Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Silvesternacht in Marseille

Ja, es scheint, als würden in dieser farbenlärmenden und geräuschebuntesten Stadt der Erde gerade heute abend die Farben früher verstummen und der Lärm früher verblassen als sonst.

In den Restaurants und Cafés auf der Cannebière sitzen wenig Gäste, die Marktschreier sind mitsamt ihrem Podium und ihrem Warenlager davongezogen. Nur auf einigen Tischen am Straßenrand sind Papiermützen, Tüten mit kleinen bunten Bällen aus Watte, buschige Papierflöten und Konfetti ausgelegt, und am Quai des Belges, der bis 1914 Kai der Brüderlichkeit hieß, haben Verkäufer von Hummer und Fisch ihren Stand mit roten Lampions geschmückt – die verspätete Hausfrau erkenne von weitem, wo noch Ingredienzen einzuholen sind für »Bouillabaisse«, die berühmte Suppe aus Languste, Brotscheiben, Fischen, Safran und scharfen Gewürzen.

Ist Marseille noch Frankreich, feiert man auch hier Reveillon nur zu Hause? Nein, Marseille ist nicht mehr Frankreich, und seine Bewohner gehören den Meeren und Molen allen.

 

Auf der rechten Seite des Alten Hafens ist etwas los. Dieser Alte Hafen von Marseille. Wie die Binnenalster in Hamburg ist er rechtwinklig mitten in die Stadt eingelassen; aber man muß sich Jungfernstieg und Kaimauer und Wasser gealtert denken, verwahrlost, verfallen, zum Sonderling geworden, mit tollen Andenken an exotische Abstecher behängt.

Hunderte von Segelschaluppen ziehen hier den rotbraunen Besan und die ochsenblutrote Fock ein und vertäuen am Kai, um einen schwimmenden Markt absonderlich zackiger, absonderlich stachliger Fische, Krabben und Quallen zu bilden.

Zwischen ihnen schaukeln, zum Teil an Landungsbrücken mit jahrmarktmäßig grellbunten Holzpavillons, die Boote für den Passagierverkehr nach Château d'If, der Kerkerinsel des erfundenen Grafen von Monte Christo und des wirklichen Mirabeau. Dahinter: Küstendampfer an der Boje, große Kutter, bis weit zu den beiden würfelförmigen Festungen, welche einst den Hafeneingang martialisch versperrten und nun klägliche Logen eines Pförtners sind.

Und dennoch bei weitem nicht so lächerlich wie die Brücke Transbordeur; die haben die sprichwörtlich großtuerischen Marseiller erbaut, um der steinernen Überholtheit der Forts die eiserne Aktualität moderner Brückentechnik recht imponierend entgegenzustellen. Aber es ist gar keine Brücke, unterhalb der Drahtseile zwischen den fünfzig Meter hohen Eiffelturmpfeilern rutscht nur eine Fähre, und das alles ließe sich viel einfacher besorgen.

Das ganze Becken, das während der Arbeitsstunden ein unbeschreibliches Leben mit sich bringt, ist umstanden von rissigen, unvertünchten Häusern, sechsstöckig und doch niedrig, Restaurants mit Glasveranden, Kaschemmen mit Tischen auf dem Straßenpflaster unter grün-rot gestreiften Markisen, Schiffskontore, Konsulate, Kanzleien, Speicher, Schuppen.

Rechts, wo noch jetzt, in später Abendstunde, etwas los ist, geht's tagsüber am wildesten zu. Auf der Place Victor Gélu, auf der drei Palmen, ein dürftiger Rasen und ein Basrelief des provenzalischen Dichters (einem sprechenden Lenin sprechend ähnlich) sind, entlang der abgebröckelten und abbröckelnden Renaissancefront des einstigen Rathauses bis zu der Antenne des Laufkrans, genannt Pont Transbordeur, bummeln und drängen diejenigen, die ständig oder besuchsweise zum Hafen gehören, Matrosen, Packer, Träger, Händler, Poilus, Kinder, Dirnen, Trunkenbolde. Diese Uferstraße ist Basis eines in die Luft gestellten Dreiecks. Die beiden Schenkel schneiden sich hoch oben auf dem Hügel genau dort, wo, symbolisch genug, die Charité steht – ein Spital muß der Scheitelpunkt des trostlos-entfesselten Hafenviertels sein.

