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Verwundung

Ostfront, 18. März 1915

Ich erhielt den Befehl, dem Bataillonskommando eine Meldung zu überbringen. Eine gute halbe Stunde von unserer Stellung entfernt, auf dem Dorfplatz von Wola Michowa, war das Kommando; sechs Offiziere saßen in der Stube, drei Offiziersdiener auf der Ofenbank, am Tisch beim Fenster schrieb der Bataillonsadjutant.

Kaum einen Augenblick nachdem ich eingetreten war, ertönte eine Detonation, ich bekam einen wuchtigen Schlag auf den Kopf und stürzte rücklings steif zu Boden.

Die Besinnung verlor ich nicht, wußte sofort, daß eine Granate ins Zimmer geflogen war, das plötzlich dunkel und voll Rauch wurde. Jemand stieß heftig mit den Füßen an meinen Kopf – einer, der die Tür suchte. Nun sprang auch ich auf, tappte auf die gegenüberliegende Seite, aber als die Tür geöffnet wurde, war ich orientiert und rannte aus dem Haus.

Unterwegs spürte ich, daß Blut über Nase und Ohren vom Kopf auf meine Bluse rann und mein Hemd auf dem Rücken, auf dem Oberarm und auf dem Schenkel sich mit warmem Blut füllte.

Jetzt blieb ich stehn, dachte: vielleicht brichst du im nächsten Moment zusammen und bist tot; hatte sich doch die Granate nicht vorher eingebohrt und uns nicht mit Sprengstücken überschüttet, sondern schien direkt gegen meinen Kopf gesaust zu sein. Viele, die ich im Kriege sterben sah, waren wenige Minuten vor dem Tode bei vollem Bewußtsein.

Die linke Kopfseite schmerzte, von dort floß das Blut. Ist vielleicht mein linkes Auge weg? Ich verdeckte das rechte mit der Hand, zwar sah ich schlecht, aber nur infolge des darüberströmenden Blutes, scheinbar war ich in die Schläfe getroffen.

Dem Hilfsplatz zueilend, erblickte ich, mir voraus rennend, den Bataillonsadjutanten Oberleutnant Klatovsky; er war es gewesen, der, als ich auf dem Boden lag, an mich gestoßen und dann die Tür geöffnet hatte. Da ich ihn erkannte, konnte ich kaum ein Sterbender sein.

Aber schon stieg mir eine neue Befürchtung auf: wie, wenn meine Wunde überhaupt nur eine Lappalie ist, die Gelegenheit verpaßt, nach acht Monaten grausamsten Jammers von hier fortzukommen? Wie, wenn der Arzt mir lächelnd ein Pflaster aufpappt und mich wieder in den Dienst schickt?

Eine traumatische Neurose und innere Schmerzen zu simulieren, war ich schnell entschlossen.

Ostentativ wankend bewegte ich mich zum Hilfsplatz. Vor der am Bach gelegenen Hütte, der Sanitätsabteilung, lag schon Oberleutnant Klatovsky, wimmernd.

Hier begann ich nun meine Komödie. Ich brach absichtlich zusammen und drehte das Weiße der Augen auswärts. Vier, fünf Sanitäter und Kameraden packten mich und trugen mich in die Stube auf das Stroh, ich winselte kläglich.

Einige Sekunden später kam ein Assistenzarzt. Er wandte sich zuerst dem Offizier zu, dann mir, schaute meine Kopfwunden an. Von seiner Anwesenheit scheinbar keine Notiz nehmend, zog ich die Beine an den Körper, Todeszuckungen mimend, und bemerkte, daß der Arzt mich mit ernstem Kopfschütteln musterte. Aber der Oberleutnant rief ihn energisch zu sich.

Das besorgte Kopfschütteln des Doktors ließ mich innerlich frohlocken. Nicht eine Sekunde lang dachte ich an die Möglichkeit, wirklich schwer verletzt zu sein. Ich wußte nur, daß meine Wunde nicht als eine »dienstbare« belächelt werden und mir zum Schaden nicht noch Spott bringen würde.

Was ist nun weiter zu tun? Ich will jetzt trachten, nicht in ein Spital des Etappenraumes geschafft zu werden, wo ich bis zu meiner Heilung bleiben müßte; ich will eine Reise ins Hinterland herausschlagen.

Robert, mein Freund, stürzte ins Zimmer, wurde kreidebleich, als er mich derartig liegen sah. Ich deutete durch Winke an, daß ich ihm etwas sagen wolle. Alle traten scheu zurück, während er niederkniete und sein Ohr über meine Lippen beugte, um besser zu hören, was ich ihm in meinem letzten Stündlein anvertraue: »Mir fehlt gar nichts – ich spiele Theater. Ich tu nur so, als ob ich eine Granate beim Krepieren wäre.« Er lächelte. »Lach nicht«, herrschte ich ihn leise an, »du wirst doch beobachtet. Schreibe nach Hause, daß ich einen Streifschuß bekommen habe und mich freue, einen Monat lang in Prag Schlapak tanzen zu können.«

Er war ernst geworden, dachte offensichtlich, ich spiele ihm die Komödie von meinem Komödienspiel nur vor, um ihn und durch ihn meine Familie zu beruhigen. »Paß mal auf: Jetzt werde ich die Beine mit leisem Wimmern emporziehen!« Ich zog die Beine mit leisem Wimmern empor – alle Anwesenden überlief bei dieser Annäherung des Todes eine Gänsehaut. »Oder wünschst du einen jähen Schmerzensruf mit Geste gegen das Herz? Voilà!« Aufschreiend griff ich mir ans Herz. Der arme Junge wußte nicht, ob er lachen oder weinen solle. Leise erklärte ich ihm den Grund meines Simulierens. »Ich will nicht in der Etappe bleiben, verstehst du, jetzt muß ich nach Hause kommen.«

