das Armenhaus. An ihrer Stelle bewegen sich in langem Gänsemarsch Chinesen mit fröhlichen, höhnischen, ja sieghaften Mienen an Bord.

Nein, so sehen sie nicht aus, die Burschen, die uns auf der Straße begegnen und die uns dort oben im Teehaus so stürmisch um Arbeitsgelegenheit baten, nein, triumphieren wollen sie nicht über den weißen Arbeiter. Sie wollen es bloß, wenn sie überhaupt etwas wollen, nicht schlimmer haben als er, vielleicht sind sie Anhänger Sun Yat-sens und hoffen auf die soziale Befreiung – aber höhnisch und sieghaft, wie das Plakat sie malt, sind sie keineswegs, die quittengelben, armen, ausgemergelten Kerle, nicht ohne Not haben sie die Heimat mit der Fremde vertauscht, ganz gewiß nicht ohne Not zogen sie aus dem Osten Asiens in den Osten Londons.


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