 

Es ist diese aufrecht gestellte dreieckige Bühne, auf der heute schon um acht Uhr abends Silvesterlärm gemacht wird. Italienische Burschen wagen sich, zu Musikbanden massiert, bis an die Peripherie des Gassendschungels, bis hart in eine Gegend, die bereits Trottoirs hat. Vor den noch geöffneten Läden, Bäckereien, Konditoreien und etwas wohlhabenderen Bars, fassen sie Posto, dem Patron ein Neujahrsständchen darzubringen.

Mit üblem Zeugs sind sie bewaffnet, mit Schraubenschlüsseln, Konservenbüchsen, einer kleinen Trommel – sie bewegt sich an einem Kolben wie eine Luftpumpe – mit Topfdeckeln und drei eingespannten Hämmern, deren äußere auf den mittleren schlagen. Im ersten Augenblick glaubt man, sie wollen eine Katzenmusik vollführen; aber im ersten Ohrenhorch merkt man, daß sie auf diesen höllischen Instrumenten virtuos zu spielen verstehen und dazu prachtvoll und lustig zu singen.

Andere Gruppen, gleichfalls Italiener, ziehen mit Mandolinen des Weges, ein Dudelsackquartett macht ihnen Konkurrenz, Publikum aller Rassen folgt ihnen, insbesondere Araber und Neger, denn Marseille ist der europäische Brückenkopf von Afrika. Die Kaufleute, denen die Serenade gilt, stammen aus Griechenland und Italien, seltener sind sie Franzosen. Es ist wohl die ganze Tageslosung, was sie zusammenscharren, um von den Musikanten als Dank ein klingendes »Buon anno« zu empfangen.

Durch die Rue Bouterie marschiert die Neujahrsjazzband ohne Klingklang – was gäbe es hier zu ernten? Armselige Mädchen warten Silvester wie in jeder anderen Winternacht in Hemd und Höschen oder nur im Hemd, eine Brust vollkommen entblößt, vor ihren ebenerdigen Zimmerchen und weisen auf das ziemlich saubere Bett. Ihre Beine stecken in Kindersocken, orangefarbenen, hellgrünen oder kobaltblauen. Wenn ein Käufer eintritt in den Gassenladen, dessen Warenlager ihr Körper ist, so schieben sie ihr Söhnchen oder Töchterchen auf die Straße hinaus.

Kaum eine ohne Kinder. Es wimmelt von Kindern; ihre Gesichter haben alle Farben, die nicht die der Socken sind weiße, braune, schwarze und gelbe Gesichter, französische, italienische, arabische, chinesische Kreuzungen; alle sind wach bei Nacht und treiben sich in der Gosse herum, die Väter kämpfen in der Ferne gegen Wind und Wellen oder liegen bei Muttern als zahlende Gäste vor Anker oder drüben bei Mutters Konkurrentin.

Hier wandern die Instrumente der Musikbanda ohne Ton und Lohn vorbei, höchstens ein paar Rufe werden gewechselt.

Die kaum meterbreiten, steil zum Scheitelpunkt des Dreiecks zielenden Radialgäßchen bleiben gleichfalls unbeachtet rechts und links. Was ist in ihnen? In ihnen ist Gestank, Haufen von Gräten und Gemüseresten und anderer Unrat, in Zeitungspapier eingeschlagen und hierhergeworfen, faulen in den Ecken, fette Ratten schmatzen und magere Katzen wühlen darin.

Noch offener als sonst in Frankreich, ganz offen, stehen die Pissoirs. Schulter an Schulter mit den dort beschäftigten Männern lesen Mädchen die an eine Mauer geklebten Kinoplakate.