Der Dialog wurde unterbrochen, der Arzt wandte sich nunmehr mir zu. Apathisch und völlig teilnahmslos betrachtete ich seine gerunzelte Stirn. Er tupfte mich mit Wattebauschen ab, konstatierte, daß die Stirnader durchgeschlagen sei, ließ meinen Ärmel aufschneiden, um einige Wunden am Arm zu verbinden, und fragte, wo mir noch etwas weh tue. Zuerst gab ich keine Antwort, dann spielte ich, obwohl ich nun wirklich große Schmerzen zu spüren begann, den Schmerzverzerrten und stöhnte: »Rücken.« Auch auf den Oberschenkel deutete ich. »Du bist ja ganz durchlöchert«, sagte der Arzt und verband die neuentdeckten Verletzungen. »Die Wirbelsäule ist bloßgelegt«, bemerkte er leise zu Robert.

Ein Fuhrwerk war vorgefahren, und Oberleutnant Klatovsky drängte zum Aufbruch; man trug uns zum Wagen.

Wir fuhren die Straße von Wola Michowa südlich gegen Maniow zu, wo sich die Divisionssanitätsanstalt 29 befindet. Es ging schnell. Ein Kanonier hielt nach wenigen Minuten den Wagen an. »Fahren Sie nicht weiter, der Weg wird von Schrapnellen bestreut.« – »Ach was«, schrie ich, »nur weiterfahren.« Entweder die Geschosse erschlagen uns, oder wir sind endlich außerhalb des Feuerbereiches. Wir wurden nicht getroffen.

Der Offizier neben mir stöhnte. »Herr Oberleutnant, jetzt hört uns niemand mehr«, sagte ich ihm, denn ich konnte mir nicht vorstellen, daß er wirklich vor Schmerz jammere. Aber wenige Minuten später, im Lazarett, sah ich, wie verstümmelt er war.

Die hölzerne Kirche in Maniow, deren Bretter zu einem großen, gewölbten Bau gefügt und so beinschwarz sind wie alte Steinkirchen, war als Sanitätsanstalt eingerichtet, indem man die Betstühle hinausgeräumt und Stroh hereingetragen hatte. Ringsum die Kranken, an die Holzwand gestützt.

Nur vor der aus Heiligenbildern zusammengesetzten Sakristeiwand war eine Bank und einige Stühle, auf denen die chirurgischen Operationen vorgenommen wurden. Hier saßen schon Offiziere, die von der gleichen Granate getroffen und schneller hierhertransportiert worden waren; sie hatten zum Teil schwere Wunden. Man verband gerade Oberleutnant Dolezal, der am Rücken verletzt war, und legte ihn auf das Stroh. Er war gelb im Gesicht, aber doch nicht so wächsern wie der Infanterist, der hart neben ihm lag, mit der linken Hand eine Konservenbüchse umkrampft hielt und bereits tot war.

Mir nahm man die Verbände ab, was verteufelt schmerzte. »Die Ader muß hergerichtet werden«, sagte der Oberstabsarzt, »sollen wir dich narkotisieren?« – »Nein, aber eine Zigarette möchte ich rauchen.« Das wurde mir gestattet, und während die Wunde mit dem Chirurgenmesser vergrößert und die beiden Enden meiner zerrissenen Arterie zu einer Schleife zusammengebunden wurden, strengte ich mich an, keine Miene zu verziehen. »Hat der Kerl eine Konstitution«, meinte der Oberstabsarzt, »man sieht, daß du noch nicht lange im Feld bist.« – »Erst acht Monate, Herr Oberstabsarzt.«

Auch mein Ohr wurde untersucht. Das linke Trommelfell erwies sich als zerrissen, das rechte schien beschädigt.

Gegenüber der Sanitätsanstalt lag der Bahnhof. Man wollte mich auf eine Tragbahre laden, aber ich zog es vor, hinüberzuhumpeln. Der Bahnhof war eine Bretterbude, die Eisenbahn eine schmalspurige Vizinalbahn, die Waggons gewöhnliche Loren, ungedeckte Kohlenwagen, auf deren Boden sich Soldat neben Soldat drängte, auch russische Gefangene, schwer blessiert, waren darunter.

Die Füße an den Leib gezogen, zwischen Ruhrkranken, deren Gebaren unbeschreiblich war, Schwerverwundeten und Halberfrorenen standen wir drei Stunden lang im Schneegestöber.

Das Zügle fuhr gegen Osten. Nach zwei Stunden waren wir in Cisna, wo sich ein Lazarett befindet. Schaurige Fahrt, die Lokomotive wölbte über uns ein Dach von Rauch, das nicht verhinderte, daß wir mit Schneeflocken und Hunderttausenden von Funken überschüttet wurden.

In Cisna, im Spital, wurde ich auf Stroh gebettet. Mein ganzer Körper war wie zerschlagen, auf der linken Seite konnte ich nicht liegen, die Ohren summten und schmerzten, besonders wenn ich mich räusperte, wozu ich fortwährend Drang verspürte, und in meinem Kopf funktionierte das Läutewerk eines Signalapparates. Einzuschlafen mißglückte. So wollte ich zu denken beginnen. Aber die unverhofften Schmerzen kreuzten sich mit den unverhofften Freuden.


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