Stützbalken sind quer zwischen die Fassaden gespreizt, Bettzeug bläht sich darauf, manchmal hängen die Wäschefetzen an Stöcken aus dem Fenster. Ein trübes Wässerchen unbekannten Ursprungs fließt zum Hafen hinab, hat sich in der Mitte des Steigs eine Rinne gehöhlt. Und nirgends ist Licht.

Nur in die Rue de la Reynarde, in die Rue Lemaître, in die Rue Ventomagy und in die Rue Providence biegt, gefolgt von Soldatinnen, Elevinnen und Veteraninnen der Liebe, das Orchester ein und spielt vor den Toren der Nobelbordelle, im grellen Schimmer elektrischer Reklamen: »Mme Eugénie« – »Mme Aline« – »Maison Cythéria!« – »Etienne Hôtel Renaissance« – »5 à la Lune« – »Auline! Auline!« – »Théo« – »En Flamboyant«. Fronten mit Ölanstrich. Vor den Buntglastüren im Flur sitzt des Hauses redliche Hüterin, breit und gewichtig genug, nahenden Passanten als Sperrbaum zu erscheinen.

Oberbootsmänner und Maat und Maschinenmeister drängen sich im Salon des ersten Stockwerks um lang entbehrte Menage, genießen die Gesellschaft von Frauen vorerst im Gespräch, ehe sie sich zurückziehen; fünfzig Franken kostet das Zimmer.

In der zweiten Etage wird die Tatsache, daß das übrige Europa seine Frauenhäuser fast überall geschlossen hat, als Fremdenindustrie ausgewertet. Aus England und Amerika kommen die Voyageurs voyeurs, meist Damen, sich am Laster zu begeilen. Zuerst werden ihnen Filme vorgeführt, unsagbar einfallslose schweinische Filme in der Technik der Schaubuden-Kinematographen von 1900. Dann erscheinen – Gipfel der Entwürdigung – alle Mädchen des Hauses im Gänsemarsch, stellen sich teils nackt, teils ihr Hemd oder Kleidchen hochhebend, mit einem eingefrorenen, verführerisch sein sollenden Lächeln und mit bittenden Augen, im Bogen auf. So warten sie, bis zwei oder drei von ihnen zu einer Vorführung ausgewählt werden.

 

Raketen fliegen heute in kurzen Intervallen über das Elendsviertel: Zwei amerikanische Torpedobootzerstörer feiern Silvester.

Vor den Luxushäusern stimmen die italienischen Musikkapellen ihre Neujahrsserenade an, die invalidesten Invaliden der industriellen Reservearmee humpeln aus der Nachbarschaft mit Stühlen heran, das Konzert zu genießen.

Die armen Huren aus der Gasse Coutellerie sind mitgezogen, mit ihren orangefarbenen, hellgrünen und kobaltblauen Halbstrümpfen, mit ihrer schwarzen, weißen, braunen und gelben Kinderschar, und schauen neidisch zu den lichterfüllten Fenstern empor, in denen es sich sorglos leben ließe. Die Mädchen in den lichterfüllten Fenstern lehnen sich der Musik und den in orangefarbenen, hellgrünen und kobaltblauen Halbstrümpfen und mit ihrer schwarzen, weißen, braunen und gelben Kinderschar aus der Gasse Coutellerie herbeigeeilten armen Huren entgegen, zu denen sie auch einmal gehören werden.

Wenn's das Schicksal nicht anders will. Drüben auf der anderen Hafenseite, jenseits der goldenen, in Sterne zerplatzenden Strahlen des Feuerwerks, hat sich eine Kokotte die prächtigste Villa der Stadt bauen lassen; die Insel zwischen Château d'If und der Hafeneinfahrt heißt ihr zu Ehren »Isle de Gaby«; ihre Perlen im Werte von zwölf Millionen Franken vermachte sie der dankbaren Stadt, das großartige Grabdenkmal auf dem Friedhof Saint-Pierre trägt ihren Namen, und das Andenken dieser Frau, die dem Königreich Portugal ein Ende machte und Marseille bereicherte, wird wie das einer Heiligen verehrt.

Wann war das?

Im Mittelalter?

Nein, Gaby Deslys recte Helene Navratil starb 1923.


 << zurück weiter >>